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Archiv-Artikel

„Das war Hysterie“

ENERGIE Der schnelle Ausstieg war übertrieben, sagt Atomlobby-Chefin Astrid Petersen. Von der Physikerin Merkel ist sie enttäuscht

Astrid Petersen

■ Die Funktion: Astrid Petersen ist seit 2011 Vorsitzende der Kerntechnischen Gesellschaft (KTG), einer Lobbyorganisation für 2.700 Mitglieder, vor allem Ingenieure und Wissenschaftler aus der Atomtechnik. Die KTG ist eng mit der Industrielobby des Deutschen Atomforums verbunden.

■ Die Person: Astrid Petersen, 43, hat in Gießen Festkörperphysik studiert. Sie arbeitet als Bereichsleiterin bei der Gesellschaft für Nuklear-Service in Essen.

■ Das Gespräch: Eine Debatte über die Energiewende? Petersen sagte sofort zu. Die Vertreter der deutschen Atomkonzerne dagegen wollten mit der taz darüber nicht sprechen.

INTERVIEW BERNHARD PÖTTER UND REINER METZGER

sonntaz: Frau Petersen, wann haben Sie bei Fukushima gedacht: Das ist das Ende für die deutschen Atomkraftwerke?

Astrid Petersen: Uns war immer klar: Wenn irgendwo auf der Welt etwas passiert mit dieser Technik, hat das Auswirkungen auf uns. Wir in der Kerntechnischen Gesellschaft haben sehr schnell realisiert, dass Fukushima die Ausstiegsdebatte anheizen wird. Dass allerdings gerade Frau Merkel über Nacht aussteigt, kann ich bis heute nicht nachvollziehen. Sie ist Physikerin, sie weiß, wie ein Kernkraftwerk funktioniert. In Fukushima ist nichts wirklich Überraschendes passiert. Wenn bestimmte Sicherheitsvorkehrungen nicht greifen, dann laufen eben bestimmte physikalische Prozesse ab.

Fast genauso gesetzmäßig liefen die politischen Prozesse ab.

Frau Merkel hat sehr schnell erkannt, wie sie darauf politisch reagieren soll. Während die Welt erst mal Mitgefühl mit den von der Naturkatastrophe heimgesuchten Japanern hatte, hat man das Reaktorunglück in Deutschland für die Innenpolitik instrumentalisiert. Das war politisches Kalkül und keine naturwissenschaftliche Notwendigkeit. Und gegen den Ausstieg gab es praktisch keinen Widerspruch.

Haben wir in Deutschland hysterisch reagiert?

Ja, das war Hysterie. Die Regierungsparteien haben vor der Bundestagswahl gesagt, dass sie für die Kernenergie sind, und sie haben schnell und konsequent die Verlängerung der Laufzeiten durchgesetzt. Aber plötzlich standen alle Parteien und weite Teile der Gesellschaft ausstiegsbereit hinter der Kanzlerin. Das war vor allem emotional, denn bei den deutschen Kernkraftwerken hatte sich nichts verändert.

Sie dagegen, die Ingenieure, Techniker und Wissenschaftler, waren plötzlich allein. Haben Politik und Stromkonzerne, ihre Verbündeten seit Jahrzehnten, Sie im Regen stehen lassen?

Sagen wir mal so: Die Kerntechniker können nicht alle Prozesse nachvollziehen, die da stattgefunden haben. Wir waren in die Gespräche, etwa in der Ethik-Kommission, nicht eingebunden. Das ist ein Riesenfrust, auch weil es nicht zu unserem Demokratieverständnis passt. Wir stehen für eine Technik, in der man Verantwortung übernehmen muss. An der Stelle hätte ich mir von Politik und Unternehmen schon etwas mehr gewünscht.

Einen Arsch in der Hose, wie Sie mal gesagt haben.

Ja, den hatten wir mal in den Zentralen der Unternehmen. Aber die Interessenslage der Energieversorger hat sich natürlich stark verändert.

Ihnen kommt die Energiewende zu schnell und unüberlegt?

Ja, wenn man etwas so Langfristiges entscheidet, muss man doch erst einen vernünftigen Plan machen. Und dabei darf man unsere Rolle und Verantwortung in Europa nicht außer Acht lassen. Ich liebe Deutschland als sehr reiches und freies Land, in dem man viele Möglichkeiten hat. Nur beim Thema Kernenergie ist die Debatte geschlossen. Jetzt heißt es, es gilt das Primat der Politik. Das kann ich schon nicht mehr hören. Natürlich entscheidet die Politik, aber doch nicht allein. Und man kann sich auch immer anders entscheiden.

Meinen Sie, dass dieser Ausstieg noch einmal zurückgeholt werden kann?

