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Dankesrede LiteraturpreisverleihungZeugnis ablegen und lieben

Die Dankesrede des ukrainischen Musikers und Schriftstellers Serhij Zhadan zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur.

Der ukrainische Schriftsteller, Rockstar und Soldat Serhij Zhadan Foto: Aleksandr Gusev/imago

Es ist ein großer Luxus, in Zeiten des Krieges über Literatur zu sprechen. Im Ukrainischen ist es derzeit viel üblicher, über den Krieg zu sprechen. Um ihn zu sehen, muss man kein Buch zur Hand nehmen – man braucht nur aus dem Fenster zu schauen. Heute ist der 7. Juli 2025. In der letzten Nacht gab es in Charkiw acht Explosionen.

Gegen Morgen setzten die Russen ihre Angriffe fort. Stand 16 Uhr waren 66 Personen gemeldet, die Verwundungen erlitten hatten oder unter Schock standen. Vor einer Stunde wurde bekannt, dass eine Frau ihren Verletzungen erlegen ist. Die Russen zerstören unsere Städte, sie vernichten unsere Mitmenschen. Russland führt diesen ungerechten Eroberungskrieg, um uns auszulöschen. Was lässt sich in einer solchen Situation über Literatur sagen?

Es lässt sich sagen, dass selbst in diesem Krieg, der seit 2014 andauert, Bücher auf Ukrainisch geschrieben und gedruckt werden. Einige werden sogar in andere Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Deutsche. Was kann nun ein Leser, zum Beispiel in Österreich, von einem Buch erwarten, das aus dem Ukrainischen übersetzt wurde? Worum wird es wohl von einem solchen Buch gehen?

Worum geht es in der zeitgenössischen ukrainischen Literatur?

Mit Sicherheit wird der Krieg in einem solchen Buch präsent sein. Selbst wenn er nicht Teil der Handlung ist, wird er die Pausen und Leerstellen füllen. Er wird im Schweigen und im Atem, im Warten und in den Zeugnissen spürbar sein. Denn es ist der Krieg, der gegenwärtig unser Alltagsleben, unsere Routinen, unsere neue Wirklichkeit bestimmt.

Der Krieg durchdringt alles und betrifft uns alle – alle, die durch ihr Land, ihre Staatsangehörigkeit miteinander verbunden sind. Und durch ihre Sprache. Die Literatur, das Schreiben und die Sprache prägen unsere Vorstellung von der Welt, unser Gefühl für die Welt – ihre Dimensionen, ihre Konturen, ihren Klang.

Menschen haben die Möglichkeit, das Leben aus der Perspektive der gelesenen Bücher zu betrachten, es zu bewerten, indem sie Handlungen und Dialoge von Protagonisten einbeziehen. Die Wirklichkeit ist allerdings meist größer als die Literatur, umfassender, erschütternder, überzeugender.

Klassische Handlungen können uns etwas erklären, aber sie sind nicht immer in der Lage, uns zu überzeugen. Wir sind mit großer Literatur aufgewachsen, die den Krieg verurteilt, ablehnt und verneint. Es ist für uns selbstverständlich, den großen Stimmen des 20. Jahrhunderts zu folgen und die Thesen über die Unzulässigkeit des Bösen, die Verurteilung der Ungerechtigkeit, den Edelmut und die Ethik des Mitgefühls zu teilen.

Ein Buch ist nicht die Realität

Aber es ist eine Sache, ob du es mit Ungerechtigkeit und Mitgefühl in einem Buch zu tun hast, und eine ganz andere, wenn du all das in deinem Nachbarviertel siehst. Unsere Wirklichkeit findet im Moment in der Leseerfahrung keinen Platz, sie geht darüber hinaus, und genau genommen braucht sie sie nicht. Im Angesicht des Todes ist Literatur nicht immer angemessen.

Es ist allerdings nötig, vom Krieg Zeugnis abzulegen, das ist nötig für die Literatur selbst, aber auch für den Leser. Zeugnis abzulegen, um weiterzukämpfen. Zeugnis abzulegen, um zu lieben. In den Gesprächen über den Krieg erweisen sich die unterschiedlichen Erfahrungen zumeist als fatal und unteilbar. Die Erfahrung, sich im Vorhof der Hölle zu befinden, lässt sich nicht imitieren oder imaginieren – das lässt sich ausschließlich persönlich erleben.

Vielleicht reichen die Möglichkeiten der Literatur aus, um jemandes tiefe Verzweiflung und das Strahlen einer Hoffnung immerhin ansatzweise zu vermitteln. Paul ­Celans Stimme – brüchig, dunkel, voller Besorgnis und Zärtlichkeit – kann uns wohl kaum den ganzen Schmerz des Verlustes und die gähnende Hoffnungslosigkeit der Menschen erklären, die den Zweiten Weltkrieg durchlebt ­haben.

