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Oper mit Aussicht

Antikes Odeon oder Hightech-Bauwerk: Die griechische Hauptstadt verfügt über spektakuläre Spielstätten für Musiktheater – dank schwerreicher Mäzene. Dort wird „Turandot“ gegeben oder ein Schubert-Abend mit Geflüchteten. Eine Reportage aus Athen

Die antiken Baumeister verstanden etwas von Akustik: das Odeon Theater am Fuße der Akropolis Foto: Yannis Antonoglou

Von Katharina Granzin

Diese Schuhe müssen Sie aber ausziehen!“, sagt die Dame am Einlass streng und deutet auf die mit – eigentlich ziemlich bequemen – Absätzen versehenen Sandalen der ausländischen Besucherin. Ein schneller Blick indie umgebende Menge belegt, dass offenbar alle anderen Menschen in Sneakers oder Trekking­sandalen zur abendlichen Opernvorstellung gekommen sind. „Ich habe schon soo viele Leute diese Stufen hinunterfallen sehen!“, werden wir denn auch am nächsten Morgen eine Reiseführerin erzählen hören, während wir von oben auf das steinerne Theater-Halbrund hinunterblicken.

Das Odeon des Herodes Atticus, kurz Herodeon genannt, liegt direkt unterhalb der Akropolis, und die dekorativ in die Luft ragende, nur teilweise verfallene Ruine seines Bühnenhauses gehört zur bekannten antiken Skyline Athens. Die Tatsache, dass das Bauwerk bis zum heutigen Tag nicht nur intensiv genutzt wird, sondern die wohl beliebteste Spielstätte der Stadt überhaupt ist, belegt eindrucksvoll, dass privates Mäzenatentum sich in lang anhaltendem Nachruhm auszahlen kann. Herodes Atticus, der Stifter dieses ältesten noch erhaltenen antiken Odeon-Theaters, starb vor fast 2.000 Jahren, doch noch immer ist sein Name in aller Munde.

Unter anderem ist das Theater des Herodes Atticus Spielort des Athens Epidaurus Festivals, auf dem alljährlich Weltstars der klassischen Musikszene auftreten; und stets geht dem Festival eine Produktion der Griechischen Nationaloper voraus. In diesem Jahr darf Giacomo Puccinis „Turandot“ in den Mauern des Herodeon ihre Freier in den Tod schicken. Zwei Jahre lang hat das Kreativteam des Opernhauses die Inszenierung von Andrei Șerban vorbereitet – eine lange Zeit, die unter anderem gebraucht wurde, um die aufwendigen Bauten herzustellen. Ein Bühnenvorbau ganz aus künstlichen Felsquadern ist entstanden, die optisch nicht von den echten Steinbauten im Hintergrund zu unterscheiden sind.

Definitiv echt wiederum ist der Marmor, aus dem das 5.000 Menschen fassende Auditorium besteht. Tatsächlich erweisen sich die Stufen, die das Publikum zu erklimmen hat, als steil, glatt und schmal; ein gewisses Verletzungsrisiko ist nicht von der Hand zu weisen. Unter bloßen Fußsohlen fühlt sich das von der Tagesglut noch warme Gestein herrlich an. Kühles Gestein wäre noch schöner, denn kein Lüftchen weht an diesem heißen Frühsommerabend. Die Menschen tun ihr Bestes, um dem Luftstau mit mitgeführten Fächern abzuhelfen.

Aber drei Stunden lang aufrecht auf den marmornen Stufen eines antiken Auditoriums zu sitzen, dicht an dicht zwischen andere, Extrawärme spendende Körper geschichtet, ist auf jeden Fall physisch herausfordernd. Dennoch harren alle aus, denn das Bühnengeschehen fesselt; und außerdem haben die DarstellerInnen es noch deutlich schwerer in ihren opulenten, stoffreichen Kostümen (Chloé Obolensky), die ein Fest fürs Auge, aber unter diesen klimatischen Bedingungen sicher nicht ganz leicht zu tragen sind.

Den Tänzerinnen und Tänzern steht die Erleichterung ins Gesicht geschrieben, als sie zum Schlussapplaus wenigstens ihre Masken abnehmen können. Ihrer Performance hatte die Bürde der mehrfachen Kleidungsschichten nichts anhaben können, und auch die SängerInnen sind ausgezeichnet disponiert. Catherine Foster als Turandot und Riccardo Massi als Prinz Calaf beeindrucken mit Stimmstärke, die junge Sopranistin Maria Kosovitsa als Sklavin Liu aber berührt mit der größten lyrischen Gestaltungskraft. Das Herodeon selbst beweist mit der Wand seiner halb verfallenen Skene, von der die Klänge klar und deutlich in den Trichter des Zuschauerraums hinaufgeschickt werden, dass die antiken Baumeister viel von Akustik verstanden.

Szenenwechsel. Am folgenden Abend wuseln, im Süden der Metropole, Jugendliche und ihre Familien durchs Foyer des Hauses der Griechischen Nationaloper. „(Another) Winter Journey“ („Ένα (άλλο) χειμωνιάτικο ταξίδι“) nennt sich die Aufführung, die gleich stattfinden soll und für die ein multikulturelles jugendliches Ensemble lange geprobt hat. Wohlbehütete Athener Teenager gehören ebenso dazu wie minderjährige Geflüchtete. Franz Schuberts „Winterreise“ hat als Grundlage gedient für ein vom Komponisten Panos Iliopoulos erstelltes Medley aus Ensemble- und wenigen Solonummern, in dem es um die Reise des Lebens geht, die für manche der Jugendlichen schon so schwer gewesen ist.