Politisch kann ich mir das im Moment nur schwer vorstellen. Wenn aber weiterhin besonders beim Ausbau der nötigen Leitungs- und Speicherkapazitäten keine wesentlichen Fortschritte zu erkennen sind, könnte man sich auch an anderer Stelle noch mal diese Frage stellen.

Sind Sie eigentlich sauer auf die Anti-Atom-Bewegung, jetzt, wo Sie verloren haben?

Erst einmal muss man sagen: Wir haben in Deutschland höchste Sicherheitsstandards entwickelt und Methoden, um die Menschen möglichst wenig zu belasten. Das verdanken wir auch der permanenten Suche unserer Kritiker nach Angriffspunkten und dem Druck von außen. Aber was mir schon fehlt, ist der Demokratiegedanke: Bei der Gestaltung der Energiewende wollen wir mitmachen, aber man lässt uns nicht. Ich finde es schade, dass wir Chancen verstreichen lassen.

Der Atomstaat hatte auch große Demokratiedefizite. Mit dem Ausstieg hat sich die Meinung der Mehrheit durchgesetzt.

Es ist ein bisschen wie David gegen Goliath, und jetzt hat David eben gewonnen. Wenn es einen Ausstieg gibt, dann gibt es ihn. Das habe ich zu akzeptieren. Trotzdem brauche ich eine Alternative. Wo soll es hingehen? Das ist doch nicht zu Ende gedacht!

Ihnen fehlt eine klare Ansage: Wie viele Leitungen brauchen wir, wo kommt der Strom in Zukunft her, wo geht er hin?

Genau, wo sind denn die Genehmigungen für die Stromtrassen? Welche Bedingungen gelten für den Bau von Pumpspeicherkraftwerken? Wie läuft das mit der Bürgerbeteiligung, wird sie zur Stolperfalle für solche Projekte?

Gerade auch die Atomgemeinde wehrt sich seit Jahrzehnten dagegen, solche Pläne zu entwickeln. Die AKWs waren abgeschrieben und haben eine Menge verdient. Eine Debatte über die künftige Stromversorgung jenseits des Atoms haben wir bei Ihnen nicht mitbekommen.

Ich spreche nicht für ein Unternehmen, sondern für die Techniker und Forscher in der Kerntechnik und über technische Optionen. Wir haben uns damals in die Klimadebatte eingeklinkt, weil wir eine Gesamtverantwortung für den Energiesektor haben. Wir brauchen einen Energiemix, nicht nur Kernenergie. Da ist in den letzten Jahren viel gelaufen. Aber warum passiert nichts beim Ausbau der Netze? Sind die Anreize nicht da? Ist es wirklich gewollt?

Sie haben gefordert, dass auch in Deutschland wieder mehr „technische Vernunft“ herrscht. Bedeutet das nicht, dass man im Zweifel die Finger von dieser Technik lässt, weil sie nicht zu beherrschen ist?

Nein. Wir haben die Situation in den deutschen Kernkraftwerken mit den japanischen verglichen, dabei hat sich gezeigt: In Japan gab es Mängel bei Konstruktion und Auslegung der Kraftwerke, und die Notfallschutzmaßnahmen haben nicht gegriffen. Die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit hat sich das genau angeschaut und gesagt, dass diese Situation mit Deutschland nicht zu vergleichen ist. Für Deutschland hat es schlicht keine unmittelbaren Auswirkungen, was dort passiert ist.

Hier haben die Reaktoren auch keine langfristige Notkühlung, die ohne Strom funktioniert.

Wir haben hoch redundante und räumlich getrennte Sicherheitssysteme. Und selbst wenn die Notstromdiesel auch noch ausfallen sollten, greifen Notfallschutzmaßnahmen. Wasserstoffexplosionen wie in Fukushima werden bei uns durch Rekombinatoren verhindert, und wir haben eine gefilterte Druckentlastung vorgesehen. Im Prinzip reicht es, einen Feuerlöschteich und eine Feuerlöschpumpe zu haben, um in einen solchen Reaktor Wasser nachzuschießen.

Sie müssen nur jemanden finden, der die Wasserpumpe im Notfall zu einem womöglich hoch verstrahlten Reaktor bringt.

Natürlich müssen Notfallschutzmaßnahmen vorbereitet und auch trainiert sein. In Japan hat das offenbar nicht funktioniert.

Sie sagen, die Technik ist beherrschbar. Die Erfahrung mit der Atomkraft zeigt: Menschen machen Fehler.

