Obdachlosigkeit bei Geflüchteten: Manchmal viel mehr als nur ein Sofa
Einst aus der Besetzung des Oranienplatzes entstanden, vermittelt die Schlafplatzorga private Übernachtungsmöglichkeiten an Geflüchtete.
Eric Konaté* sitzt mit Paula Lange, Stefan Moukoko und Lion Fischer am Tisch in der Kontakt- und Beratungsstelle für Flüchtlinge und Migrant:innen (Kub) und trinkt Tee. Sie alle engagieren sich bei der Schlafplatzorga, die dort in Kreuzberg ihren Treffpunkt hat. Konaté erinnert sich bis heute an das genaue Datum, als er das erste Mal hier war: Montag, der 29. August 2022. „Ich hatte eine besonders schlechte Nacht auf der Straße hinter mir. So etwas vergisst man nicht“, sagt Konaté.
Über einen Freund habe er von der Gruppe erfahren, die Schlafplätze in Privatwohnungen an obdachlose Geflüchtete und migrantisierte Menschen vermittelt. Konaté war damals nach der Flucht aus seinem Heimatland noch nicht lange in Deutschland, und in Berlin hatte er keine Unterkunft. „Ich war der Sechste auf der Liste an dem Tag. Ich wusste schon, dass das schwierig werden könnte“, erinnert er sich.
Tatsächlich bekam er an diesem Tag keinen Schlafplatz und musste wieder draußen übernachten. Trotzdem: Allein die Möglichkeit mit Menschen über seine Situation zu reden, habe schon geholfen: „Als ich ankam, war meine Stimmung am Boden. Als ich ging, hatte ich neue Hoffnung“, beschreibt Konaté das Gefühl. Zwei Tage später klappte es dann mit einem Bett – da kam er besonders früh, um weiter oben auf der Liste zu stehen. Heute hilft er selbst bei der Schlafplatzorga mit und ist Teil des Teams – genau wie die anderen drei, die an diesem Abend im Kub sind.
Momentan besteht die Gruppe aus rund zehn aktiven Mitgliedern. Jeden Montag und Freitag, manchmal auch mittwochs, vermitteln die Ehrenamtlichen Schlafplätze. „Meistens melden sich Leute bei uns, wenn sie einen Platz anbieten können“, sagt Lange, die die Orga mitgegründet hat. Dann werde abgeklärt: Was ist das für eine Schlafgelegenheit? Ein Sofa, ein Bett in einem eigenen Zimmer, die ganze Wohnung? Und besonders wichtig: Wie lange steht der Schlafplatz zur Verfügung?
„Jede Nacht kann helfen“, sagt Lange. Wenn etwas Passendes gefunden wurde, bekommt die suchende Person die Adresse und einen BVG-Fahrschein, um dort ohne Probleme anzukommen. Bei weiteren Sorgen vermittelt die Schlafplatzorga auch an andere Hilfsorganisationen. Rechtsberatung gibt es zum Beispiel gleich im selben Raum der Kub.
Keine normale WG
Auch wenn Menschen unter weniger dramatischen Umständen zusammenwohnen, kann es zu Konflikten kommen. Die Geflüchteten haben zudem traumatisierende Erlebnisse hinter sich. Natürlich könne das herausfordernd für alle Beteiligten sein, sagt Lange. Gerade bei Themen wie Privatsphäre und persönlichen Grenzen sei es besonders wichtig, die Vorstellungen des Zusammenlebens vorher zu besprechen.
Eric Konaté kam als Suchernder zur Schlafplatzorga, heute arbeitet er dort mit
Die Gruppe hat einen Infozettel für Gastgeber:innen und einen Awareness-Leitfaden entwickelt. Da gibt es einfach Tipps wie: Klärt vorher, ob ihr das Essen mit dem Gast teilt oder nicht. Fragen wie in jedem WG-Casting. Gleichzeitig ist es eben keine gewöhnliche Wohnsituation. Die Unterkünfte sind meist nur vorübergehend, oft für wenige Tage. Danach stehen die Geflüchteten wieder auf der Straße. Auch für die Gastgeber:innen könne das belastend sein, so Lange.
