: Im Westen was Neues
Als Vierzehnjähriger bricht unser Autor mit seinem Freund Gerd nach Westen auf. Bloß weg von der heran-nahenden Roten Armee und der Hitlerjugend, die Gerd in den Volkssturm stecken will. Erinnerungen an verwüstete Landstriche, hilfsbereite Tanten und eine bizarre Flucht
Von Hans-Jürgen Pickert
Im Januar 1945 wurde es im Kinderlandverschickungslager sehr unangenehm. Die Russen waren nur noch wenige Kilometer von Werblitz bei Soldin entfernt, wo ich seit November 1943 mit anderen Schülern der Zeppelin-Oberschule lebte, weil man uns vor den Bomben schützen wollte, die auf unsere Heimatstadt Berlin fielen. Wenn der Wind aus dem Osten wehte, hörten wir die Geräusche der Front, die wie ein entferntes Gewitter klangen. Täglich trafen Flüchtlingstransporte ein – aus irgendwelchen Gebieten, die schon von den Russen erobert waren. In Güterwaggons zusammengepfercht, bei eisiger Kälte und ohne Heizung, trafen Menschen ein, die vierzehn Tage und länger in diesen Zügen gelebt hatten. Viele sprachen nur mühsam Deutsch. Sie konnten kaum zum Ausdruck bringen, wo es ihnen wehtat.
Wir wurden schichtweise eingesetzt, Tag und Nacht, um die Güterwagen zu entladen. Die Turnhalle und der Gemeindesaal des Städtchens waren mit Stroh ausgelegt worden und dienten als Lagerstatt für die ankommenden Flüchtlingsfamilien. Viele der alten Leute konnten nur noch als Leichen aus den Güterwagen gehoben werden. Ich erinnere mich auch noch an eine Holzkiste, in der sich eine Anzahl auf der Fahrt erfrorener Kleinkinder befand. Selbst der Kot, den die Flüchtlinge auf der Fahrt in den Waggons lassen mussten, war auf den hölzernen Planken angefroren.
Die Herren von der Partei, einschließlich unserer Lehrer, schienen zwar ganz anderer Meinung zu sein, aber die meisten von uns Jungen glaubten nicht mehr an einen bevorstehenden Endsieg des Großdeutschen Reiches. Deshalb dachten wir sehr intensiv darüber nach, wie wir dem sich abzeichnenden Inferno entgehen konnten.
Die Lagerleitung schien das Donnern der russischen Geschütze als Selbstverständlichkeit zu empfinden. Jedenfalls zog sie aus den Ereignissen keine Konsequenzen. Wenn einer der Schüler von Rückkehr nach Berlin redete, dann nannten ihn die Lehrer einen Defätisten. Mein Mitschüler Gerd, der damals schon 15 Jahre alt war, ein Jahr älter als ich, fuhr eines Morgens kurzentschlossen mit seinem Fahrrad ab nach Berlin. Er bewies damit mehr Intelligenz als die gesamte Pädagogenschaft.
Allerdings musste er, um bei den Lehrern keinen Verdacht zu erregen, einen großen Teil seiner Habe, wozu auch das Bettzeug gehörte, im Lager zurücklassen. Meine Absicht dagegen war es, Bett und Kleidung mitzunehmen. Ich ging zum Arzt des Städtchens, klagte über einen Rückfall in die Gelbsucht, an der ich ein Jahr zuvor einmal erkrankt gewesen war, konnte als Beweis für meine Behauptung etwas Gelbliches in den Augenwinkeln vorzeigen, und bekam ein Attest, das mir strengste Diät verordnete. Die Krankenkost sei aber nur im Berliner Elternhaus herzustellen. Ein Telegramm beorderte meine Mutter nach Werblitz. Sie kam per Eisenbahn, obwohl es zu jener Zeit nicht leicht war, eine Fahrkarte zu bekommen, denn die Devise lautete: „Erst siegen, dann reisen!“
Als der Direktor erfuhr, dass Mutter mich wegen des ärztlichen Attestes und der verordneten Diät nach Berlin mitnehmen wollte, wusste er natürlich sofort, dass es sich dabei nur um einen Vorwand handelte. Er tat mehr als seine Pflicht, bezeichnete mich als Aufrührer, meine Mutter als verräterische Volksgenossin, und uns beide als feiges Ungeziefer. Gegen unsere Abreise konnte er allerdings nichts unternehmen.
