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Archiv-Artikel

Hör zu, Europa

Es ist vorbei. Schön war die Idee, doch die Realität der Europäischen Union ist ein Albtraum.

Du machst es uns einfach, die Zeiten von Mauern und Grenzen zu vergessen, denn neuerdings stehen diese nicht mehr zwischen uns, sondern weit, weit weg. Die Toten liegen nicht mehr in unserer Mitte, sondern vor den Grenzen Deiner Festung. Zur deren Verteidigung greifst Du zu menschenverachtenden Mitteln: Du wehrst Schutzsuchende rigoros ab, überwachst Flüchtlinge mit Drohnen und sperrst sie in Internierungslager. Damit machst Du Dich mit Regimen gemein, die Du öffentlich mit bebender Stimme verurteilst. Täglich sterben Menschen in unserem Namen. Du nennst es tragisch, wir nennen es systematisch.

Du definierst Dich als Wirtschafts- und Währungsunion und schreist damit geradezu hinaus, was Du nicht bist: ein soziales Europa. Für Dich ist einzig die Freiheit von Unternehmen unantastbar. Als deutsche Behörden bei einem Gefängnisneubau von der polnischen Baufirma verlangten, die tarifvertraglich fixierten Mindestlöhne einzuhalten, schob Dein oberster Gerichtshof einen Riegel vor. Dieser Kniefall vor dem Kapital steht exemplarisch für Deine soziale Blindheit.

Doch wer sollte sich darüber wundern? Heerscharen von LobbyistInnen bevölkern die Flure Deiner Machtzentralen in Brüssel und Straßburg. AnwältInnen der ArbeiterInnen, Arbeitslosen und MigrantInnen finden sich kaum darunter, dafür umso mehr Werbende der großen Konzerne, Banken und Arbeitgeberverbände. Was in den Hinterzimmern und Cafés mit den Abgeordneten und BürokratInnen besprochen wird, bleibt im Dunkeln. Wenn es darum geht, Deine Macht als Wirtschaftsstandort zu sichern, bist Du Dir für nichts zu schade. Indem Du europäische Agrarprodukte zu Dumpingpreisen anbietest, zerstörst Du systematisch lokale Märkte in ärmeren Ländern (Du erinnerst Dich: Hühnchenreste nach Westafrika?).

Gleichzeitig schottest Du Dich gegen Produkte von außen ab. Denn: Freihandel verlangst Du nur von anderen. Du nennst es „Rohstoffinitiative“, wenn Du ärmere Länder unter Druck setzt, um Dir ihre Ressourcen unter den Nagel zu reißen. Dass die Gewinne aus diesen Geschäften nicht den Menschen dort zugutekommen – geschenkt. Wenn sich die Ausgebeuteten irgendwann erheben sollten, kannst du Dich immer noch mit warmen Worten solidarisieren.

Die Abgesandten Deiner Mitgliedstaaten schütteln sich auf Konferenzen milde lächelnd die Hände, während sie in heimischen Gefilden mit Hetze gegen Dich Stimmen sammeln. Das löbliche Projekt der europaweiten Solidarität wird vom nationalstaatlichen Egoismus zerfressen.

Deine BürgerInnen hältst du für ahnungslose Luschen – und hast zum Teil sogar recht: Mit Halb- und Unwissen lästern wir über krumme Gurken und Glühbirnen und ruhen uns auf den mangelnden Einflussmöglichkeiten aus: „Europa ist schuld, nicht wir!“ Wenn es mal nicht so läuft, dann gehen wir auch mal auf die Straße – aber noch ist das nichts, was man nicht mit ein paar extra Prämien zerstreuen könnte. Solange wir noch an das grenzenlose Wachstum glauben, so lange scheint die Sonne über Europa.

Aber sei gewarnt. Unsere Empörung wird sich nicht immer auf böse Briefe beschränken. Wir können auch anders. JULIA LAUTER UND ERIK PETER