Gerade in Deutschland haben wir sehr intensiv auf die Schnittstelle Mensch-Technik geschaut. Da können schon mal Fehler auftreten, das kann das System verkraften. Der Punkt liegt woanders. Jeder kann sich vorstellen, wie ein Kohlekraftwerk funktioniert. Ein Kernkraftwerk ist da anders, man sieht und hört nichts, das ist bedrohlich. Die Menschen beschäftigen sich wenig mit der Kernkraft und reagieren emotional. Die Einschätzung der Deutschen zur Kernenergie heute ist wieder nicht viel anders als vor Fukushima.

Eine stabile Ablehnung.

Na, das kommt immer auf die Umfrage an. Es ist eher eine Frage, wie wir Techniker es schaffen, unser Wissen zu vermitteln.

Ist das nicht etwas einfach gedacht? Die Kernenergie ist eben äußerst kompliziert.

Auch einen Reaktor kann man schnell herunterfahren.

Das löst das Problem nicht, wie wir in Japan gesehen haben. Es gab dort auch keine Rekombinatoren, die die Wasserstoffexplosion verhindert hätten. Warum nicht? Das war doch völlig irre.

Diese Frage kann ich Ihnen nicht beantworten. Das ist mir auch ein Rätsel. Uns war schnell klar, was da abläuft – aber das macht es nicht besser.

Offensichtlich gibt es im Atombereich, auf gut Deutsch, zu viele Pfuscher. Oder Leute, die Geld sparen wollen.

Das kann man so pauschal wirklich nicht behaupten. Sie haben gesagt, Japan ist ein Hightech-Land. Das muss man schon differenziert sehen. In Japan läuft vieles anders als hier, zum Beispiel die kritische Kommunikation durch Hierarchien hindurch. Nicht alles in einem Hightech-Land ist tatsächlich Hightech!

Jedenfalls nicht an der sensibelsten Stelle, die sie haben.

Ich kenne nicht alle Kernkraftwerke in Japan. Aber für diese Anlage kann ich klar sagen, dass sie nicht nach den Standards ausgelegt war, die man anlegen müsste. Da sind offensichtlich Fehler gemacht worden. Nach meinem Verständnis hätten hier auch Nachrüstungen gemacht werden müssen, um genau so eine Katastrophe zu verhindern.

Diese Einschätzung hätte man aus der Nuklear-Community gern mal vorher gehört.

Wir hatten ja keinen Einblick in diese internen Sachen. Die Berichte lagen erst nach dem Ereignis vor. Aber Fukushima hat dazu geführt, dass es zum ersten Mal eine internationale Debatte darüber gibt, wie sichergestellt werden kann, dass Kernkraftwerke tatsächlich gegen Bedrohungen ausgelegt sind. Das war vorher nicht so. In Deutschland haben wir in jeder Anlage etwa 1.000 Sicherheitsüberprüfungen im Jahr und milliardenschwere Nachrüstungen. Der Stand von Wissenschaft und Technik findet immer Eingang in die Begutachtungen.

Deutschland hat aber auch lange Atomtechnik in andere Länder mit geringeren Sicherheitsstandards exportiert. Man könnte doch erwarten, dass sich die internationale Atomgemeinde auf gleiche Sicherheitsbedingungen einigt.

Wir tauschen uns ja aus. Aber da sind nicht nur Firmen im Spiel, sondern auch Regierungen und unterschiedliche Kulturen. Nach Tschernobyl hat sich die World Association of Nuclear Operators intensiv für einen Erfahrungsaustausch hinsichtlich des Betriebs eingesetzt und viele Verbesserungen erzielt. Aber gerade die Auslegung und Genehmigung ist Sache der Behörden und damit der Kultur im Land. In der japanischen Kultur etwa möchte man nicht das Gesicht verlieren, es gibt Hierarchien, die Berichte und Freigaben dominieren. Da ist jeder Staat autonom und wird das so durchsetzen, wie er es für richtig hält.

Waren Sie mal bei den Castortransporten in Gorleben?

2002 war ich auf dem Zug mit dabei. Ich war verantwortlich für die Beladung der Behälter in Frankreich.

Wie haben Sie das erlebt?

Ein seltsames Gefühl. Wir hatten Angst vor dem, was bei den Demonstrationen passieren könnte. Angst um die Polizisten, die versuchen, Menschen vor Unfällen zu schützen. Ich war überrascht, wie risikobereit manche Demonstranten waren. Es ist ein unglückliches Szenario, ein Ausnahmezustand für alle in der Region. Für die Einwohner, die Demonstranten, für die Polizisten.

Ein paar Kilometer weiter liegt die Asse. Sie reden über die hohen Sicherheitsstandards in Deutschland. Und da säuft ein Atomlager ab. Eine Schlamperei, die man bei einer so heiklen Technik nicht gern sieht.