Meine Mutter und ich kamen wohlbehalten in Berlin-Schöneweide an. Unsere Wohnung hatte keine Fensterscheiben mehr, die Türen waren mehrmals aus den Angeln gefallen, weil sie den Luftdruck nicht vertragen hatten, der durch die Bomben verursacht worden war. Die Wände zwischen den Zimmern hatten handbreite Risse und expressionistische Ausbuchtungen. Durch eine amerikanische Brandbombe war die obere Etage unseres Hauses zum größten Teil ausgebrannt.
In den Monaten bis zum Frühjahr heulten jeden Tag und jede Nacht die Alarmsirenen, amerikanische fliegende Festungen warfen ungehindert ihre Bomben auf die Stadt. Die Familie ging bei Fliegeralarm in zahlreicher nachbarlicher Begleitung zum zehn Minuten entfernten Bunker, denn gegen Luftminen und Zehn-Zentner-Bomben waren die notdürftig hergerichteten Schutzräume in Neubauhäusern nicht gefeit. Und die Rote Armee rückte näher und näher.
„Können wir es verantworten“, so fragten sich meine Eltern, „die Kinder in russische Hände fallen zu lassen, sodass sie vielleicht ins ferne Sibirien abtransportiert werden?“ Gerds Eltern stellten sich die gleiche Frage. Und beide Familien gaben die gleiche Antwort. „Schicken wir“, so sagten die Eltern des Freundes, „die Kinder zu unseren Verwandten nach Brandenburg an der Havel. Dort wohnt die gute Tante Minna im Haus der Bäckerei unseres Onkels Fritz, der leider im Krieg gegen die Feinde kämpft.“ „Ja“, sagten meine Eltern, „dort werden bald die Amerikaner sein, während es in Berlin nicht mehr lange dauert, bis die Russen hier sind.“
Am 19. April 1945 schnürten Gerd und ich unser Bündel – genauer gesagt, zwei Koffer – und reisten gen Brandenburg. Gerd hatte mittlerweile einen Musterungsbefehl bekommen, er stand vor seinem 16. Geburtstag. „Volkssturm“ hieß die Truppe, zu der er gezogen werden sollte. Das letzte Aufgebot der ältesten und jüngsten Wehrfähigen, die der Führer dazu aufrief, den „Endsieg“ zu retten und sie, ausgestattet mit ein paar Panzerfäusten, ins Feuer schickte.
Die zu jener Zeit stets überfüllte und oftmals durch Luftangriffe außer Betrieb befindliche S-Bahn brachte uns nach Potsdam. Der Hauptbahnhof war völlig zertrümmert. Lokomotiven standen herum wie tote, verwundete oder gelähmte Riesentiere. Angesichts der Gleise, die teils zerrissen in den Himmel ragten, stellte Gerd fest: „Hier kommen wir nicht weg.“
Aber es gab einen eiligst errichteten Notbahnsteig außerhalb des Bahnhofes. Hier saßen Leute auf Koffern und Säcken, um wie wir auf den Zug zu warten, von dem niemand wusste, ob er kommen würde, und wenn ja, wann. „Alles verloren“, „ausgebombt“, „dreimal ausgebombt“, „geflüchtet“, „verwundet“ war zu hören. Einige starrten nur stumpfsinnig vor sich hin. Wir packten unsere Brote aus und frühstückten.
Zu den Wundern jener Zeit gehörte der Personenzug, der uns nach Brandenburg brachte. Dort fanden wir den Bäckerladen der Tante außer Betrieb, aber das Haus stand noch. Die etwa 40 Jahre alte Tante Minna staunte ihren Neffen Gerd erkennend: „Wo kommt ihr denn her?“ Dabei traf mich als Fremdkörper ein scheeler Seitenblick.
Man schimpfte im Haus Tante Minnas nicht offen auf Adolf Hitler. Wir beschlossen also, nichts von dem Musterungsbefehl zu sagen, demzufolge Gerd bereits russische Panzer zu knacken hätte. Die Tante vereinnahmte unsere Lebensmittelkarten und wir wurden schließlich in ein Mansardenkämmerchen hinter dem Mehlboden geleitet, das uns fortan zur Wohnstatt dienen sollte. Zumindest so lange, bis die Amerikaner hier wären, die sich in rapidem Vormarsch befanden.
