Bücher im Gespräch:
„Frauen im Sanatorium“ ist ein Titel, der nach einem Roman des frühen 20. Jahrhunderts klingt. Er beschreibt gut, worum es geht, um einige Frauenfiguren im Deutschland der Gegenwart, die sich während des Aufenthalts in einer Klinik begegnen. Weil es das Deutschland der Gegenwart ist, haben einige dieser Frauen eine Migrationsgeschichte, die ihre spezifischen Traumata mit sich bringt. Aber auch eine Truppe von Bundeswehrsoldat*innen versucht sich in der Klinik nach einem Auslandseinsatz wieder ins Lot zu bringen.
Im Zentrum dieses ersten Romans von Anna Prizkau steht eine Ich-Erzählerin, die ebenfalls Anna heißt und mit der Autorin außerdem gemein hat, dass auch sie ihre Mutter oft in Kliniken besuchen musste. Im Laufe der Erzählung entwirrt sich etwas, denn bald kommt der Verdacht auf, dass die Lesenden auf falsche Fährten gelockt wurden und ihnen womöglich etwas vorenthalten wird: Je weiter die Story voranschreitet, desto deutlicher wird, dass nicht klar ist, ob die Geschichten, die sich die handelnden Personen erzählen, wahr oder falsch sind.
„Frauen im Sanatorium“ ist ein trauriges und lustiges Buch, was nicht verwunderlich ist, kann Humor doch nur entwickeln, wer sich angesichts der Erkenntnis der wunderbaren Sinnlosigkeit des Lebens selber nicht ganz ernst nimmt. So kreist der Roman um die Frage, was Glück ist, ob es überhaupt welches geben kann, und wie sich das eigene Unglück erklären und erzählen lässt.
Elif, eine der Figuren, wünscht sich ihr Unglück, bei anderen kommt es von ganz allein. Unglück und Glück haben ihre Eltern den Figuren mitgegeben. Und doch sind die es am Ende selbst, die sich das eine oder andere bescheren. Eine der Krankenschwestern erklärt Anna zwar: „Die gute Nachricht ist, dass es, weil es kein Glück gibt, auch kein Unglück gibt.“ Die aber hält das für eine „Philosophie für Irre“.
Die Menschheit, das exemplifizieren die Frauen im Sanatorium, ist eine so soziale wie brutale Spezies, und eins bedingt das andere. Es stehen viele einfache und kluge Sätze in diesem elegant erzählten und bewegenden Roman, dessen Figuren in ihren Gebrochenheiten sehr real und gegenwärtig erscheinen. Darunter dieser: „Die Seele besiegt den Körper immer.“
Anna Prizkau: „Frauen im Sanatorium“. Rowohlt, Hamburg 2025, 304 Seiten, 24 Euro
Ulrich Gutmair
Wie eine Szene aus einem spätmittelalterlichen Gemälde erscheint der Roman von Irene Solà. Durch Schleier der Vergangenheit zieht er hinein in eine Welt satter Farben und im Feuerschein verzerrter Körper: Frauen ringen in den katalanischen Bergen mit sich, dem Leben und der Unterwelt.
Für die Hinwendung zum Teufel ist Joana verantwortlich. Die Urmutter begeht die Erbsünde, als sie einen Pakt mit dem Dämon schließt, um einen Mann zu finden. Doch weil das Einlassen mit dem Teufel einen Preis hat – „der zu hoch ist, immer“, wie sie sagt –, fehlt all ihren Nachkommen etwas: die Zunge, ein Stück des Herzens, ein Ohr oder das Gedächtnis.
Joana, ihre Tochter Margarida und ihre Tochterstöchter bilden deshalb einen ungewöhnlichen Haufen in diesem Haus in Mas Cavill, in dem Männer nie lange und Frauen ewig bleiben, ob tot oder lebendig. Gegen alle Widrigkeiten erhalten sie ihr abtrünniges Matriarchat an diesem von der Welt vergessenen Fleck. Sie gackern, fauchen, furzen und gebären, haben Sex mit Tieren und Teufeln, unerschrocken und vulgär umarmen sie das Abnormale, das vermeintlich Böse, das Animalische.
Mit ihrer Verknüpfung von feministischer Mythologie, katalanischer Folklore und magischem Realismus erschafft Solà etwas Originelles, altertümlich und zugleich ins Heute ragend. Sie wandelt durch die Zeit, verschiebt Gegenwarten innerhalb weniger Sätze und erzeugt feine Gleichzeitigkeiten zwischen Figuren, die Jahrhunderte trennen.