Von der Philosophie her, die wir vertreten, muss man das so sehen, wie Sie es sagen. Da ist massiv geschlampt worden, und das fällt auf uns alle zurück. Das Bergwerk Asse ist aber nicht in Verantwortung der Industrie geführt worden, sondern über viele Jahre vom Bundesforschungsministerium. Was im Einzelnen zur Situation vor Ort geführt hat, dazu will ich hier nicht viel sagen. Was dort weiter passiert, muss schnell geklärt werden. Natürlich schadet das der Technik und dem Image unserer Branche.

Sie haben gesagt, die Techniker wollen auch als Menschen wahrgenommen werden. Wie reagieren Ihre Freunde auf Ihre Arbeit?

In meinem Umfeld waren viele Menschen während Fukushima daran interessiert, was gerade passiert, und wie ich mich fühle. Die Menschen waren sehr froh, dass man ihnen die Prozesse dort erklären konnte. Das Ganze ist aber schnell politisch diskutiert worden, diese Debatte hat alles andere überlagert. Das ist schade. Ein Kollege hat mir erzählt, dass sein Kind in der Schule aufstehen musste, weil es hieß, alle, deren Eltern im Kraftwerk arbeiten, sollen jetzt mal aufstehen.

Haben Sie Freunde, die Atomkraftgegner sind?

Ja. Ich habe sogar mal mit dem extrem engagierten Gründungsmitglied einer Anti-AKW-Initiative in Südfrankreich am Strand gesungen und gegrillt. Solche Debatten führen natürlich zu Emotionen. Solange es aber gegenseitigen Respekt gibt, man aus den Schützengräben heraus kommt, ist das in Ordnung.

Wollten Sie immer in die Atomindustrie? Oder hätten Sie auch Windräder bauen können?

Ich komme tatsächlich aus einem Institut, das Photovoltaik entwickelt hat. Mein Engagement für die Kernenergie ist eigentlich aus einem Zufall entstanden. Energieerzeugung hat mich interessiert, dann bin ich über eine Initiative von Betriebsräten und Freiwilligen, die sich aus ethischen Gründen mit der Energiefrage beschäftigt haben, bei einem Infostand auf dem evangelischen Kirchentag gelandet. Da war die Kernenergie dabei, da waren auch Solar-Projekte in Afrika. Ich habe tolle Menschen kennen gelernt, die offen waren für alle Richtungen. Die haben sich für einen vernünftigen Energiemix und eine konstruktive Diskussion darüber eingesetzt. Dann habe ich angefangen, mich für Kerntechnik zu interessieren. Die Menschen, die Technik, die gesellschaftliche Verantwortung in dem Zusammenhang, das hat mich gereizt.

Sie sind aus ethischen Motiven bei der Atomkraft gelandet?

So ist es. Das ist mal eine Überraschung, was?

Sie reden von Kernkraft, wir von Atomkraft. Haben Sie ein Problem mit dieser Wortwahl?

Das ist mir vollkommen wurscht. Physikalisch gesehen heißt es Kernenergie, weil der Prozess eine Kernspaltung ist. Die Kernkräfte sind sehr viel größer als die Atomkräfte. In der landläufigen Sprache hat sich „Atomkraft“ durchgesetzt, man kann ruhig beides verwenden.

Das war eine erste Imageniederlage Ihrer Branche. Die Kritiker lassen immer die Atombombe mitschwingen.

Das war auch so. Aber selbst das Deutsche Atomforum nennt sich schon immer Atomforum. Doch es stimmt: „Atom-“ erinnert an den militärischen Bereich und da schwingt im Hintergrund immer die Gefahr mit. Ich glaube aber, dass das heute keine Rolle mehr spielt. Wir sprechen von derselben Sache. Warum soll ich meinem Gegenüber vorschreiben, welche Worte der verwenden soll, wenn wir vom Gleichen reden. Das ist doch Blödsinn.

Umweltminister Röttgen sagt, der Ausstieg aus der Kernenergie würde einen gesellschaftlichen Großkonflikt in Deutschland befrieden. Sehen Sie das auch so?

Das war sehr lange eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, in der unterschiedliche Positionen aufeinandergeprallt sind. Und das auch sehr deutlich. Wenn diese Befriedung gewünscht ist, dann ist das so, und deswegen gibt es da auch keine echte Opposition mehr.

Nur noch Sie.

Ja, man braucht uns ja noch. Von daher sehe ich mich nicht total in der Opposition. Ich bin Teil dieses Systems. Die Bundesregierung hat diese Debatte natürlich befriedet. Sie hat die Grünen in der Geschwindigkeit des Ausstiegs rechts überholt. Wie gut das gelingt, werden wir gemeinsam erleben.

Bernhard Pötter, 46, ist Umwelt-Redakteur der taz

Reiner Metzger, 47, ist stellvertretender taz-Chefredakteur