Das war der 20. April – Führers Geburtstag. Die Sirupbrote zum Frühstück verzehrten wir mit dem Gedanken an die hungernden Berliner, und damit an die ungleichmäßige Verteilung irdischer Güter in Krisenzeiten. Ähnliche Sorgen schienen auch Tante Minna zu bewegen, denn sie beobachtete unsere Fresslust mit sichtlicher Beunruhigung. „Nun passt mal auf, Kinder, ich weiß nicht, aber mir ist so, und vielleicht denken die Nachbarn, ihr seid womöglich von der Wehrmacht desertiert. Wenn ihr also jemanden trefft, dann sagt lieber gleich euer Alter. Am besten wäre es natürlich, wenn ihr gleich zur Ortsgruppe der Partei geht und euch zum Volkssturm meldet.“
Unter vier Augen hielten wir Kriegsrat. Gerd hatte eine Idee: „Wir nehmen das Paddelboot aus dem Schuppen, packen unsere Koffer rein, schaffen Proviant an Bord und hauen ab. Immer die Havel runter bis zur Elbe – dann sind wir genau bei den Amis.“ „Und wenn sie nicht gestorben sind, dann paddeln sie noch heute – mit dir spielen’se wohl!“ „Na dann lies mal den Wehrmachtsbericht von gestern.“ Ich las: „Die Besatzung von Magdeburg leistet, in einzelne Kampfgruppen aufgespalten, im Westen der Stadt noch tapferen Widerstand. Im Kampfgebiet Dessau-Bitterfeld …“
„Das ist unwichtig“, fiel mir Gerd ins Wort, „für uns ist das Stichwort: Magdeburg. Der Wehrmachtsbericht ist von gestern, also ungefähr nach der Kampflage von vorgestern. Bei dem Tempo der Amis haben sie die Elbe schon überschritten. Wir brauchen also nur elbabwärts zu paddeln und kommen genau hin.“
Nun war der Gerd schon immer klüger gewesen als ich. Er hatte sogar in Mathematik eine eins. Es war also kein Wunder, dass ich jetzt doch einige Lust auf die Bootspartie bekam.
„Also schön“, sagte ich, „an mir solls nicht liegen. Aber wie bekommen wir das Boot?“

„Tante Minna wirds schon rausrücken – die ist doch froh, wenn sie uns damit los ist.“
So war es tatsächlich. Wir versprachen, das Boot später heil wieder zurückzubringen und durften es nehmen. Natürlich gingen wir gleich daran, klar Schiff zu machen. Zunächst schleppten wir heimlich große Mengen Proviant aus Tante Minnas reichlich gefüllter Speisekammer zum Schuppen am Ufer. Aber als wir alles in dem Boot verstaut hatten, versank es überladen in der Havel. Wir mussten den Plan ändern.
Am 24. April 1945 packten wir einen gemeinsamen Koffer mit dem Nötigsten. Wir wollten mit einem der Lastwagen fahren, die sich auf dem Weg nach Norden befanden. Die Straßen waren voll von Flüchtlingstrecks aus den östlichen Reichsgebieten. Mit unserem Koffer – eine Latte durch den Griff gezogen – standen wir am Straßenrand, aber kein Auto hielt an. Viele, die mit uns warteten, sprangen auf die fahrenden Lastwagen auf. Mit unserem schweren Gepäck war das unmöglich. „Auf diese Weise kommen wir hier nie weg!“ Also gaben wir auch diesen Plan auf.
Zurück bei Tante Minnas Haus ging der Fliegeralarm los. In der Mansarde steckten wir nun nur noch die allernötigsten Sachen in einen Rucksack und einen englischen Militärtornister aus dem Ersten Weltkrieg. Gerd schaute aus dem Fenster und winkte mir, näher zu kommen. Auf dem Acker am anderen Havelufer fuhren munter russische Panzer hin und her. So weit war es also schon. Wir starrten wie gebannt aus dem kleinen Fenster.