Die Möglichkeiten der Sprache sollten nicht unterschätzt werden

Dennoch ist sein Zeugnis von diesem Krieg und vom gesamten 20. Jahrhundert viel ­genauer und eindrücklicher als die ­Geschichtsbücher und die Biografien der Diktatoren. Wir sollten die Möglichkeiten unserer Sprache nicht unterschätzen. Vor allem, wenn sich die Sprache verändert und ihre gewohnten Potenziale verliert.

Keiner von uns hatte vor diesem Krieg die Erfahrung einer derartigen Nähe zum Tod

Serhij Zhadan, ukrainischer Soldat und Schriftsteller

Was ist mit unserer Sprache passiert? Wie hat der Krieg sie verändert? Sie hat ihre Leichtigkeit verloren. An ihre Stelle ist der Schmerz getreten. Viel Schmerz. Diese übermäßige Präsenz des Schmerzes deformiert die Sprache, nimmt ihr das Gleichgewicht. Wir sprechen heute die Sprache von Menschen, die unbedingt gehört werden wollen, die sich zu erklären versuchen.

Dahinter steckt kein übertriebener Egozentrismus. Wir schreien nicht, um die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken – wir schreien, um die Aufmerksamkeit auf jene zu lenken, denen es schlechter geht als uns, denen es ganz besonders schlecht geht, die es schwer haben, die leiden. Wir schreien für jene, die im Moment nicht sprechen können, die ihrer Stimme beraubt sind, die ihres Herzschlags beraubt sind.

Die Präsenz von Literatur in Kriegszeiten wirkt möglicherweise unangebracht oder deplatziert. Literatur setzt die Arbeit mit Sprache voraus, setzt die Schaffung neuer sprachlicher Konstruktionen voraus, setzt kreatives Wirken an sich voraus. Krieg hingegen ist Zerstörung. Zerstörung von Leben, Zerstörung von Wirklichkeit, Zerstörung von Sprache.

Die Sprache in Zeiten des Krieges

In Zeiten des Krieges geht die Sprache zu Bruch. Gewohnte Konstruktionen, die ihre Funktionalität und Wirksamkeit gewährleisten, brechen zusammen. Der Krieg nimmt uns das Gleichgewicht. Und so nimmt er uns auch unsere gewohnten Intonationen. Wenn du in die Finsternis schaust, musst du zwangsläufig das Gesagte und das Gehörte ­besonders sorgfältig abwägen.

Was wollen wir, wenn wir über den Tod sprechen? Warnen, mahnen, anklagen, betrauern? Welche Möglichkeiten hat die Literatur, wenn es um Dunkelheit und Zerfall geht? Krieg ist eine Situation maximaler Entstellung, vollkommener Verwerfung. Jede Dokumentation der Wirklichkeit im Krieg ist die Dokumentation eines zerbrochenen Raumes, einer beschädigten Sprache.

Worum geht es uns? Darum, die Erfahrungen festzuhalten, die wir früher nicht hatten. Keiner von uns hatte vor diesem Krieg die Erfahrung einer derartigen Nähe zum Tod, keiner hat sich jemals so bedroht gefühlt. Städte, in denen jeder Einwohner – egal ob Mann oder Frau, Kind oder alter Mensch, Soldat oder Zivilist – kriegsbedingt zur Zielscheibe wird. Das ändert das Gewicht des Lebens, ändert das Verständnis von Zeit, ändert die grundlegende Wahrnehmung der Zukunft.

Das wirkt sich auf die Sprache aus. Erst angesichts des allgegenwärtigen Schmerzes, des allgemeinen Ausgeliefertseins gegenüber dem Bösen, angesichts der Ungerechtigkeit wird dir bewusst, wie wichtig und notwendig oder umgekehrt wie unangebracht und taktlos deine Worte sein können. Literatur existiert nicht jenseits des Kontextes, jenseits der Gefühle und Emotionen jener, mit denen du den Sprachraum teilst.

Die Wirklichkeit neu erfinden

Wir versuchen heute nicht nur, die Überreste der Wirklichkeit zu bewahren, die mit dem Beginn des Krieges zerbrochen ist. Wir versuchen, sie, diese Wirklichkeit, wieder neu zusammenzusetzen, neu zu starten, neu zu erfinden, neu zu benennen. Wir lernen wieder neu, mit der Sprache umzugehen, wir testen die Worte auf ihre Funktionalität und Wirksamkeit, wir erinnern an einen Menschen, der nach einer schrecklichen Katastrophe wieder laufen lernt.