Ihre Prosa wechselt zwischen sanften Beschreibungen und ernsten Parataxen, macht Gewöhnliches poetisch, etwa an der Stelle, als Bernadeta Käse herstellt: „In aller Stille, ohne dass man es mitbekam, verwandelte sich die Milch in eine feste Masse, kompakt und seidig, die Bernadeta zerschnitt. Anschließend tauchte sie die Arme in dieses trübe Blut, lau wie Brühe und weiß statt rot. Ein geronnener Teich des Vergessens, in dem sich die Hände verloren, bis die Formen gefüllt wurden. Danach triefte alles.“
260 Seiten reichen aus, um von diesen surrealen Existenzen erfasst zu werden. Wie die Vergangenheit nur durch ein paar Sätze von der Gegenwart getrennt ist, scheinen es auch die Frauen von den Lesenden zu sein. Gar glaubt man, sie kichern und gackern zu hören. Amelie Sittenauer
Über den Krieg in der Ukraine sind zahlreiche an Tagebucheinträge angelehnte Texte erschienen. Das Dokumentarische und die Autofiktion sind die wohl naheliegendsten Mittel, um sich literarisch mit dem Krieg auseinanderzusetzen. Umso mehr sticht der Roman „Hexenhimmel Berlin“ des ukrainischen Schriftstellers Oleksandr Irwanez hervor, der kürzlich in schwungvoller deutscher Übersetzung von Alexander Kratochvil erschienen ist und ganz im Gegenteil das Fantastische auf die Spitze treibt.
Der Hexenroman spielt kurz nach Beginn der russischen Großinvasion in Berlin. Die Protagonistin, die ukrainische Hexe Taisia, kümmert sich am Hauptbahnhof um die ankommenden Kriegsflüchtlinge. Nach den ersten etwas erklärungslastigen Seiten, die in die Spielregeln der magischen Parallelwelt einführen – so können sich Hexen unsichtbar machen, das erfordert aber große Kraftanstrengung –, zieht einen die sich dynamisch entfaltende Handlung regelrecht in den Bann.
Am Hauptbahnhof erscheint auch die russische Operndiva Korsakowa, eine Hexe, die ein ukrainisches Kind gestohlen und nach Berlin mitgebracht hat, wo sie eine Aufführung am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park plant. Taisia ahnt, dass Korsakowa viel Böses im Schilde führt, und möchte ihr gemeinsam mit ihren magischen Helfern Einhalt gebieten.
Der Text überzeugt durch derben Humor und eine kunstvolle Erzählweise, die sich durch eine Liebe zum Detail auszeichnet. Statuen erwachen zum Leben, und die alternative Hexenjugend schmeißt eine geheime Party im Bamberger Künstlerhaus Villa Concordia, während Korsakowa die deutsche Hexenwelt verzaubert, die daraufhin Ruhmgesänge auf das Krieg führende Russland einstimmt, statt die Hexe für ihre illegalen Zaubertricks zu bestrafen – „Wir li-i-i-e-ben Russ-ss-la-la-laland! Wir lieben Russland!“. Und natürlich steht am Ende der märchenhaften Handlung ein Happy End. Es ist ein Roman, der mit Ironie das Zeitgeschehen unterhaltsam kommentiert.
Der 1961 in Lwiw geborene Irwanez, in der ukrainischen Literaturwelt bekannt als Mitglied des Schriftstellertrios Bu-Ba-Bu, flüchtete in den ersten Kriegswochen nach Berlin und lebte anschließend im Rahmen eines Stipendiums der Villa Concordia in Bamberg, wo der zweite Teil seines Hexenromans spielt. Inzwischen ist Irwanez wieder in die Ukraine zurückgekehrt.
Yelizaveta Landenberger
Wie sah das Leben in Belgrad an dem Tag im Mai 1942 aus, als Serbien für „judenfrei“ erklärt wurde? Das ist die Ausgangsfrage des österreichisch-serbischen Schriftstellers Marko Dinić in seinem neuen Roman „Buch der Gesichter“.