Plötzlich explodierte über dem Haus, für uns gerade noch sichtbar, ein Schrapnell. Man hatte uns wohl für Beobachtungsposten gehalten. Wir rafften unsere Gepäckstücke zusammen – und fielen im gleichen Augenblick rückwärts ins Zimmer.
Es gibt Geräusche, die man als Knall beschreiben kann. Dieses Geräusch war mehr als ein Knall. Ich hörte danach längere Zeit gar nichts.
In der Mansarde hatte sich in Sekundenschnelle dicker Staub ausgebreitet. Gerd war nicht zu sehen. Ich rappelte mich auf und stieß an der Tür mit ihm zusammen. Auf dem Mehlboden, den wir überqueren mussten, um nach unten zu gelangen, brannte ein Mehlsack. Wir traten mit den Füßen dagegen und löschten die Flammen. Gerd sah aus wie ein Clown, weiß gepudert, sicher ging es mir nicht anders. Aber lachen konnten wir nicht. Mit Rucksack und Tornister zogen wir los. Das Gehör kehrte nur zögernd wieder. Später erfuhren wir, dass eine Granate, ohne zu explodieren, das Fachwerk und, zwischen uns beiden hindurch, noch zwei Schornsteinwände durchschlagen hatte, bevor sie in dem Sack Mehl stecken blieb.
Gerd und ich gehörten zu den letzten, die über eine Havelbrücke aus der Stadt gelangten. Wir hatten das Glück, mit einem Gelände-Pkw der Wehrmacht mitfahren zu können. Ein Feldwebel und ein Leutnant fuhren damit zu irgendeinem Ziel, das es wahrscheinlich schon nicht mehr gab. Dazu ein SS-Sturmführer und zwei Wehrmachtshelferinnen. Wir hatten das Gefühl, dass sie alle auf dem Absprung aus dem Krieg waren, auch wenn das natürlich niemand sagte. Gerd und ich saßen auf einem großen, angeschnallten Holzkoffer hinter den Sitzen des Wagens. Wir krallten uns an den Riemen des Koffers fest, um nicht herunterzufallen. Aber es ging langsam genug voran.
Auf der rechten Straßenseite die Flüchtlingswagen mit müden, abgemagerten Gäulen davor. Links Kraftfahrzeuge, viele mit Holzgasgeneratoren, den „Kochern“, wie die Soldaten sagten. Dann überholten wir eine Kolonne elender Gestalten, bewacht von SS. Stumpf sahen die Männer und Frauen vor sich hin. Unrasiert, hohlwangig, mit tief in den Höhlen liegenden Augen, Gerippe mit Haut. In ihren Sträflingskleidern und nach oft jahrelanger Haft sahen sie fast alle so aus, wie man uns die Feinde des Volkes, die „Untermenschen“, geschildert hatte. Unsere Hirne gehörten zu den gutwilligsten – aber sie waren verkleistert, wie andere auch. Heute weiß ich, dass wir einem Todesmarsch aus einem KZ begegnet sind.
Irgendwo zwischen Brandenburg und Neustrelitz fanden wir Unterschlupf in einem Gehöft. Es war damals üblich, dass die Bauern alle Gäste bewirteten, solange der Vorrat reichte. In der riesigen Küche gab es Bratkartoffeln mit Ei. Um weiter nach Nordwesten zu gelangen, bestiegen wir nach einem guten Frühstück wieder das Auto. Wir wollten nun zu einer weiteren Tante von Gerd, Tante Luise aus Neustrelitz. Ich weiß nicht, wo der Gerd seine vielen Tanten her hatte.
Tante Luise schloss uns tränenreich in ihre Arme. Vielleicht dachte sie auch an ihren Sohn, der irgendwo gegen die Feinde kämpfte, als sie ihren unerwarteten Besuch empfing – in der Hoffnung, ihrem Knaben würde im Bedarfsfalle ähnliches zuteil. Sein Stübchen bezogen wir nun. Wir hatten ein riesig breites Bett. Vom Fenster aus war der Bahnhof Neustrelitz zu sehen. Er lag nur wenige Hundert Meter von uns entfernt, und wir freuten uns, wie gesund er aussah. Im Gegensatz zu den Bahnhöfen, die wir gerade erlebt hatten, Potsdam und dann Brandenburg. Früh gingen wir schlafen, und nichts konnte uns in der Ruhe stören. Nichts.
Als wir aufwachten und aus dem Fenster sahen, war der Bahnhof weg. Es gibt Eindrücke, denen man selbst nicht traut. Man sieht so etwas und grinst, oder man lässt das Grinsen, aber man glaubt nichts von dem, was man sieht. Wir glaubten es schließlich doch, denn es waren einige Trümmer übriggeblieben, die uns beim Glauben halfen. Die Tante hatte den Luftschutzkeller aufgesucht. Warum sie uns nicht geweckt hat, wusste sie nicht mehr. Und unser Gehör war von der Granate in Tante Minnas Dachboden noch so geschädigt, das wir einfach nichts gehört hatten.
Es war damals nicht leicht, per Anhalter zu reisen, denn erstens hielten die Autos nicht gern, und zweitens gab es kaum welche. Schließlich fanden wir einen Lastwagen, der uns bis zum Städtchen Waren brachte. Auf dem dortigen Bahnhof stand ein Güterzug, beladen mit Grubenholz.
Wir konnten eine stabile Ecke des Waggons erwischen und fuhren über Vollrathsruhe, Lalendorf, Laage nach Rostock. Dort bekamen wir noch am gleichen Tag einen Personenzug. Der fuhr nur bis Bad Doberan, ein paar Kilometer. Wir stiegen aus, und mit uns einige Hundert Deutsche, denen man ansah, dass sie sich keinen Illusionen hingaben. Sie hatten den Krieg verloren, und das Wirtschaftswunder der Jahre nach 1950 war im April 1945 eine unvorstellbare Märchenwelt.
Gerd und ich sprachen bei der NSV vor, der „Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt“, dem gleichgeschalteten Wohlfahrtsverband des NS-Staates. Ein Massenquartier mit Geschrei, Gestank und einer schwachen Chance auf ein Bett im überfüllten Schlafsaal. Sollte es in dieser Gegend keine Scheunen geben und Stroh? Wir marschierten ein Stückchen aus dem Ort. Da stand ein Försterhaus. Spiegelei, Brot, Stroh auf der Tenne. Wir schliefen wunderbar.

Es dauerte noch einen Tag, bis wir in Hamburg ankamen. Bis dahin tippelten wir am Rande der Landstraßen, fuhren zwischendurch auf einem Traktor, pumpten uns ein Stück mit der Draisine auf einer Eisenbahnstrecke vorwärts, holperten auf dem pferdegetriebenen Leiterwagen eines Bauern und benutzten schließlich glückstrahlend in Hamburgs Außenbezirken die Hochbahn, die dort S-Bahn heißt.
In Barmbek gab es wieder eine Tante, aber die beherbergte uns nicht. Sie hatte Angst, die Aufnahme mutmaßlich fahnenflüchtiger Jugendlicher könnte ihr Ärger mit der Polizei einbringen. Als der Krieg lange vorüber war, hat sie sich entschuldigt. Wir gingen damals also wieder zur NSV. Das Heim war in einer Schule untergebracht.
Wir gingen auch zu einem Friseur, der zwischen den Ruinen Hamburgs übriggeblieben war. Als wir das Geschäft wieder verließen, sahen wir uns um. Den Hamburger Hafen hatten wir uns ganz anders vorgestellt. Er sah sehr traurig aus. Kein Schiff, nur einige Wracks. Die Anlagen waren zerstört. Wir standen an den Landungsbrücken und träumten den ewigen Halbstarkentraum vom blinden Passagier nach Übersee. Selten war seine Erfüllung so unmöglich wie zu jener Zeit.
Am Abend des 28. April gingen Gerd und ich sogar in ein Kino und sahen Johannes Heesters in einer Revue. Es war eine völlig andere Welt. Doch am nächsten Abend kamen Scharführer von der Hitlerjugend in das Asyl. Sie bestellten uns zum folgenden Morgen in ihr Büro. Die anderen Asylbewohner sagten, wir sollten von dort aus zum Volkssturm gebracht werden.
Die Nacht in Hamburg war still und friedlich, denn die Alliierten konnten getrost darauf verzichten, ihre Bomben an diesen Trümmerhaufen zu verschwenden. Aber genauso, wie wir es aus Berlin kannten, hatten auch hier die Eisenbahnmonteure nach jedem Luftangriff Gleisanlagen und Stromkabel der Hochbahn ausgebessert. Die Züge fuhren wie Geisterbahnen durch Trümmerfelder.
Wir wollten auf keinen Fall das Büro der Hitlerjugend aufsuchen. Schließlich hätten wir uns bereits im Kinderlandverschickungslager in den Volkssturm schicken lassen können. Nach dem Krieg erfuhren wir, dass die acht Schulkameraden, die das tatsächlich getan hatten, allesamt von den Russen erschossen worden waren. Auch in Berlin hätten wir uns mit Panzerfäusten für den Endsieg ausrüsten lassen können. Oder in Brandenburg. Doch fürs Vaterland kämpfen und sterben, das wollten wir nun mal nicht.
Um fünf Uhr schlichen wir uns aus dem Haus und nahmen den ersten Zug in Richtung Nordosten. Die Strecke endete in Hoisdorf bei Hamburg. Das lag ungefähr in der Richtung, aus der wir gekommen waren. Aber es schien die einzige vernünftige Möglichkeit zu sein, schnell in ein Gebiet zu kommen, wo, so erzählte man uns, die deutschen Truppen kampflos vor den Briten zurückwichen. Unser Entschluss stand jetzt fest: Wir wechseln über die Kampffront in britisch besetztes Gebiet über, wo uns niemand mehr zum Volkssturm schicken will. Ganz gleich, ob der Krieg dann schon beendet sein würde oder nicht.

Von Hoisdorf aus mussten wir erstmalig ein größeres Stück zu Fuß laufen. Auf dem Weg begegneten uns wie erwartet deutsche Truppen. Die Soldaten sagten ganz offen, dass die Tommies nicht weit seien und es für die Deutschen an dieser Front keinen Sinn mehr habe, sich zu verteidigen. Es gab hier anscheinend weder Panzer noch andere schwere Waffen.
Um schneller rückwärts marschieren zu können, entledigten sich die Soldaten manch eines Kommissbrotes, sodass wir wieder über genügend Proviant verfügten, als wir frontwärts liefen. Hinter Trittau, wo wir eine Nacht in einer Jugendherberge verbrachten, begegneten uns deutsche Soldaten nur noch vereinzelt. In einem Dorfkrämerladen setzten wir unsere restlichen Lebensmittelmarken um. In Schwarzenbek, so sagte man uns, seien schon die Engländer. Nach halbstündigem Fußmarsch müssten wir sie erreichen. Schüsse hörten wir nur ganz selten. Sie schienen in entlegenen Gebieten zu fallen.
Ich hatte mein weißes Halstuch in die Hand genommen und hielt es krampfhaft fest, um es notfalls zum Zeichen der Kapitulation wie eine weiße Fahne zu schwenken. Gerd hielt zum gleichen Zweck ein Taschentuch bereit, das allerdings in seiner momentanen Farbgebung eher einer Piratenflagge glich.
Die Ruhe um uns war verdächtig. Wir erwarteten, jeden Augenblick ins Schussfeld eines englischen MG-Nestes zu geraten oder gar das Artilleriefeuer schwerer Haubitzen auf uns zu ziehen. Wir sprachen kein Wort, passierten den Feldweg am Waldrand, ich voran, weil ich das große weiße Tuch besaß. Vor uns sahen wir bereits die Dächer der Häuser von Schwarzenbek.
Plötzlich erreichten wir wieder eine Straße und ehe wir uns auf das Hissen der Kapitulationsfahne besinnen konnten, stand vor uns ein britischer Schützenpanzer. Wir erstarrten und sahen mit offenem Mund auf das Panorama vor unseren Augen. Das Kriegsfahrzeug war von den Schönen des Dorfes umringt. Aus der Einstiegsöffnung des Panzerwagens ragten die Oberkörper von zwei britischen Soldaten, zwischen den Lippen hielten sie Zigaretten, ein friedliches Bild. Allerdings trauten wir uns nicht so nah heran wie die Mädchen, die offenbar ihr Schulenglisch an den Siegern erprobten.

Wir wanderten ein Stück die Straße entlang und überlegten, was wir nun wohl tun könnten. Gerd, dessen Verwandte die ganze Welt zu bevölkern schienen, kramte einen Onkel in Celle aus dem Gedächtnis. Er sollte Ferdinand heißen und eine Frau namens Helene haben.
