: Wut und Selbstzerfleischung
Das Festival „100 + 10 – Armenian Allegories“ am Maxim Gorki Theater arbeitet den alten Völkermord an Armenier*innen und deren erneute Vertreibung auf

Von Tom Mustroph
Was bleibt, wenn Menschen vertrieben werden? Transportkisten mit Dingen, die jene, die noch über Ressourcen verfügen, retten können. Behältnisse mit Erde aus der alten Heimat, die auch zu Fuß mitgenommen werden können. Manchmal auch die Gebeine der längst begrabenen Verwandten, die man exhumiert, um sie bei sich zu haben. All diese Dinge spielen eine Rolle bei den Uraufführungen „Donation“ und „Karabakh Memory“ im Rahmen des Festivals „100 + 10 – Armenian Allegories“. Dieses erinnert an den Genozid am armenischen Volk im zusammenbrechenden Osmanischen Reich im Jahr 1915. Und es nimmt natürlich auch die schlimmen Aktualisierungen in diesem Jahrhundert mit der Vertreibung aus Bergkarabach, armenisch Arzach, in den Blick.
„Donation“ von Atom Egoyan spannt den ganz weiten Bogen. Transportkisten mit historischen Kleidungsstücken aus der Zeit des Genozids von 1915 stehen auf der Bühne. Man sah sie zuvor auf Videosequenzen auf dem Transport aus Übersee mitten ins Gorki kommen. An Garderobenständern aufgehängt füllen sie nun den hinteren Teil der Bühne. Vorn sitzt Arsinée Khanjian. Sie erzählt die Geschichte der Kleidungsstücke. Sie wurden benutzt in Egoyans Film „Ararat“, der Völkermord und Deportation anhand der Geschichte des Malers Arshile Gorky in Bilder zu setzen versuchte.
Die Kleidungsstücke im Hintergrund tauchten auch in Fatih Akins „The Cut“ zum gleichen Thema auf. Khanjian spielte in beiden Filmen mit. In einem von Replik zu Replik aggressiver werdenden Interview mit dem Leiter des Fundus, in den die Kostüme integriert werden sollen, vertieft sie sich in die eigenen Filmrollen. Und sie erzählt als Aktivistin und Enkelin von Vertriebenen die Geschichte von 1915 und des jahrzehntelangen Schweigens danach nach.
Allerdings bauen sie und Regisseur Egoyan auch überraschende Schmerzpunkte ein. Vom immer penetranter auftretenden zukünftigen Verwalter der alten Objekte (beherzte Darstellung eines stets besserwisserischen Ekels durch Edgar Eckert) in die Enge getrieben, sinniert Khanjian über die Grenzen und möglicherweile sogar fatalen Folgen des eigenen Aktivismus nach.
„Karabakh Memories“ der ukrainisch-armenischen Autorin und Regisseurin Roza Sarkisian hat diese Art von selbstquälerischer Reife nicht. Das Stück ist pure Wut. Roza, verkörpert durch Flavia Lefèvre, erzählt nicht einfach von Flucht und Vertreibung der armenischen Bevölkerung aus Arzach in den Jahren zwischen 2020 und 2023. Sie reißt sich die Geschichte regelrecht aus den Eingeweiden. Sie kotzt ins Klo, das sich malerisch verdreckt auf der Bühne befindet, wirft mit Objekten um sich, die an Körperteile erinnern (Ausstattung: Dana Kavelina). Das können frische Leichenteile sein oder auch jene Gebeine, die Fliehende aus Arzach tatsächlich mit sich nahmen. Einige Familien zündeten auch die eigenen Häuser an – eine Strategie der verbrannten Erde, um den verhassten Eindringlingen aus Aserbaidschan so wenig wie möglich zu überlassen.
Weil die Aseri für Armenier Türken sind – und das heutige Aserbaidschan auch waffentechnisch von Erdogans Türkei unterstützt wurde – ist man schnell bei Kontinuitäten zwischen Osmanischem Reich und türkischem Staat.
Durch zahlreiche Slapstickeinlagen wie dem Verkauf von Erde aus Arzach brechen Lefèvre und ihre Mitstreiter*innen Alexandra Malatskovska und Tim Freudensprung immer wieder den Furor. Groteske und Wut befeuern sich aber auch. Die wilde Show kulminiert schließlich im Aufruf an türkische und deutsche Zuschauer*innen, das mittlerweile abgerissene Kölner Mahnmal zur Erinnerung an den Genozid von 1915 jetzt mal schnell auf der Bühne neu zu bauen. Das ist Selektion andersherum, mit der Urenkelgeneration der damals am Genozid Beteiligten; preußische Offiziere sind tatsächlich auf zeitgenössischen Fotografien vor frischen armenischen Leichen überliefert.
Als versöhnlicher Abschluss wird für ein queeres Arzach gesungen: nicht-binär, nicht-armenisch, nicht-aserbaidschanisch, aber unter dem Protektorat der Weltgemeinschaft. Denkt man an das einstige Mandatsgebiet Palästina, mit all den Folgen dort, geht der Song dann aber gar nicht mehr so frisch über die Stimmbänder.
Der Auftakt des 40-tägigen Festivals offenbarte immerhin, dass Wut und Selbstzerfleischung keine gar so schlechten Zugänge für grausige Phänomene und Handlungen sind. Das Gorki-Publikum jedenfalls war wieder einmal begeistert.
„100 + 10 – Armenian Allegories“ bis 31. Mai, Gorki
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen