Goldene Palme für Jafar Pahani in Cannes: Ein Unfall mit Folgen
Die 78. Filmfestspiele von Cannes enden mit der Goldenen Palme für den iranischen Regisseur Jafar Panahi. Er gewinnt den Preis verdient zum ersten Mal.

Wer mutiges Kino will, muss Mut auch belohnen. Einen solchen Mut kann man dem iranischen Regisseur Jafar Panahi allemal attestieren. Filmemachen ist für ihn etwas anderes als für seine Kollegen, die in demokratischen Staaten leben und arbeiten. Er darf seit Jahren offiziell nicht mehr drehen, weshalb seine Filme ohne Erlaubnis und mit geringem Aufwand entstehen. So auch „Un simple accident“ (Ein einfacher Unfall), für den Panahi am Sonnabend die Goldene Palme erhielt, und das zum ersten Mal.
Es ist sein erster neuer Film seit „No Bears“, den er 2022 in Venedig im Wettbewerb vorgestellt hatte. In Deutschland ist „No Bears“ bis heute nicht im Kino angelaufen. Panahi war im Jahr 2022 in Teheran inhaftiert worden und erst im folgenden Jahr auf Kaution freigekommen, nachdem er in einen Hungerstreik getreten war.
In seinen Filmen wirkt Panahi häufig als Darsteller mit, in „Un simple accident“ hingegen bleibt er hinter der Kamera, arbeitet mit einem kleinen Ensemble, das auf engem Raum spielt: Ein gut Teil der Handlung ist in einem Lieferwagen gefilmt. Ein Mechaniker trifft zufällig auf einen Mann, in dem er einen Folterknecht aus dem Gefängnis vermutet. Der Mechaniker überwältigt und entführt ihn, will ihn töten, um sich für das eigene Leid in Haft zu rächen.
Die Rache gestaltet sich schwierig, weil der Mechaniker wirklich sicher sein will, dass er den Richtigen erwischt hat. Je mehr Vertraute er dazu befragt, desto größer wird die Gruppe an Personen, die in seinem Transporter mitfährt, um eine offene Rechnung mit dem Entführten zu begleichen.
Wie würde man selbst handeln?
Die Handlung ist scheinbar geradlinig schlicht und von einer Direktheit, die man als plakativ empfinden kann. Panahi arbeitet jedoch verschiedene Aspekte in diese Geschichte ein, mit denen er immer neue Fragen aufwirft, wie man in so einer Situation verfahren würde. Wäre man bereit zu Gewalt oder würde man einen Schergen des Regimes im Zweifel eher verschonen und damit riskieren, den erlittenen Terror erneut in noch einmal schrecklicherer Form zu erleben?
Panahi äußert dabei seine Kritik im Film so offen, dass man sich um ihn sorgen zu müssen meint. Zumal er bei der Preisverleihung ankündigte, in den Iran zurückzukehren, obwohl ihm dort Repressionen drohen. Und auch wenn er in der Vergangenheit vielschichtigere Filme gedreht haben mag, erhält er die Goldene Palme zum richtigen Zeitpunkt, würdigt sie sein bisheriges Engagement und Wirken ungeachtet aller Widrigkeiten doch indirekt gleich mit.
Die Entscheidung der Jury unter Juliette Binoche mag politisch motiviert gewesen sein, das geht in Ordnung. Sie kann sogar als „Korrektur“ der Wahl der Jury vom vergangenen Jahr verstanden werden, als der aus dem Iran geflohene Regisseur Mohammad Rasoulof für „Die Saat des heiligen Feigenbaums“ lediglich einen Spezialpreis erhielt.
Großer Preis der Jury für Trier
Auch unter den übrigen Hauptpreisen erhielten ausnahmslos bemerkenswerte Filme eine Auszeichnung. Joachim Triers „Sentimental Value“ (Affeksjonsverdi), an den der Große Preis der Jury ging, wäre ein weiterer verdienter Anwärter auf die Goldene Palme gewesen. Renate Reinsve und Stellan Skarsgård brillieren in diesem Familienporträt, in das Trier eine Film-im-Film-Ebene einarbeitet, die er unauflöslich mit seinen Figuren verbindet. So spielt Skarsgård einen Filmregisseur und Reinsve seine Tochter, eine Schauspielerin, für die der Vater ein Drehbuch geschrieben hat.
Dass der Jurypreis zu gleichen Anteilen auf den deutschen Beitrag „In die Sonne schauen“ von Mascha Schilinski und Óliver Laxes Film „Sirāt“ verteilt wurde, ist konsequent, da auf diese Weise die zwei eigenwilligsten Filme des Wettbewerbs mit sehr individueller Handschrift geehrt wurden.