Warum ist die Arbeit der Schlafplatzorga überhaupt notwendig? Eigentlich steht Menschen, die nach Deutschland geflüchtet sind, ein Platz in einem Flüchtlingsheim zu. Aber die Zustände in diesen Unterkünften sind oft untragbar: Im Sommer etwa richteten sich Geflüchtete einer Unterkunft in Eisenhüttenstadt in einem Brandbrief an die Politik. Sie beklagten mangelnde Sicherheit, zu wenig Verpflegung und den fehlenden Zugang zu Bargeld.
Die sogenannte Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen verschärfen die Situation weiter: Sie zwingen Geflüchtete dazu, sich je nach Aufenthaltsstatus in einem festgelegten Umkreis zu bewegen beziehungsweise zu wohnen. „Das halte ich für menschenunwürdig“, kritisiert Lange.
Geflüchtete, die es nicht mehr in den Lagern aushalten und nach Berlin kommen, sind hier dann obdachlos. Ihre Situation wird noch prekärer, weil sie damit ihren zugeordneten Aufenthaltsbereich verlassen und illegalisiert werden. Wie viele obdachlose Geflüchtete es gibt, ist schwer festzustellen, da sie eben nicht offiziell als solche gemeldet sind. „Theoretisch haben viele ein Bett irgendwo in einer Unterkunft in Brandenburg“, sagt Lange. Deswegen fordert die Schlafplatzorga Selbstbestimmungsrechte und Bewegungsfreiheit für alle Geflüchtete.
Mit ebendieser Forderung hat alles vor mehr als zehn Jahren begonnen. Als Gründungsmitglied erinnert Lange sich an die Anfänge der Gruppe: „Da standen wir noch auf dem O-Platz.“ Der Oranienplatz ist unweit des Kubs, einfach die Straße runter. Die Schlafplatzorga entstand hier im Kontext der Besetzung des Platzes und des leerstehenden Gebäudes der Gerhart-Hauptmann-Schule durch über hundert Geflüchtete. Selbstorganisiert protestierten sie ab 2012 für Bewegungsfreiheit, das Recht zu bleiben und zu arbeiten.
Im Sommer 2014 ließ der Berliner Senat den O-Platz zwangsräumen, die Schule 2018. Versprechen der Politik, zum Beispiel das Aufenthaltsrecht der Geflüchteten großzügig zu prüfen und sie während dieses Zeitraums nicht abzuschieben, wurden enttäuscht.
Paula Lange ist von Anfang an Teil der Schlafplatzorga
Die Räumung der Besetzungen drängte viele in die Obdachlosigkeit. Doch ganz im Sinne der damaligen Botschaft „You can’t evict a movement“ bestanden Netzwerke weiter. Daraus sind bis heute aktive Strukturen hervorgegangen – die Schlafplatzorga ist eine davon.
Der Bedarf ist immer höher als das Angebot
Mittlerweile hat die Schlafplatzorga viele Unterstützer:innen. „Am Anfang gab es einfach nur eine Liste auf Papier mit den Kontaktdaten der Personen, die Schlafplätze anbieten“, sagt Lange. Die sei aber schnell zu voll geworden. „Dann sind wir auf Karteikarten umgestiegen, aber das reichte auch nicht aus.“ Mittlerweile sei man digital unterwegs und habe ein Netzwerk von mehreren hundert Menschen, die die Schlafplatzorga in der Vergangenheit unterstützt haben.
Trotzdem, vermitteln können sie nie alle. 2023 und 2024 hat die Gruppe Statistik darüber geführt, wie viele Anfragen sie bekommt. Lion Fischer, der über Freunde zur Schlafplatzorga kam, zeigt eine Übersicht auf seinem Laptop. Die Zahlen verdeutlichen: Meist gibt es pro Monat zwischen 20 bis 30 Anfragen, manchmal mehr als 50. Einen Schlafplatz fanden in diesem Zeitraum zwischen zehn und 20 der Suchenden. In keinem Monat hat es die Gruppe geschafft, für alle einen Schlafplatz zu finden.
