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Partner zum Ankommen

Anschluss an die Menschen in der Nachbarschaft zu finden, ist für viele Geflüchtete eine Herausforderung. Das Projekt Kieztandem in Treptow-Köpenick hilft

Projekt Kieztandem in Treptow-Köpenick: Nataliia Frolova aus der Ukraine (l.) und Johanna basteln im Nachbarschaftstreff Rabenhaus Foto: Marie Gönnenwein

Von Marie Gönnenwein

Nataliia Frolova würde gerne wieder arbeiten. Die Psychologin bastelt gerade einen Vogel aus gelbem und blauem Tonpapier. „Ich bin sehr pa­trio­tisch“, sagt sie. Vor drei Jahren kam Frolova aus der Ukraine nach Deutschland. An diesem Nachmittag nimmt sie an einem Nachbarschaftstreff des Projekts Kieztandem in Treptow-Köpenick teil. Es wird Kaffee getrunken, Kuchen gegessen und für ein anstehendes Straßenfest gebastelt.

Obwohl sie ausgebildete Psychologin ist, wäre sie auch bereit, als Coach, Beraterin oder Sozialarbeiterin zu arbeiten, sagt Frolova. Denn Abschlüsse anerkennen zu lassen, ist schwierig, Deutsch lernen sowieso. Dabei helfen Frolova vor allem die langen Spaziergänge, auf denen sie mit ihrer Kieztandem-Partnerin quatschen kann.

Das Projekt Kieztandem gibt es seit 2019 in Treptow-Köpenick. Es geht dabei um Inte­gration und Anschluss in der Nachbarschaft. Dafür werden Menschen mit Flucht- und Migrationserfahrung und Ehrenamtliche aus dem Bezirk zusammengebracht. Meist sind es Einzelpersonen, aber auch Paare und Familien nehmen teil.

Für ein halbes oder ganzes Jahr verbringen sie jede Woche zwei bis drei Stunden miteinander. Ob die Zeit dabei für Sport, Theaterbesuche, Behördengänge oder zum Puzzeln genutzt wird, spielt keine Rolle. Neben den Treffen der einzelnen Tandems gibt es regelmäßig Gemeinschaftsveranstaltungen mit Ausflügen, Spieleabenden oder Filmvorführungen.

Für Frolova ist der Eins-zu-eins-Kontakt besonders hilfreich, um Deutsch zu üben. Das kommt ihr im Unterricht des Berufssprachkurses zu kurz, sagt sie. Auch Iryna, die nicht mit vollem Namen in der Zeitung stehen möchte, findet, dass der Deutschkurs zu viele Relativpronomen und zu wenig die Realität behandelt.

Die Ukrainerin ist eigentlich Mathematikerin und genervt vom ständigen Sprachelernen. „Ich will leben, nicht lernen, lernen, lernen!“, sagt sie bei einem Stück Kuchen. „Das Leben ist Lernen“, wirft Carmen, die ebenfalls anonym bleiben möchte, vom anderen Ende des Tischs ein. Sie ist eine von den Alteingesessenen und heute etwas aufgeregt, weil ihre neue Kieztandem-Partnerin vorbeikommen soll.

Die Zusammenstellung der Tandems wird von den Mitarbeiterinnen des Projekts sorgfältig ausgewählt. Sie lernen jede interessierte Person zunächst einmal persönlich kennen. Anhand von Hobbys, In­te­res­sen oder Wünschen versuchen sie, ein passendes Gegenüber zu finden. Das erste Aufeinandertreffen findet zusammen mit einer Mitarbeiterin statt.

In den allermeisten Fällen funktionieren die Tandems gut miteinander. „Zu einem Abbruch kommt es eigentlich nur, wenn jemand wegzieht oder sich Termine verschieben“, sagt Projektleiterin Sophie ­Hollop. Manchmal entstünden sogar Freundschaften und bleibe der Kontakt auch nach dem Ende der Tandemzeit bestehen. Aktuell betreut das Team 27 Tandems, einige weitere bahnen sich an. Aber es fehle an deutschen Ehrenamtlichen, sagt ­Hollop.

Laut einer Umfrage des Bundesfamilienministeriums engagieren sich rund 40 Prozent der Menschen in Deutschland ehrenamtlich. Soziale Projekte wie das Kieztandem liegen auf Platz drei der beliebtesten Ehrenämter – nach Sportvereinen sowie Kultur- und Musikeinrichtungen. Knapp jede zehnte engagierte Person setzt sich für Geflüchtete oder Asylsuchende ein.