Leitmotivisch zieht sich Schuberts Leierkastenmelodie durch die Partitur. Ein interkultureller Erwachsenenchor intoniert Schubertsche und andere Weisen, die Jugendlichen tanzen, singen und sprechen, stellen sich immer wieder hintereinander auf, reichen das Mikro durch, sagen in vielen Sprachen existenzielle Dinge. Das Schlimmste in seinem Leben sei die „Zeit auf dem Schiff“ gewesen, sagt ein Junge, ein anderer spricht von Depression. Ein junger Afrikaner artikuliert so glasklar, dass deutlich wird, wie dringend er verstanden werden will: „You beautiful people of Greece, you are the best thing in my life.“ Es ist sehr berührend, ebenso die Tatsache, dass eine junge Frau am Bühnenrand steht und die komplette Vorstellung in Gebärdensprache dolmetscht.

Das Finale besteht in einer mitreißend rhythmisierten, ins Optimistische verfremdeten Version von Schuberts todes­sehnsüchtigem „Der Wegweiser“, hier kraftvoll und lebensbejahend vertanzt. Am Ende klatscht, johlt und pfeift das begeisterte Publikum heftig, aber (angenehm) kurz, genau wie das Publikum des Vorabends bei der stets ausverkauften „Turandot“. Andere Länder, andere Sitten.

Das Mittelmeer, über das manche der „Winter Journey“-Jugendlichen Griechenland erreicht haben dürften, liegt nur wenige hundert Meter entfernt, man sieht es vom Dach der Oper aus. Dieses Dach ist ein besonderer Ort, denn das Operngebäude stellt nur einen Teil eines größeren Ganzen dar. Star-Architekt Renzo Piano hat auf dem einstigen Gelände einer Pferde­rennbahn in den Jahren 2008 bis 2016 ein Gebäude­ensemble geschaffen, das außer der Griechischen Nationaloper – die das einzige Opernhaus des Landes ist – auch die Nationalbibliothek beherbergt.

Beide Häuser, äußerlich durch Komplettverglasung kulturelle Transparenz signalisierend, sind baulich miteinander verbunden, teilen sich das große begehbare Dach und sind integriert in ein weitläufiges Park­gelände. „Stavros Niarchos Foundation Cultural Center“ nennt sich das Ensemble. Es ist eine gigantische Einzelschenkung an den griechischen Staat, eine Spende der Stavros-Niarchos-Stiftung, deren Stifter und Namensgeber, ein schwerreicher Reeder, 1996 starb.

Der Stadtteil, in dem Kulturzentrum und Park liegen, heißt Kallithea, das bedeutet „schöne Aussicht“. Davon war allerdings nichts zu sehen, als Renzo Piano das Projekt übernahm. Eine große innerstädtische Magistrale trennt an dieser Stelle Athen vom Meer. Also schickte Piano sich an, die Aussicht wiederherzustellen und die Stadt zumindest visuell wieder mit dem Wasser zu verbinden.

Der höchste, dem Meer am nächsten gelegene Punkt des Ensembles liegt nunmehr genau über dem Opernhaus: eine riesige Aussichtsterrasse, die „Faros“ genannt wird, Leuchtturm. Sie ist für alle, die den schnellen Aufstieg wollen, erreichbar über einen gläsernen Fahrstuhl beim „Agora“ getauften Platz zwischen Oper und Bibliothek. Unter anderem gibt es auf der Dachterrasse einen großen verglasten (klimatisierten) Pavillon, in dem Sessel stehen, Bücher und ein Klavier zum spontanen Gebrauch.

Am Ende klatscht, johlt und pfeift das begeisterte Publikum heftig, aber angenehm kurz. Andere Länder, andere Sitten

Außerhalb des Pavillons aber wird man hier oben, dem schönen Meeresblick zum Trotz, brutal mit den Bausünden der Vergangenheit konfrontiert. Die mehrspurige Stadtautobahn, die zwischen Kulturzentrum und Meer liegt, ist nicht zu übersehen und erst recht nicht zu überhören. Die visuell formidable Architektenidee, den „Leuchtturm“ mit einem gigantischen freischwebenden Dach zu krönen, wirkt sich akustisch fatal aus, da die große waagerechte Fläche, darin der Skene des antiken Theaters vergleichbar, den Straßenlärm einfängt und auf die unter dem Dach liegende Aussichtsterrasse reflektiert, somit verdoppelt.

Um so schöner ist es, wenn das Getöse beim Abstieg allmählich immer leiser wird. Denn das Dach ist nicht nur begehbar, sondern auch nahtlos und fußläufig mit dem leicht ansteigend angelegten Park verbunden. Dort spenden Büsche und Bäume viel Schatten, hier und da kann Kunst betrachtet werden, zahlreiche Spielflächen gibt es, zahllose Sitzgelegenheiten, und im Café kann entspannt ein Nach-Opern-Getränk nehmen, wer es für einen Sundowner auf dem Dach zu laut fand. Auf dem langen Wasserbecken, das an Park und Kulturzentrum angrenzt, wird Kajak gefahren.

Kein Tycoon, tot oder lebendig, hätte seine Reichtümer menschenfreundlicher anlegen können. Ob Stavros Niarchos in fernerer Zukunft ein Nachruhm zuteil wird, der es mit dem des Herodes Atticus an Dauerhaftigkeit aufnehmen kann, ist allerdings zweifelhaft. Jedenfalls ist nur schwer vorstellbar, dass unsere heutigen Glas-und-Stahlbeton-Bauten auch in 2.000 Jahren noch bespielbar sein werden.

Die Recherche für diesen Arti kel wurde von der Griechischen Nationaloper unterstützt.

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