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Drohnen, Tränen und Liebestod

Experimentalmusik blüht in der Ukraine nicht erst seit Beginn des russischen Angriffskrieges. Das zeigen aktuelle und historische Aufnahmen. Nebenher unterstützt die Szene auch aktiv die Armee, etwa mit Spenden und Löten

Für „Liebestod“ haben Alexey Shmurak und Oleh Shpu­deiko auch mit alten Masken experimentiert Foto: Katya Libkind

Von Yelizaveta Landenberger

Mein Herz, meine Rosenblüte!“, eine leicht schiefe Stimme singt auf Ukrainisch und wird dabei von einer melancholischen Klaviermelodie begleitet. „Es bricht mir das Herz, dass du weit weg von mir gehst, und ich kann nicht …“ Die Worte stammen aus einem Liebesbrief des Kosakenhetmans Iwan Masepa an seine weit jüngere Geliebte. Statt weiterer Worte setzt dann ein Pfeifen ein, scheinbar verlorene einzelne, wenig zusammenhängende Pfeiftöne; und von der Stimme sind mal fröhliche „Lalalas“ zu vernehmen, mal wuchtige, fast aggressive „Param Params“, eingebettet in eine kitschige Liebeslied-Hookline. Schließlich entwickelt sich das über zehnminütige Lied, erweitert um elektronische Beats zur zeitgenössischen Tanzmusik.

Es handelt sich um „Heartily“, dem Auftakt von insgesamt vier Tracks auf dem vor Kurzem als physischem Tonträger auf Vinyl und auch digital erschienenen Werk „Liebestod“ der Komponisten und Musiker Alexey Shmurak und Oleh Shpu­deiko. Zugleich ist es die allererste Veröffentlichung des experimentellen Musiklabels „Kyiv Dispatch“. Shpudeiko, der mittlerweile in Deutschland lebt, ist unter seinem Künstlernamen Heinali für seine eigenwilligen, mit mittelalterlicher Polyphonie operierenden Elektronik-Kompositionen bekannt. Auch sein Soloalbum „Kyiv Eternal“ (2023), für das er Feldaufnahmen aus der ukrainischen Hauptstadt der Vorkriegszeit verarbeitete, sorgte international für Aufsehen. Shmurak lebt und arbeitet immer noch in Kyjiw als klassisch am Konservatorium ausgebildeter Komponist und Pianist, der inzwischen mit Experimenten arbeitet, aber dabei vorwiegend akustische Instrumenten nutzt. Wie im Track „Heartily“ deutlich zu hören ist, setzt er auch gerne Ironie als Stilmittel ein.

Auf ihrem Duo-Album prallen konträre Vorstellungen von Musikstilen, Stimmungen und Sprachen aufeinander und verschmelzen zu etwas einzigartigem Dritten. Der Albumtitel spielt auf das Motiv aus Richard Wagners Oper „Tristan und Isolde“ an – die Liebe der beiden Prot­ago­nis­t:in­nen ist im hiesigen Leben nicht möglich, und so können sie nur im Tod zusammen sein. Direkte musikalische Referenzen zu Wagner gebe es allerdings keine, erklärt Shpudeiko der taz. „Das ist eine abstrakte Idee, die alle Lieder des Albums vereint.“

Die ambivalente Stimmung zwischen überschwänglicher Liebe und einer Sehnsucht nach dem Tod, als Mischung extremer Gefühle in unsicheren Zeiten, bestimmt den Sound des gesamten Albums. Shpudeiko verantwortet die Electronics, während Shmurak singt, Klavier, Cembalo und MIDI-Keyboard spielt. Neben Mazepas Worten finden sich auf dem Album auch Weisen des ukrainischen Dichters Wolodymyr Swidsinskyj, der 1941 wie viele andere ukrainische Kulturschaffende im Zuge der Stalinistischen Repression ermordet wurde. Zitiert werden auch Verse des romantischen britischen Dichters John Keats. Ein halbes Jahr vor Beginn der russischen Großinvasion seien Shpu­deiko und er von zusammen mit Labelgründerin Sasha Andrusyk darauf angesprochen worden die Idee aufgekommen, dass sie gemeinsam ein solches Album aufnehmen sollten, berichtet Shmurak der taz. Die Arbeit daran begann direkt im Sommer 2021 in Kyjiw, fertiggestellt wurde die Musik dann nach Kriegsausbruch.

Jüngst veröffentlichte das Label Kyiv Dispatch sein zweites, ebenfalls hochemotionales und absolut hörenswertes Album: „Limbo“. Die Sopranistin Viktoriia Vitrenko gab bei verschiedenen Komponist:innen, darunter Agata Zubel, Liederzyklen in Auftrag, die sie ihrer Kollegin und Freundin, der belarussischen Flötistin und Oppositionspolitikerin Maria Kalesnikava, widmet. Kalesnikava wurde im Herbst 2020 wegen ihres Protests gegen das diktatorische Lukaschenko-Regime zu elf Jahren Haft verurteilt. Über längere Zeit war nicht einmal bekannt, ob sie überhaupt noch am Leben ist. Die Sorge um ihre Kollegin, aber auch die Ungewissheit, die Verzweiflung, ausgelöst vom Krieg, all das bringt Vitrenkos variantenreiche Stimme kunstvoll zum Ausdruck.