Über die Einsatzbereiche hinweg klagen viele Organisationen über Nachwuchssorgen. Verschiedene Träger berichten, dass erst durch die Coronakrise mit ihren Lockdowns und später die Energiekrise samt Inflation weniger Menschen mithelfen. Dabei ist besonders in Krisenzeiten freiwilliges Engagement wichtig, um den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Für Carmen von Kieztandem in Treptow-Köpenick gab der aktuelle Rechtsruck in der Politik den Ausschlag, sich ehrenamtlich für Geflüchtete einzusetzen. „Wir könnten alle ­irgendwann Flüchtlinge sein“, sagt sie.

Viele der Ehrenamtlichen erführen durch persönliche Empfehlungen und durch Mundpropaganda vom Projekt, erzählt Sophie Hollop. Auch über das Freiwilligenzentrum Sternenfischer kommen Ehrenamtliche zu den Kieztandems. Bei Sternenfischer werden Menschen beraten, wie sie sich in Treptow-Köpenick am besten freiwillig engagieren können. Die Neu­ber­li­ne­r*in­nen wiederum werden von Hilfsstellen und Behörden an das Projekt weitergeleitet. Analog zu den Fluchtbewegungen hätten zu Beginn viele Sy­re­r*in­nen teilgenommen, aktuell komme ein Großteil der Teilnehmenden aus Afghanistan oder der Ukraine, sagt Hollop.

Die Mathematikerin Iryna besucht zusätzlich noch zwei Sprachcafés, um noch mehr Deutsch zu üben. Ihrer 14-jährigen Tochter sei die Sprache viel leichter gefallen, erzählt sie. Wenn man sie fragt, scherzt Iryna, dass sie vier Kinder habe: zwei Söhne, die Tochter – und ihren Mann. Er ist noch in der Ukraine. Ihre Heimat Henitschesk ist von Russland besetzt. Auf ihrem Handy zeigt sie Fotos von der südukrainischen Stadt am Asowschen Meer. Vom Garten aus kann man das Wasser sehen, im Winter sogar den Sonnenuntergang. Im Garten hat die Familie Granatäpfel und Gemüse angebaut. Ein Foto zeigt eine riesige Tomate auf einer Küchenwaage mit 648 Gramm.

Und jetzt ist Iryna in Berlin und hat nicht mal einen Balkon. Die Fensterbänke seien zu schmal für Blumentöpfe, und durch die hohen Bäume in der Straße sei es für viele Pflanzen in der Wohnung zu dunkel, sagt sie. Aber immerhin kann sie ihre Leidenschaft für Blumen mit ihrer Tandempartnerin teilen. Weil die schon älter ist und nicht mehr gut genug zu Fuß für lange Spaziergänge, treffen sie sich bei ihr in der Wohnung. Auch, weil sie zwei Balkone hat. „Letzte Woche haben wir Samen in die Blumenkästen gesteckt.“

Zum Nachbarschaftsnachmit­tag in Treptow-Köpenick sind dieses Mal einige junge Leute gekommen. Sonst seien es vor allem Senior*innen, sagt eine Mitarbeiterin. Auch ein paar Kinder sitzen am Basteltisch und schneiden Wimpel für ein anstehendes Straßenfest aus oder basteln Vögel wie Nataliia Frolova.

Während Frolova malt, ausschneidet und aufklebt, beschreibt sie, wie ihr die vielen ähnlich klingenden Wörter das Deutschlernen erschweren: „Ausstellen, anstellen, abstellen“, listet sie Beispiele auf. „Einerseits ist es wichtig, Sprache als Tradition zu bewahren. Andererseits hätte ich gerne einfachere Wörter, Abkürzungen und keine Artikel.“

Für die Teilnahme an Kieztandem braucht man Deutschkenntnisse Niveau A2. Zwar wäre Gemeinschaft und praktische Hilfe im Alltag auch auf Englisch, mit Händen und Füßen möglich, aber bei dem Projekt gehe es eben um Integration und das Ankommen auf Deutsch, erklärt Mitarbeiterin Sophie Hollop.

„Bürokratie ist eine deutsche Tradition“, sagt Nataliia Frolova, während sie sich in die Anwesenheitsliste einträgt, wo man neben Namen und Unterschrift auch Alter und Staatsbürgerschaft angeben muss. Das ist wichtig für die Förderung, erklärt Hollop. Das Projekt will weniger eine Patenschaft zwischen Deutschen und Geflüchteten sein als vielmehr ein echtes Tandem: eine Beziehung auf Augenhöhe. Auf einem Tandem treten beide Parteien schließlich gemeinsam in die Pedale und sehen etwas von der Welt.

„Es ist ja auch für mich eine Bereicherung – ich will helfen, aber ich lerne ja auch was dazu“, sagt Ehrenamtlerin Carmen. Ihre Tandempartnerin ist an diesem Nachmittag doch nicht gekommen. Vielleicht kam etwas dazwischen, schließlich hat sie zwei kleine Kinder. Vielleicht klappt es beim nächsten Mal.

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