: Zeh auf Reisen
Mit bizarren Fußfingern unterwegs auf einem Fluss im fernen Myanmar
Die ersten Schock-Zehen auf meiner Expedition ins ferne Myanmar sah ich an Bord eines Schnellboots, das mich auf dem schönsten Fluss der Welt, dem Irrawaddy, vom sagenhaften Mandalay in die Tempelstadt Bagan brachte. Die Zehen gehörten einem jungen, dicken Deutschen und steckten in einem Paar klobiger Nike-Sandalen. Der Deutsche obendrüber trank bereits mittags „Tiger“-Bier und las in der „Finanzwelt“ – nur diesen Teil der Tageszeitung hatte er sich aus Deutschland mitgebracht –, während draußen auf dem Fluss, der eigentlich ein Meer ist, ein Sampan vorbeizog, lautlos bewegt von einem feuerroten Segel. Es waren kleine dicke Stumpenzehen.
Dann ging es los. Bald schien es mir, als hätten sich ausgerechnet auf diesem Boot die Träger der bizarrsten Zehen der Welt versammelt. Ob Backpacker oder pauschaler Gruppenreisender, ob junger Spund oder Rentner, ob Franzose, Österreicherin oder Kroate, fast alle waren mit Fußfingern ausgestattet, die mich staunen oder schaudern ließen, je nach dem.
Ein walrossbärtiger Kanadier trampelte vorbei – ich lag an Deck auf den nackten Planken –, er trug weiße, weiche Würstchen vorne an den Füßen. Eine schöne Schweizerin räkelte sich am Bug, die Zehen von sich gestreckt. Sie waren im Bereich des Nagelbetts so platt, als hätte jemand mit dem Hammer draufgeschlagen. Überhaupt stellte ich bald fest, dass besonders schöne Menschen oft hässliche Zehen besitzen beziehungsweise vice versa. Ein segelohriger Franzose zum Beispiel führte beinahe eitel zehn kunstvoll gedrechselte Säulchen übers Deck.
Aber was war hier los? Ist Myanmar das bevorzugte Reiseziel von originellen Zehenbesitzern? Oder fielen mir die Zehen nur auf, weil die Hälfte der Touristen an Bord entsetzlich modische Sandalen trug? Sandalen, die Namen wie „Teva Terra Fi Men“ oder „Nike Straprunner V“ hatten, die aber aussahen wie Panzer an den Füßen und die Zehen extrem betonten.
Sogar die Pauschal-Rentner trugen diese Latschen – oder gerade sie. Sie gaben den Blick frei auf Zeh-Deformationen. Bei den alten Frauen sprangen mir Hammerzehen ins Gesicht, die an Klauen von hundertjährigen Habichten erinnerten. Dazu wurde Überbein getragen, Schneiderballen, überschüssige Hornhaut oder Hühneraugen, das ganze Spektrum aus der orthopädischen Klinik. Auch die Fortschritte auf diesem Gebiet konnte ich bestaunen: operierte, das heißt: begradigte Hammerzehen, erkennbar an der kleinen Narbe über dem Mittelzehknochen.
Ich weiß bis heute nicht, was schlimmer war: die Zehen oder die Fußnägel. Man hielt mir eingewachsene, rissige und strohgelbe unter die Nase. Eine Französin mit herbem Gesicht hatte sich ihre gabelspitzenlangen, ausgefransten Nägel rotlackiert. Es war, als ob sie sagen wollte: „Seht alle her. Ich kann mon grand oncle im Notfall auch als Stichsäge benutzen.“
Die Fahrt auf dem alten Zehenverkäufer neigte sich dem Ende zu, da steigerten sich die Schocks noch einmal. Ich betrachte gerade einen Schlepper mit einem Teakholz bepackten Kahn im Schlepptau. Vorne am Bug hockten ein paar Burmesen mit rot-weißen Stangen in der Hand, um die Tiefe des mit Sandbänken durchzogenen Flusses auszuloten. Auch ohne Glas konnte ich erkennen, dass sie perfekte Füße hatten.
Plötzlich fiel ein langer Schatten auf mein Gesicht. Ein deutscher Studienrat, so um die achtzig, stand direkt vor mir, in nichts weiter als „Tatami Rio Grande Black Neopren“-Tretern (mit Birkenstockfußbett) an den Quanten. Und: Am linken Fuß waren lediglich zwei Zehenklumpen zu erspähen; die Ostfront, offenbar. Zehamputationen scheinen sowieso verbreiteter, als ich dachte.
Gerade Frauen in den Fünfzigern fehlt schon mal ein Glied. Warum? Man weiß so wenig von der Welt.
Man will auch gar nicht alles wissen, und vom Zehkrebs schon gar nichts. Ich bin mir nicht sicher, ob es einer war, mit dem eine italienische Matrone in Sandalettchen sich abschleppte – blau lackierte Nägel übrigens mit pinkfarbenen Punkten obendrauf – oder bloß eine harmlose Entzündung? Ich jedenfalls schaute ganz schnell weg.
Ich starrte dann den Rest der Fahrt nur ans Ufer, wo an der rotgelben Bruchkante des Riesenstroms schöne Menschen badeten, Wäsche wuschen oder mit mittelalterlichen Ochsenkarren herumfuhrwerkten. Wirklich aber sah ich das alles nicht. Ich sah es Brennen, denn im Geiste zündete ich eine Teva-, Nike- und Birkenstock-Fabrik nach der anderen an.
Erst als die Sonne unterging, kam ich allmählich wieder zu mir. Wir hatten Bagan erreicht, wie bald 800 Jahre vor uns bereits Marco Polo. Man konnte es an einer goldenen Pagodenspitze erkennen, die zwischen Bäumen zu uns herüberschimmerte. Alle sahen sie. Nur ich nicht. Ich sah nur einen hässlichen, vergoldeten, riesengroßen Zeh.
WALTER MYNA