DAS ÖFFENTLICHE LEBEN : Lesartenkrieg
Das ganze Wochenende hatten irgendwelche Leute auf mir rumgehackt. Leser im Internet. „Du plagiierst doch nur“, hieß es da, oder „Deine Texte sind voll selbstverliebt und vorhersehbar.“ Dann noch mal: „Die macht’s doch wie Guttenberg: neue Frisur, neues Buch.“ Ich habe fast gar nicht geheult deswegen. Aber trösten lassen musste ich mich doch. Zuerst von Tom, meinem Verleger: „Wer in der Öffentlichkeit steht, braucht viele Hosen“, sagt er, „weil ständig einer kommt, der dir ans Bein pinkelt. Das Einzige, was du machen kannst, ist Sachen wechseln.“
Kollegin M hat hier in der taz eine Kolumne. „Bitte schmeißt die Alte doch endlich mal raus oder verkauft sie an ein Teenie-Blatt wie Neon“, schrieb einer als Kommentar. Es gibt sogar Leute, die behaupten, wegen M ihr Abo gekündigt zu haben. Im Grunde kann man da nicht viel machen, hab ich zu M gesagt, die Leute lesen doch nur das, was sie lesen wollen. Es ist ein Lesartenkrieg.
Meine Freundin J schreibt eine englische Internetkolumne: „Bei Exberliner sagen wir immer ‚Don’t look under the line‘ “, sagt sie, „lies nicht die Kommentare. Einer hat geschrieben: ‚Ich wünsche, dass ein Epileptiker dir eine Pumpgun in die Muschi schiebt und einen Anfall kriegt.‘ “ Das ist die Angst vor der eigenen Bedeutungslosigkeit. Jede Äußerung zieht fünf andere nach sich. „Die Leute denken, du gehörst ihnen“, sagt Paul. Paul ist das Gegenteil einer öffentlichen Person: kein facebook, skype, twitter. Als wir frisch zusammen waren, bin ich schier verzweifelt, weil es nicht mal ein Foto von ihm im Internet gibt. Ich konnte ihn weder heimlich anhimmeln, noch hatte ich eine Diskussionsgrundlage für meine Freundinnen.
„Das ist doch wie bei Stephen King“, sagt Paul, „in ‚Misery‘, wo der Autor entführt und gezwungen wird, das Ende zu ändern. Diese Leute, die so was schreiben gegen euch, das sind doch in Wirklichkeit eure größten Fans!“
LEA STREISAND