Die Sprache zeigt sich als nicht allzu stabil, nicht allzu widerstandsfähig, sie hat Schwachstellen, Zonen besonderer Verletzlichkeit und Offenheit. Sie muss nach Druck und Überlastung, nach Zusammenbruch und Erschöpfung wiederhergestellt und wiederbelebt werden. Sprache ist nichts Feststehendes und Unveränderliches, nichts Universelles und Unfehlbares.

Eher im Gegenteil – es liegt in ihrer Natur, Fehler zu machen, falsche Töne anzuschlagen, verkehrte Behauptungen aufzustellen. Die Sprache ist nicht fehlerfrei und makellos. Aber sie ist es, die uns die Möglichkeit gibt, nach einer großen Erstarrung, nach einer Totenstille, nach dem Verstummen, das eintritt, wenn du die fehlende Kraft und den fehlenden Wunsch in dir, etwas zu erklären, bezeugst, wieder von Neuem zu sprechen.

Die Sprache erschließt uns die Welt

Gerade die Sprache gibt uns die Möglichkeit, uns die Welt zu erklären und uns der Welt. Gerade die Sprache ist heute unser genauestes und wirksamstes Instrument in unseren Versuchen, uns mit der Welt zu verständigen, in unserem Bestreben, überzeugend und verständlich zu sein. Wir benutzen eine Sprache, die erst jetzt wächst und sich erneuert, wie ein Ast nach einem Bruch.

Wir sprechen in dieser Sprache über Dinge, die wir nie artikuliert haben, die in unserem Wortschatz nicht vorhanden waren, die wir nie formuliert haben, weil sie einfach nicht Teil unserer Erfahrung waren. Heute ist unsere Erfahrung eine ganz andere. Und so auch unsere Sprache. In dieser Sprache wird natürlich auch eine ganz andere Literatur geschrieben werden.

Dankesrede

zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur 2025 an Serhij Zhadan, am 25. Juli 2025, Salzburg

Vielleicht werden dieser Literatur Zwischentöne und Zweifel, Verspieltheit und Leichtigkeit fehlen. Aber ich möchte glauben, dass es ihr nicht an Mut fehlen wird, über Schmerz und Freude, über Licht und Dunkelheit, über Ohnmacht und Hoffnung zu sprechen. Sie wird sich nicht scheuen, Zeugnis abzulegen von jenen, die Liebe und Verständnis brauchen. Ich gehe davon aus, dass es eine Literatur von Liebe und Verständnis sein wird. Denn diese Literatur wird von Menschen geschrieben werden, denen genau das genommen werden soll – Liebe und Verständnis.

Es ist sehr wichtig für uns, sprechen zu können. Aber es ist nicht weniger wichtig, nicht nur gehört, sondern auch verstanden zu werden. Denn die Sprache, in der heute in der Ukraine Bücher geschrieben werden, ist die Sprache von Menschen, die versuchen, ihr Leben und ihre Würde, ihre Stimme und ihr Recht zu sprechen zu verteidigen. Das heißt, das Recht, Zeugnis abzulegen und zu lieben. Manchmal reicht das aus, um dem Bösen zu widerstehen.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

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1 Kommentar

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  • Eine der zentralen Aussagen Serhij Zhadans scheint mir zu sein:



    "Literatur existiert nicht jenseits des Kontextes [in diesem Fall des Krieges], jenseits der Gefühle und Emotionen jener, mit denen du den Sprachraum teilst."



    Dass er in ebendiesem 'Kontext' ,,Paul Celans Stimme - brüchig, dunkel, voller Besorgnis und Zärtlichkeit" anspricht, auch wenn er sagt, Celan könne wohl kaum "den ganzen Schmerz des Verlustes [...] der Menschen erklären", der sich bei Celan freilich auf die Opfer der Shoah (und weniger des Krieges) bezieht, ehrt den Preisträger, der sich damit unbeeindruckt vom blanken 'Kriegsrealismus' eines Céline früher oder Twardoch heute zeigt und vielmehr nach "Liebe und Verständnis [ruft], um dem Bösen zu widerstehen."

    In seinem sich gegen Ende der Rede steigernden Pathos erinnert mich Zhadan an die Nobelpreisrede von Neruda1971, wo dieser Rimbaud regelrecht heraufbeschworen hat, der genau 100 Jahre zuvor hypostasierte:



    "In der Morgenröte, gewappnet mit glühender Geduld, werden wir in die Villes splendides einziehen" - oder, mit Nerudas Worten: "die strahlende Stadt erobern, die allen Menschen Licht, Gerechtigkeit und Würde schenkt."