: Niemand interessierte sich für ihr Leid
RASSISMUS UND GESCHLECHT Systematisch richtete sich die NS-Zwangsarbeit gegen Frauen. Zwei Zeuginnen erzählten über ihre Verschleppung. Halina Koseska schnitt in einer deutschen Fabrik Gewinde, Barbara Rybeczko-Tarnowiecka musste putzen
Mehr als die Hälfte der 12 Millionen Zwangsarbeiter, die von den Nazis verschleppt wurden, waren Mädchen und Frauen unter 20 Jahren. Eine Tatsache, die zwar hinlänglich bekannt, bis heute aber kaum beleuchtet ist. „Das ist ein Geschichtszusammenhang, der lange tabuisiert wurde“, meint Günter Saathoff von der Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ). Unter dem Titel „Zwangsarbeit war weiblich“ hatte die Stiftung am Mittwoch zu einem Zeitzeuginnengespräch geladen. Auf dem Podium saßen Halina Koseska und Barbara Rybeczko-Tarnowiecka, ehemalige polnische Zwangsarbeiterinnen, die als Minderjährige nach Deutschland deportiert worden waren.
Profit durch Zwangsarbeit
„Sogar die Hunde sind fett!“, meldete im April 1945 ein US-General aus der deutschen Provinz nach Washington. Mit diesem Zitat leitete die Historikerin Ulrike Goeken-Haidl ihr Referat ein. Der General war fassungslos über den Wohlstand, den die Deutschen zumindest auf dem Land durch Sklavenarbeit angehäuft hatten – und der letztlich die Grundlage für das „Wirtschaftswunder“ bildete. Knapp sechs Millionen Zwangsarbeiter, größtenteils aus der Sowjetunion und Polen, waren als zivile Arbeitskräfte eingesetzt. Angefordert, untergebracht und überwacht wurden sie von privaten Firmen, von Bauern und Familien. „Der durchschnittliche Zwangsarbeiter in Deutschland war ein 1942 deportiertes 18-jähriges Mädchen aus der Ukraine“, spitzt die Historikerin zu.
Bei den Razzien, bei denen die Nazis Arbeitskräfte rekrutierten, traf es Mädchen wie Barbara Rybeczko-Tarnowiecka. In einem hellen Kostüm sitzt sie aufrecht auf dem Podium. Neun Jahre alt war sie, als die Wehrmacht 1939 in Warschau einmarschierte. „Ich hatte ungeheure Angst“, erinnert sie sich an die deutsche Besatzung. Monatelang hielt sie sich in einem Kellerloch versteckt. Nach der brutalen Niederschlagung des Warschauer Getto-Aufstands wurde Rybeczko-Tarnowiecka in einem Viehwaggon über Breslau und Erfurt ins thüringische Tautenburg deportiert. Mit kaum 15 Jahren schuftete sie dort für eine strenge Wirtin, schrubbte die Böden im Gasthaus, putzte die Toiletten ohne Kanalisationsanschluss und heizte für die Nachbarn die Öfen an. „Ich musste sehr schwer arbeiten“, erinnert sich Rybeczko-Tarnowiecka. „Frau Petzhold sagte immer: Die Böden müssen so sauber sein wie die Tische in den Bauernhäusern.“
Auch ihre langjährige Freundin Halina Koseska war 1944 von den Nazis verschleppt worden. Vorher war sie „Verbindungsmädchen“ im Warschauer Aufstand. Brandflaschen produzieren, Barrikaden bauen, Brände löschen – gern erinnert sie sich heute daran. Als ausgehungerter Teenager schnitt Halina Koseska in einer deutschen Fabrik Gewinde, montierte Läufe für Flugabwehrraketen: „Ein Lauf wog 20 Kilo!“ Als die US-Armee näher kam, wurden die Hakenkreuze abmontiert, aus Angst öffneten die Deutschen ein Lebensmittellager. „Es gab Mohrrüben, und das war der Gipfel des Glücks“, erzählt Koseska.
Die Scham der Opfer
Nach der Befreiung traf es die beiden Frauen noch einmal hart. Polen hatte sich verändert. In der Volksrepublik wurden ehemalige ZwangsarbeiterInnen nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Niemand habe sich für ihr Leid interessiert, sagt Koseska – und das, obwohl fast jede polnische Familie mit dem Schicksal der Zwangsarbeiterinnen konfrontiert war. „Ich versuchte zu verbergen, dass ich in Deutschland war.“
Das Thema weiblicher Zwangsarbeit ist bis heute schambesetzt. Es ist etwas anderes, ob Männer oder Frauen den Nazis „zu Diensten“ sein mussten. Den Frauen wurde unterstellt, kollaboriert zu haben. Auch die Rote Armee behandelte die Zwangsarbeiterinnen als Menschen zweiter Klasse – „Ihr Huren! Habt ihr die Puppen tanzen lassen“, zitierte Goeken-Haidl aus den Erinnerungen von polnischen Zwangsarbeiterinnen an die Befreiung eines Lagers.
„Die Zwangsarbeiterfrage ist auch eine Frauenfrage“, konstatierte die polnische Botschaftsrätin Iwona Kozlowska. Wie Rassismus und Geschlechterfrage in der NS-Vernichtungspolitik ineinandergreifen, wurde auf dem Podium aber nicht weiter erörtert. Dabei war der Frauenanteil besonders hoch in jenen Bevölkerungsgruppen, die den Nazis als minderwertig galten – fanden sich unter den Ungarn lediglich 3 Prozent Frauen, stellten sie 51 Prozent der sogenannten sowjetischen Ostarbeiter. SONJA VOGEL
■ Mit der Veranstaltung begann die Reihe „Opfer des deutschen Vernichtungskrieges im Osten“. 19. April, 18 Uhr, „ ‚Freiheit, Krieg und Rache‘ – Überleben bei den jüdischen Partisanen“. Britische Botschaft, Wilhelmstr. 70/71