Er liefert sechs verschiedene Perspektiven: die des 1910 geborenen jüdischen Jungen Isak Ras, dessen Vater nicht aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrt; die seiner Mutter Olga, geborene Kon, die spurlos verschwindet; die der bosnischen Anarchisten Rosa und Milan, bei denen Isak unter dem Namen Ivan aufwächst; die seines Halbbruders Petar, der sich den Partisanen anschließt; die eines Manns, der den Familiennamen des Autors Dinić trägt und Kollaborateur der Nazis ist; und schließlich die Malkas, eines Dackels, der mit den aus Wien auf einem Schiff fliehenden Juden nach Serbien kam.
Der Roman ist netzartig aufgebaut und schickt seine Leser*innen auf viele verschiedene Fährten. Nach und nach werden die Fäden zusammengeführt, lösen sich verschiedene Rätsel: Wurde Olga von dem Anarchistenpärchen umgebracht, hat sie sich in die Donau gestürzt, oder ist sie geflohen? Hat Petar einen unschuldigen Zivilisten erschlagen, und hat Mirko Dinić Juden gefoltert?
Verkrüppelte Körper, sexualisierte, trunkene, psychotische Gewalt, Selbsthass, Folter, ideologisch angetriebene Skrupellosigkeit – Dinić stellt sich mit seinem Roman in die Tradition der großen historischen Romanciers des ehemaligen Jugoslawiens wie Ivo Andrić oder Aleksandar Tišma, die die Kontinuität der Gewalt in dieser Region auch als Folge der osmanischen, österreichischen und deutschen Eroberer beschreiben.
Die Fäden, die Dinić meisterhaft spannt, sind fesselnde Erzählkunst und repräsentieren zugleich das unentwirrbare Garn, das die menschliche Psyche spinnt. Die verschwimmenden Grenzen zwischen Fiktion und Realität sind dabei zentrales Motiv. Immer wieder tauchen Geister, Ungeheuer und Schatten auf, die den Spekulationen und Unterstellungen, aus denen sie entstehen, Nahrung liefern. Der heimliche Protagonist dieser überwältigend dichten Beschreibung ist vielleicht gar keine Figur. Der eigentliche Herrscher ist der ewig anwesende Verdacht: Geboren aus der Ungewissheit der Machtverhältnisse kann er über Nacht jeden zum Opfer, zum Feind, zum Verräter und Mörder machen. Doris Akrap
Wer jemals versucht hat, mit einer (vielleicht nicht ganz scharf geschliffenen) Sense eine Wiese zu mähen und sich am Abend fragte, ob Blasen am Daumen schlimmer sind als Rückenschmerzen (oder umgekehrt), wird über das Buch „Dunkle Ökologie“ von Paul Kingsnorth staunen. Der Berliner Verlag Matthes & Seitz hat den schon 2013 im Rahmen des Dark Mountain Project erschienen Text nun auf Deutsch herausgegeben. Mit seiner Reminiszenz an den zivilisationskritischen Hintergrund des „Unabombers“ Ted Kaczynski hat er damit auch gleich entsprechend Aufmerksamkeit erregt.
Dabei endet der zwischen Wut und Resignation pendelnde Text des in Irland lebenden Briten, der die Hoffnung auf eine politische Lösung der Umweltkrise längst aufgegeben hat, angelsächsisch pragmatisch: Man möge sich in die Natur zurückziehen, im Garten wilde Ecken schaffen, mit den Händen arbeiten – am besten mit einer Sense, die er mehrere Seiten lang als Beispiel für eine einfache, quasi präfossile Technologie preist, die modernem Gerät vorzuziehen sei. Ab und zu solle man einen Baum oder Gras berühren, um zu bewundern, „was zur Hölle dieses Ding namens Leben eigentlich ist“. Kingsnorth schreibt an gegen eine Strömung von Wissenschaftlern, die er als „Neoumweltschützer“ bezeichnet und denen er ein ausbeuterisches Verhältnis zur Natur unterstellt. Sie seien vollkommen unkritisch gegenüber neuen Technologien, liebten den Markt und würden den Erfolg von Umweltschutz vor allem daran messen, wie relevant er für die Menschheit sei. Damit wird Kingsnorth einer Autorin wie Emma Marris nicht gerecht, die gerade nicht alle Natur dem Menschen unterordnen, sondern auch in menschlich geprägten Räumen Platz für andere Spezies lassen will. Im Zeitalter des Anthropozän ja keine ganz blöde Idee – die Reservate für Wildnis nicht ausschließt.