Eine zentrale Rolle in der experimentellen Musiklandschaft der Ukraine nimmt das Label Muscut mit seinem Sublabel Shukai ein, das sich auf Deutsch mit dem Imperativ „Suche“ übersetzen lässt. Shukai versteht sich als Archiv des ukrainischen Underground, entdeckt und veröffentlicht spannende und ultrarare Tapes aus der Zeitspanne der 1960er bis 1990er Jahre. Es kann als Wunder bezeichnet werden, aber am 7. März feierte Muscut immerhin seinen 13. Geburtstag und gab zugleich bekannt, mit dem jazzigen Tape „Love Fidelity or Hiss Goodbye“ des mittlerweile in Tallinn im Exil lebenden Labelgründers Dmytro Nikolaienko sein letztes Album zu veröffentlichen. Nikolaienko schrieb auf Instagram: „Ja, wir haben uns entschlossen, neue Veröffentlichungen einzustellen und in unseren geliebten Archivmodus zu wechseln.“ Das Sublabel Shukai werde entsprechend die Wühlarbeit fortsetzen und hoffentlich noch viele weitere Perlen ausfindig machen.

Liederzyklus für die belarussische Oppositionelle Kalesnikava: Sopranistin Viktoriia Vitrenko Foto: Elza Loginova

Bei Shukai erschien auf Vinyl und digital im vergangenen Herbst in Kooperation mit den US-Reissue-Spezialisten von Light in the Attic Records aus Seattle die viel beachtete Kompilation „Even the Forest Hums: Ukrainian Sonic Archives 1971-1996“. Darauf ist in chronologischer Reihenfolge ukrainische Musik aus der sowjetischen und frühen postsowjetischen Periode mit insgesamt 18 Songs vertreten – Folk, Rock, Jazz und Elektronik aus dem Underground.

Eröffnet wird das Album mit dem Song „Bunny“ der Folk-Rocker Kobza, einem instrumentalen Walzer, der Elemente aus Progrock, ukrainische Folklore und Jazz miteinander fusioniert. Bekannter dürften die ebenfalls auf der Compilation vertretene Musikerin Svitlana Nianio und ihre von 1988 bis 1993 aktive Band „Cukor Bila Smert'“ (Zucker Weißer Tod) sein. Soloalben von ihr und Werke der Band wurden auch schon zuvor bei Shukai veröffentlicht.

Das Cover des Doppelalbums ist auf der Vorder- und Rückseite mit jeweils einem Werk der ukrainischen Volkskünstlerin Marija Prymatschenko illustriert. Die Arbeit an dem Projekt war schon vor der Großinvasion in Gange. Geplant war ursprünglich ein Werk mit Songs sowohl von ukrainischen als auch russischen Künst­le­r:in­nen. „Was als breiterer Überblick über eine klanglich unterrepräsentierte Region begann, wurde plötzlich zu einem ziemlich kontroversen Projekt“, erklärt der Gründer von Light in the Attic, Matt Sullivan. Also habe man beschlossen, sich auf ukrainische Musik zu konzentrieren. Ein Teil des Erlöses aus den Albenverkäufen fließt an die NGO „Livyj Bereh“, die beim Wiederaufbau vom Krieg zerstörter Häuser in der Ukrai­ne hilft.

Tape-Archäologie: Dmytro Nikolaienko von Shukai Records bei der Wühlarbeit Foto: Horiz

Auch der in Kyjiw lebende US-Kurator und Künstler Clemens Poole sammelt mit seinem Noise-Label „Kyivpastrans“ Spenden. Mittlerweile veröffentlichte er schon vier Kassetten seines Projekts „Drones for Drones“ mit Stücken ukrainischer und internationaler experimenteller Musiker:innen, darunter auch von Shmurak. Von den Erlösen beim Verkauf der Tonträger werden im Krieg dringend benötigte Drohnen für ukrainische Soldaten gekauft. Diese spielen eine immer größere Rolle an der Front und sind vergleichsweise günstige wie effektive Waffen. Labelgründer Poole wird wie auch die NGO „Livyj Bereh“ am diesjährigen ukrainischen Pavillon der Architekturbiennale in Venedig beteiligt sein, der unter dem Motto „Dakh – vernacular hardcore“ steht. Das ukrainische Wort „Dakh“ leitet sich vom deutschen Wort Dach ab. Die Ausstellung im Pavillon ist dem Wiederaufbau vom Krieg zerstörter Gebäude gewidmet, „hardcore“ ist im ursprünglichen Sinn als Baumaterial zu verstehen. Poole wird eine immersive Soundinstallation beitragen, die von selbstgebauten FPV-Drohnen der Grassroots-Initiative „Klyn Drones“ inspiriert ist. Die Freiwilligen dieser Initiative löten, wie mittlerweile viele Ukrai­ne­r:in­nen in ihrer Freizeit, selbst kleine Quadrokopter zusammen, die dann an der Front von Soldaten mit Sprengsätzen ausgestattet werden und als Kamikaze-Drohnen gegen die russische Armee eingesetzt werden.

Blumenhändlerin und Klyn-Drones-Gründerin Kseniia Kalmus schreibt auf Instagram in ihrer Bio: „Um nicht zu weinen, sammle ich für Drohnen“.

Alexey Shmurak & Oleh Shpudeiko: „Liebestod“ (Kyiv Dispatch)

Viktoriia Vitrenko: „Limbo“ (Kyiv Dispatch)

Nikolaienko: „Love-Fidelity or Hiss Goodbye“ (Muscut)

Verschiedene: „Even the Forest Hums: Ukrainian Sonic Archives 1971–1996“ (Light in the Attic/Cargo)

Verschiedene: „Drones for Drones. Volume 4“ (Kyivpastrans/Bandcamp)

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