Orthodoxie in Estland: Religion als Sicherheitsrisiko
Das Parlament stimmt Änderungen des Kirchengesetzes zu. Diese richten sich an die orthodoxe Kirche im Land, die immer noch mit Moskau verbunden ist.

Innenminister Igor Taro zufolge, den der estnische öffentlich-rechtliche TV- und Radiosender Eeste Rahvusringhääling (ERR) zitiert, präzisiere der Gesetzentwurf die Regeln für die Verwaltung religiöser Vereinigungen. So würden beispielsweise wirtschaftliche Verbindungen zu religiösen Strukturen beschränkt, die mit Regierungen von Staaten verbunden seien, die Estland feindlich gesinnt seien.
„Das Hauptanliegen des estnischen Staates ist es, die Sicherheit und verfassungsmäßige Ordnung zu gewährleisten und den hier lebenden Menschen Frieden und Ruhe zu garantieren. Wir werden dafür sorgen, dass die Religionsfreiheit gewahrt bleibt und dass Religion in Zukunft nicht gegen unseren Staat und unser Volk verwendet werden kann“, so Taro.
Angesichts der veränderten Sicherheitslage bleibe den in Estland agierenden Strukturen keine andere Wahl, als die Verbindungen zum Moskauer Patriarchat abzubrechen und sich von den Narrativen und dem Einfluss des Kremls zu befreien. Als Bedrohung für Estland werden in diesem Zusammenhang Aufrufe zum Krieg, zu terroristischen Verbrechen, zur Gewalt oder Unterstützung militärischer Aggressionen angesehen.
Stimmrecht bei Kommunalwahlen
Des weiteren wird präzisiert, wer als Geistlicher in Estland tätig sein kann. Dies ist nicht möglich, wenn eine Person aus irgendeinem Grund keinen ständigen Wohnsitz in Estland hat oder ihr der Aufenthalt dort untersagt ist – zum Beispiel aus Sicherheitsgründen. Unabdingbar ist außerdem ein Stimmrecht bei Kommunalwahlen. Im März hatte das Parlament für eine Verfassungsänderung gestimmt, die die russische Minderheit (21,5 Prozent der Bevölkerung) und andere nicht-europäische Bürger*innen vom Wahlrecht bei Kommunalwahlen ausschließt. Laut Innenministerium müsse auch das Religionsgesetz entsprechend angepasst werden.
Die religiöse Landschaft in dem baltischen Staat mit 1,37 Millionen Einwohner*innen ist komplex. Rund 60 Prozent sind konfessionslos. 16 Prozent sind orthodoxen Glaubens, acht Prozent Protestant*innen. Derzeit gibt es zwei orthodoxe Kirchen: Die Estnische Apostolische Orthodoxe Kirche, die autonom ist und dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel untersteht und die estnisch-othodoxe Kirche Moskauer Patriarchiat (EPZMP), die seit einer Namensänderung am 2. April 2025 jetzt Estnisch-orthodoxe christliche Kirche (EPCHZ) heißt. Sie untersteht laut Statut weiter dem Moskauer Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kyrill I.
Spätestens seit dem Beginn von Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar 2022, den Kirill I. als „heiligen Feldzug“ preist, haben sich die Beziehungen zwischen der estnischen Regierung und der EPCHZ stetig verschlechtert. Mehr als einmal war deren Oberhaupt, Metropolit Ewgeni (mit bürgerlichem Namen Waleri Reschetnikow) aufgefordert worden, sich vom Moskauer Patriarchen zu distanzieren.
Vergeblich. Im Januar 2024 wurde Ewgenis Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert – aus Sicherheitsgründen. Er habe bei öffentlichen Auftritten die Taten des Aggressors weiterhin unterstützt, wie es offiziell hieß. Der Metropolit musste Estland verlassen.
Metropolit schweigt
Beim Weltkonzil des Russischen Volkes (WPNS) unter Kyrills Schirmherrschaft im März 2024 wurde ein Dokument verabschiedet. Das gesamte Gebiet der heutigen Ukraine müsse in die Einflusszone Russlands einbezogen werden, hieß es darin. Zudem erklärte Kirill, dass die postsowjetischen Länder (einschließlich Estland) sich in diesen Einflussbereich begeben sollten – was einer faktischen Forderung ihrer Auflösung als unabhängige Staaten gleichkommt.
Die EPCHZ distanzierte sich von den Äußerungen, Metropolit Ewgeni hüllte sich in Schweigen. Kurz darauf kündigte der damalige Innenminister Lauri Läänemets die Möglichkeit an, dass der Staat die Einstellung der Aktivitäten jener Gemeinden und Klöster auf dem Rechtsweg anstreben werde, die weiter der direkten Gerichtsbarkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche unterstünden. Eine Eskalation solle jedoch vermieden werden.
Im vergangenen August nahm die EPCHZ eine Satzungsänderung vor und tilgte einen Passus über die Unterordnung unter Moskau. Das reichte einem Bezirksgericht in Tartu nicht aus. Kurz darauf stellte der Wortführer der EPCHZ, Bischof Daniel, klar, dass seine Kirche sich nicht der Estnisch Apostolischen Orthodoxen Kirche anschließen werde und an Metropolit Ewgeni festhalten wolle.
Letzter Schritt in der Auseinandersetzung ist besagte Namensänderung vom 2. April. In einer Stellungnahme der EPCHZ heißt es: „Der neue Name unterstreicht unsere Mission – allen Einwohner*innen Estlands zu dienen und gleichzeitig die jahrhundertealten Traditionen der Orthodoxie in Estland kontinuierlich aufrechtzuerhalten. Wir streben danach, ein offener und integraler Teil der estnischen Gesellschaft zu sein.“
Das Gesetz könne zu Unruhen führen
An kritischen Stimmen zu den jüngsten Gesetzesänderungen mangelt es nicht. Das neue Gesetz könne zu Unruhen oder sogar Ausschreitungen unter den russischsprachigen Einwohner*innen des Landes führen, glaubt Martin Helme, Vorsitzender der oppositionellen rechtspopulistischen Estnischen Konservativen Volkspartei EKRE. In Estland sei es in letzter Zeit normal geworden, dass jemand „Putin, Putin“ rufe und man sofort und mit Leichtigkeit die Verfassung mit Füßen trete. Doch darin sei ganz klar die Religionsfreiheit festgeschrieben.
Wadim Belobrowzew von der sozialpopulistischen Estnischen Zentrumspartei (sie sieht sich als Vertreterin der Interessen russischspachiger Est*innen im Parlament) hält das Gesetzesprojekt für verfassungswidrig. Der Grundsatz der Religionsfreiheit werde verletzt, das führe zu einer Spaltung innerhalb der Gesellschaft. Der Staat solle sich nicht in die Angelegenheiten der Kirche einmischen, zietiert die Deutsche Welle Belobrowzew.
Jetzt ist der Präsident Alar Karis am Zug, der das Gesetz unterzeichnen muss. Sollte es in Kraft treten, hat die EPCHZ zwei Monate Zeit, um ihre Statuten der neuen Gesetzeslage anzupassen.
Laut des estnischen Webportals Postimees gehe die Anzahl derjenigen, die Maßnahmen zur Trennung der EPCHZ vom Moskauer Patriarchat für gerechtfertigt halten, zurück. Dies geht aus einer von der Staatskanzlei in Auftrag gegebenen Umfrage hervor. Waren 2024 noch 60 Prozent der Befragten dafür, lag dieser Wert im März bei 55 Prozent.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!