Trotz seines unpräzisen Rundumschlags hat Kingsnorth in seiner „Dunklen Ökologie“ schon vor 12 Jahren die zentrale Frage aller Umweltbewegten (also: aller Realisten) gestellt, die angesichts des US-Präsidenten Trump und des Rechtsrucks in Europa heute noch einmal eine ganz neue Dramatik erhalten hat: „Was zur Hölle sollen wir jetzt machen?“ Vielleicht bei Kingsnorth selbst lernen, wie man richtig eine Wiese umsenst. Angeblich gibt er Kurse. Heike Holdinghausen
Ob Alice Weidel, Nigel Farage, Donald Trump oder Marine Le Pen, eines haben extrem Rechte gemeinsam: ihre aggressive Anti-Haltung. Sie sind gegen Minderheiten, gegen Klimaschutz, gegen Steuern für Reiche, gegen den Sozialstaat und gegen noch vieles mehr. „Das Nein ist so dominant, dass es in den Schatten stellt, für was die Rechten eigentlich sind“, schreibt Alexander Hagelüken, Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, in seinem lesenswerten Buch „Die Ökonomie des Hasses“. Hagelüken legt eine überzeugende Analyse der wirtschaftlichen Ursachen und Konsequenzen vor, die der Aufstieg der extremen Rechten hat.
Viele wählen auch deshalb rechts, weil sie unzufrieden mit ihrem Einkommen sind oder Angst vor dem Abstieg haben, ist Hagelüken überzeugt. Die Kampagnen der Rechten gegen „das System“ hätten verfangen können, weil nach Russlands Angriff auf die Ukraine Lebensmittel- und Energiepreise drastisch stiegen. „Eines haben die Regierungen von Biden über Emmanuel Macron bis zur Ampel verpasst: Sie haben die Menschen zu wenig in ihrem Alltag der Inflationssorgen abgeholt“, stellt er fest. Rechte schieben Belastungen auf Sündenböcke, etwa Migrant:innen. Doch eine Antimigrationspolitik ist wirtschaftlich verheerend – in Deutschland wegen seiner relativ alten Bürger:innen noch mehr als in den USA.
Die westlichen Demokratien sind in den vergangenen Jahrzehnten ungleicher geworden. Wohlhabende zahlen kaum Steuern, gleichzeitig kürzen Staaten Leistungen. Kommen Rechtsextreme an die Macht, wird nichts besser. Im Gegenteil: Die Zölle, die Trump in seinem ersten Amtsjahr verhängte, belasten US-Haushalte im Schnitt mit 2.400 Dollar. Die Politik der Rechten macht die Reichen reicher, resümiert Hagelüken. Würden die Vorschläge der AfD umgesetzt, profitierten vor allem Topverdiener, während das Armutsrisiko um 13 Prozent stiege.
Hagelüken skizziert auch, wie Wähler:innen von rechts zurückgeholt werden können. Zu hoffen ist, dass er Gehör findet mit seiner Forderung nach einer „Politikwende weg vom Neoliberalismus – speziell weg davon, dass der Staat Leistungen zusammenstreicht und Reiche mit Steuersenkungen verwöhnt, während der Rest der Gesellschaft das Allgemeinwesen finanziert“.
Anja Krüger
Er ziert Klowände und so ziemlich jede Frau hatte schon mal sein Foto in ihrem Postfach: Der Penis, ob erigiert oder hängend, ob mit Botschaft oder ohne, ob gewollt oder unverlangt eingesandt, ist eins der meist verbreiteten Bildmotive der Welt. Die Psychologin und Publizistin Sarah Koldehoff hat sich dem Dick Pic (Schwanzbild) als bildästhetisches und kulturanthropologisches Phänomen gewidmet. Ihr in der Reihe „Digitale Bildkulturen“ erschienenes Essay spart nicht mit explizitem Anschauungsmaterial, von der römischen Wandkritzelei bis zu Robert Mapplethorpes „Cock“.