Beide Filme machen es dem Publikum nicht leicht, beiden Filmen wünscht man aber umso mehr ihr Publikum. Schilinski, weil sie ohne Hauptfiguren rund ein Jahrhundert in Deutschland am Beispiel eines Bauernhofs und der dort lebenden Familie als Geflecht aus vielen Stimmen inszeniert, in dem Wunden über Jahrzehnte hinweg immer neu auftauchen und magisch rätselhaft bleiben.
Laxe wiederum, weil er eine knapp gehaltene Geschichte in der marokkanischen Wüste bildgewaltig und mit schockierenden Einfällen vorantreibt, dass es Freude und Schrecken zugleich ist.
Mehrstündiger Stromausfall in Cannes
Als Thema dieses Jahrgangs wurde oft das Trauma genannt, das sich über Generationen vererbt. Schilinskis Film setzte zum Auftakt des Wettbewerbs dafür ein markantes Zeichen. In ihrer Dankesrede erwähnte Schilinski dann noch ein unerwartetes Ereignis des Abschlusstages des Festivals: In Cannes war mehrere Stunden der Strom ausgefallen, was ihr das Schreiben der Rede erschwert habe.
Stilistisch könnte man das Traumhaft-Flirrende als eine auffällige Wahl vieler Regisseure nennen. Kleber Mendonça Filhos Thriller „The Secret Agent“, der mit dem Regiepreis bedacht wurde, gehörte zu den erfolgreichsten Beispielen für diesen Ansatz. Ihm gelang es, so meisterhaft zu verwirren, dass man seiner Erzählung über einen Wissenschaftler auf der Flucht zur Zeit der Militärdiktatur in Brasilien trotz aller Sonderbarkeiten zu folgen bereit war.
Beim chinesischen Regisseur Bi Gan war das im Publikum nicht unbedingt zu beobachten. Aus „Resurrection“, seiner Hommage an die Geschichte des Kinos im Science-Fiction-Format, stiegen zahlreiche Kritiker während der Vorführung buchstäblich aus.
Sein bildgewaltiges Referenzenspektakel faszinierte immer wieder mit Einfällen, die sich bei Klassikern wie Robert Wienes „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder Georges Méliès’ Stummfilm „Die Reise zum Mond“ bedienten und im besten Fall daraus eine ganz neue Erfahrung machten. Sein assoziativ wirkendes Springen durch die Geschichte und verschiedene Ästhetiken hatte etwas entschieden Spielerisches. Dies war nur nicht immer klar von Beliebigkeit zu trennen. Er durfte am Ende den Spezialpreis der Jury entgegennehmen.
Regiedebüts von Schauspielern
Jenseits des Wettbewerbs hielten sich die Entdeckungen etwas im Rahmen. Von den vielen Regiedebüts von Schauspielern dieses Jahr war schon an anderer Stelle die Rede, das wohl bemerkenswerteste bot gegen Ende des Festivals die Schauspielerin Eva Victor mit ihrer Komödie „Sorry, Baby“ in der unabhängigen Reihe „Quinzaine des Cinéastes“. Eva Victor gibt darin die Literaturwissenschaftlerin Agnes, die vom Betreuer ihrer Doktorarbeit vergewaltigt wird.
Das gäbe Stoff für ein Justizdrama oder einen Rachefeldzug. Victor geht ihre Materie aber völlig anders an. Sie konzentriert sich darauf, wie Agnes von dieser Tat zunächst aus der Bahn geworfen wird und sich sehr bewusst zu fangen versucht, ohne dass die Frage, wie der Schuldige zur Rechenschaft gezogen werden kann, übermäßig großen Raum einnimmt. Agnes ist dabei souverän reflektiert, einnehmend kauzig und mit scharfem Witz ausgestattet, ähnlich wie ihre beste Freundin Lydie (Naomie Ackie).
Keine der Figuren wird vorgeführt, und mit Agnes’ Nachbarn Gavin (Lucas Hedges) gibt es eine Figur, die als Gegenentwurf zum gewalttätigen Professor ihren Dienst tut. Die Länge seines Penis macht ihm gleichwohl zu schaffen. Ein Film, der klein daherkommt, dies andererseits damit wettmacht, dass er reichlich aktuelle Themen klug und ohne Sendungsbewusstsein angeht. Darin zeigt sich gleichfalls etwas Mutiges. Wenn auch mit weniger Risiko als bei Panahi.
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