„Es ist ein strukturelles Problem, dass wir nicht allein stemmen können“, gibt Fischer zu bedenken. Letztlich brauche es Änderungen auf politischer Ebene, um etwas an der Situation der Geflüchteten zu ändern, wie etwa das Ende der Residenzpflicht. Auch wenn Fischer weiß, dass die Schlafplatzorga eher Symptome behandelt, gefällt ihm, dass die Arbeit handfest ist. „Ein Bett anzubieten, ist sehr konkret solidarisch“, sagt er.
Aber selbst wer einen Platz bekommt, ist eben meist nur für kurze Zeit untergebracht. „Es ist anstrengend, immer wieder herzukommen und nach einem neuen Schlafplatz zu suchen“, sagt Stefan Moukoko. Als er nach Berlin kam, habe er vier Nächte auf der Straße schlafen müssen. Das sei gar nicht gut gewesen. Auch er hat die Schlafplatzorga kennengelernt, weil er einen Platz zum Übernachten brauchte. Seit 2023 arbeitet er selbst im Team mit. Für ihn wäre die beste Lösung, wenn die Orga ein selbstverwaltetes Zentrum von und für Geflüchtete hätte, sagt er. Ein ähnliches Projekt gibt es in Frankfurt am Main.
Das sind aber noch Zukunftsträume. Bisher hilft die Schlafplatzorga in der akuten Notsituation. „Man kann uns immer anrufen, wenn es mal Probleme gibt“, erklärt Moukoko. Damit sei die Schlafplatzorga eine wichtige Zwischenebene zwischen Suchenden und Anbietenden, gerade wenn es einmal Auseinandersetzungen gebe. Am häufigsten seien die Probleme allerdings gewöhnliche WG-Angelegenheiten.
Eric Konaté muss lachen: Er erinnert sich, wie eine Mitbewohnerin ihn einmal bat, sich um ihre Pflanzen zu kümmern. „Ich kannte das nicht von zu Hause, dass man Zimmerpflanzen hat“, sagt Konaté. Er habe nichts falsch machen wollen und dachte, die Pflanze habe erst genug, wenn das Wasser oben überläuft. Also habe er immer mehr nachgegossen. „Das war natürlich ein bisschen viel“, sagt Konaté und demonstriert mit hängendem Kopf, wie die Pflanze aussah, als seine Gastgeberin zurückkam.
Manche Geschichten erschüttern
In manchen Fällen freunden sich die Geflüchteten mit ihren Mitbewohner:innen an, und es entsteht die Möglichkeit, längerfristig dort zu wohnen. Ein Schlafplatz werde dann zu mehr als nur einem Ort zum Schlafen, sagt Paula Lange. „Es gibt die schönen Geschichten, bei denen Menschen es schaffen, einen Ausbildungsplatz zu bekommen und die Sprache zu lernen“, sagt sie. Aber eben auch die anderen: „Manche tauchen nicht mehr auf, manche werden abgeschoben, und manche sterben.“ Die Arbeit könne sehr erschütternd sein.
Für Moukoko und Konaté ist ihre eigene Wohnsituation weiterhin ein unangenehmes Thema. Sie wollen lieber nicht darüber sprechen. Stattdessen lenkt Konaté die Aufmerksamkeit wieder auf seine Arbeit bei der Schlafplatzorga. Er deutet auf das Sofa neben der Eingangstür des Kub. Hier saß er in seiner letzten Schicht mit einem Mann, der auf Schlafplatzsuche war. Konaté konnte ihm keinen Platz mehr vermitteln. Trotzdem sei es dem Mann sichtlich besser gegangen, als er wieder aufstand – allein, weil Konaté ihm zuhörte.
„Das ist das Besondere an der Schlafplatzorga: Danach geht es dir besser“, sagt Konaté. Der Mann habe ihn an ihn selbst erinnert: damals im August 2022, als er das erste Mal hier war und neue Hoffnung schöpfte.
*Alle Namen geändert
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