Bei der Lektüre des etwas akademisch-spröde formulierten Textes lernt man einiges: Die bildliche Darstellung des Penis ist symbolisch flexibel – kann also wahlweise als witzig, beleidigend, sexuell stimulierend oder bedrohlich wahrgenommen werden. Die Deutungsoffenheit kommt dem Versender des Bilds zugute, kann er doch hinterher behaupten, es sei nur ein Scherz, ein missglückter Flirtversuch oder ein Missverständnis gewesen. Die Darstellung der Vulva oder Vagina hingegen ist immer eine ernste Sache. Werden „PussyPics“ in erotischer Absicht versendet, dann oft auf Verlangen des (meist männlichen) Empfängers, ansonsten ist die Message eher feministisch-empowernder Art, wie in Laura Dodsworths Fotoprojekt „Womanhood“, das 100 Vulven zeigt. Ein Massenphänomen ist die Vulvadarstellung nicht, die des Penis dafür umso mehr: In Blogs wie „Critique My Dick Pic“ wird das Penisbild einer ästhetischen Kritik unterzogen, der Instagramaccount Cocksinthecity archiviert Sichtungen im öffentlichen Raum. Solche ironisch-spielerischen Zugänge können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, wie Koldehoff hervorhebt, dass das Dick Pic vor allem eines ist: ein Ausdruck patriarchaler Machtverhältnisse und mehrheitlich eine Zumutung für die Empfänger:innen der Bilder. Besonders für die digitale Sphäre gilt, was Koldehoff klar benennt: „sexualisierte Gewalt durch Bilder als Methode, die eigene verloren geglaubte männliche Dominanz wiederherzustellen“.
Die Autorin warnt davor, Dick Pics zu verharmlosen – es handele sich oft um misogyne Drohgebärden – oder den Umgang damit auf die (meist weiblich gelesene) Empfängerin abzuwälzen. Sie fordert „einen Bedeutungswandel des Penis“, eine „Veränderung in der Art, wie wir über Sexualität und Geschlechtsteile sprechen“. Nina Apin
Vom Kabarettisten Matthias Beltz stammt sinngemäß das Zitat: „So sollte man die Welt sehen: ‚Wie ist die Lage?‘, und nicht: ‚Warum ist die Lage so beschissen?‘“ Einen ähnlichen Blick wirft der Philosoph Konrad Paul Liessmann in seinem Buch „Was nun?“ auf die Gegenwart. Seine „Philosophie der Krise“ bietet Analysen zum „Zeitalter der multiplen Krisen“, wobei er im Titel programmatisch mit dem Lenin-Zitat „Was tun?“ spielt, denn aktivistische Philosophie gibt es bei Liessmann nicht. Für ihn besteht eine Krise darin, „den Zusammenbruch einer etablierten Ordnung zu erfahren und nicht zu wissen, wie es im Moment weitergehen kann“. Durch diese Unsicherheit seien Zeiten der Krise „oft Zeiten der autoritären Versuchung“. Daher ist es keinesfalls ironisch gemeint, wenn er schreibt: „Sich passiv in das Unvermeidliche zu fügen und einfach zu warten, was geschieht, ist durchaus eine Möglichkeit, auf Krisenerfahrungen zu reagieren.“ Auch plädiert er für präzisen Umgang mit dem Begriff „Krise“. Statt etwa von „Klimakrise“ zu sprechen, sei „Klimawandel“ genauer. Dieser sei kein kurzfristiger Wechsel, sondern ein langfristiger Prozess, bei dem rasche Interventionen nicht genügen. Die Kapitel widmen sich Fragen wie der „Krise der parlamentarischen Demokratie“, der „Krise der Toleranz“ oder der „Krise der Sprache“.
Bei aller Zurückgelehntheit im Denken hält Liessmann nicht mit Urteilen zurück. Im Kapitel zur „Krise der Kunst im Zeitalter der Hypermoral“ schreibt er Künstlern mit ihren zum Teil schrillen Wortmeldungen aus jüngerer Zeit gar ins Stammbuch: „Keinerlei Sensibilität bewiesen die Vertreter des Wahren und Guten nach dem 7. Oktober 2023. Die Schnelligkeit, mit der man ekelhaften antisemitischen Ressentiments unter dem Deckmantel des solidarischen Kampfes mit einem zum alleinigen Opfer stilisierten palästinensischen Volk freien Lauf ließ, müsste eigentlich entsetzen.“ Die Freiheit der Kunst, so Liessmann, bestehe gerade darin, dass sie „keine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft“ hat. Umgekehrt gilt für ihn: „Wo das Gute so eindeutig und das Wahre so klar ist, endet alle Kunst in Propaganda.“
Jedes Kapitel wiederum endet bei ihm mit der Frage: „Was nun?“ Lösungen beansprucht er keine, auch verzichtet er auf Handlungsanweisungen. Zu Recht. Derlei liefe auf einen philosophischen Ratgeber hinaus, mithin auf das Gegenteil von Philosophie.
Tim Caspar Boehme
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