Häftlinge haben keine Wahl

Bis Freitag konnten sich Häftlinge in NRW noch in die Wählerverzeichnisse zur Wahl eintragen lassen. Die Resonanz ist gering: Landesthemen betreffen sie nicht, Politiker interessieren sich nicht für sie

AUS WuppertalLUTZ DEBUS

Dieter Offergeld hat eine undankbare Aufgabe. Der Lehrer für die Sekundarstufen I und II mit den Fächern Biologie und Sport hilft Gefangenen bei der Briefwahl. Seine Schüler sind Gefangene der Justizvollzugsanstalt (JVA) Wuppertal. Die Jugendlichen und jungen Erwachsene können den qualifizierten Hauptschulabschluss der 9. Klasse machen – und interessieren sich nicht für die Wahl.

Da sie oft nicht über einen festen Wohnsitz verfügen, müssen sie, wenn sie an der Landtagswahl am 22. Mai teilnehmen wollen, sich in das Wählerverzeichnis der Stadt Wuppertal eintragen lassen. Das Simonshöfchen, wie die JVA wegen ihrer Adresse auch genannt wird, ist mit knapp 500 Häftlingen belegt. Ungefähr die Hälfte davon sind Ausländer. Etwa 100 Häftlinge sind unter 18. Bleiben also 150 Wahlberechtigte, die sich bis vergangenen Freitag in das Wählerverzeichnis eintragen konnten.

Zur Europawahl hat die Anstaltsverwaltung noch jeden einzelnen Gefangenen angeschrieben und auf sein Wahlrecht aufmerksam gemacht. Die Resonanz war so gering, dass sich Offerbach nun mit Aushängen in allen Abteilungen begnügt. „Nur ein Häftling hat um das Antragsformular gebeten“, sagt er. Ein Stimmzettel verließ auf dem Postweg die JVA – und sorgte beim Wahlamt für Verwunderung: Ein Nigerianer hatte seine Stimme abgegeben. Die Briefwahlunterlagen hatten in einer Gemeinschaftszelle den Besitzer gewechselt.

Viele der Insassen seien antriebsarm und perspektivlos, erklärt Offerberg. Auch deshalb sei es schwierig, sie für die Wahlen zu motivieren. Im Unterricht erörtere er die politischen Themen, die seine Schüler interessieren. Das Kopftuchverbot für Lehrerinnen wurde kontrovers diskutiert. Auch der Mord an Theo van Gogh im vergangenen Jahr in Amsterdam war für viele ein wichtiges Thema. „Landespolitik ist für meine Schüler uninteressant“, gibt der 44-jährige Pädagoge zu. Dabei sei ja gerade die JVA einer Landesbehörde unterstellt.

Es ist also reine Spekulation, welche Partei die Strafgefangenen im Simonshöfchen wählen würden. Bei den Erwachsenen hat Dieter Offergeld eine klare Einschätzung: „Viele sehen aus wie der Nachbar von Nebenan. Die meisten würden ihre Stimme den großen Parteien geben.“ Bei den Jüngeren befürchtet er rechte Tendenzen. Sie benutzen schon mal die Schulbank oder die eigene Haut als Stimmzettel, machen darauf ein anderes Kreuz. Mancher Oberarm bleibt so lang es geht bekleidet. Ein Zellennachbar, der ein Roma oder Sinti ist, würde ein Hakenkreuz doch als eine Provokation empfinden.

Das Desinteresse der Häftlinge an Parteipolitik beruht auf Gegenseitigkeit. Die 150 Nichtwähler vom Simonshöfchen und tausend weitere in den Gefängnissen NRWs sind den Parteien egal. Während in den Fußgängerzonen die Hochglanzbroschüren der Parteien verteilt werden, verirrt sich kein Informationsblättchen in den Briefkasten des Simonshöfchens. Die Puhdys spielten in der Sporthalle. Ein Jürgen Rüttgers, ein Peer Steinbrück oder ein Michael Vesper haben sich dort bislang nicht blicken lassen. „Die Parteien haben unseren Leuten doch auch nichts zu bieten.“ Dieter Offergeld kennt Jugendliche, die mit 14 Jahren das erste Mal einfahren. „Nach drei, vier Aufenthalten hier haben die doch draußen überhaupt keine Chance mehr.“

Würde sich denn bei einem Wechsel in Düsseldorf für das Simonshöfchen etwas ändern? Für dieses Jahr würden die Mittel für die JVA um 30 Prozent gekürzt, schmerzlich gerade für soziale Maßnahmen. „Eine andere Regierung würde das auch nicht anders machen.“