Auf der Straße kam uns ein Lastauto entgegen, ein britisches Militärfahrzeug. Ein Soldat sprang heraus, lief auf uns zu, sagte etwas, was wir in der Schule nicht gelernt hatten, packte Gerd bei den Handgelenken, fluchte, griff dann nach meinen Händen und hatte offensichtlich gefunden, was er suchte: meine Armbanduhr. Ein billiges Stück zwar, aber ich war ein bisschen stolz darauf, denn mein Vater hatte es mir vor einem Jahr zum Geburtstag geschenkt. „Kaputt“, sagte ich, denn vor Aufregung fiel mir kein englisches Wort ein. Aber der Brite legte die Uhr nebst Arm an sein Ohr, vernahm das Ticken und riss mir das Armband vom Handgelenk.
Auch die nächste Begegnung mit den Briten war unerfreulich. Nunmehr griff man uns amtlich von der Straße und führte uns in eine Art Quartier, wo wir sofort voneinander getrennt wurden. Ein Offizier sprach mich auf Deutsch an: „Woher kommst du?“ „Aus Berlin.“ „Du lügst!“ „Nein, ich komme aus Berlin.“ „Welche Aufgabe hast du?“ „Gar keine.“ „Wohin willst du?“ „Nach Celle.“ „Warum bist du fortgegangen aus Berlin?“ „Aus Angst vor den Russen.“ „Die Russen tun niemandem etwas. Do you speak English?“ „Yes, a little – I learned it at school.“
Nun sprach der Offizier nur noch Englisch. Er fragte nach Sprengstoff. Ich hatte keinen. Er fragte nach Gift. Ich hatte keins. Er fragte nach Aufträgen vom Werwolf. Ich hatte keine. Der Werwolf sollte nach dem Willen der Nazis eine Partisanenorganisation aller deutschen Jugendlichen darstellen. Der Gerd und ich hätten zu diesem Zeitpunkt eher den britischen Offizier als Verbündeten gegen den Werwolf angerufen, als für die Hitlerpartei auch nur mit dem Auge zu blinzeln. Der Herr aus England verhörte den Gerd in gleicher Weise. Er musste wohl die Übereinstimmung der Aussagen festgestellt haben. Dann entließ er uns mit dem freundlichen Ratschlag, für den weiteren Teil unserer Wanderung nur die Hauptstraßen zu benutzen.
Als Gerd und ich schließlich in Lauenburg an der Elbe ankamen – wir konnten in einem deutschen Militärlastauto mitfahren, dessen Insassen hier in die Gefangenschaft marschierten – packte uns die Unruhe, denn wir wollten nun zur anderen Seite des großen Flusses. Um die Wahrheit zu sagen: Mehr der Gerd wollte. Ich hingegen plädierte für einen längeren Aufenthalt, Lauenburg war wie ein Schlaraffenland.
Die Briten schoben alle alten deutschen Autos an den Straßenrand, in den Graben oder sonst wie ins Aus. Unglaublich, was man in den verlassenen Kraftwagen finden konnte. Wolldecken in Mengen. Stiefel, Uniformstücke, die wir allerdings nicht in unsere Unterkunft schleppten, denn die waren aus der Mode. Das Unsinnigste, was wir mitnahmen, war ein Bügeleisen, nagelneu. Aber die Lebensmittel! Kilobüchsen mit Schmelzkäse, mit Wurst. Dosen voller Kunsthonig, Gemüsekonserven, ja eine Kiste voll Kartoffeln. Ich sah mich hier bereits das Ende des Krieges, den Friedensvertrag und die gesamte Schulzeit abwarten.
Wir blieben trotzdem nur eine Nacht, überquerten am nächsten Tag die Elbe und reisten weiter nach Celle.
Dann kapitulierte Deutschland zweimal. Einmal im Westen und einmal, am 8. Mai, in Berlin. Wir hörten Radio – auch den Berliner Rundfunk. Siehe da, es waren noch Sprecher der Nazizeit zu hören – auch Musik von vorher. Das überraschte uns, weil wir gedacht hatten, dass die Sowjets all diese Leute umbringen, einsperren, im mildesten Fall nur absetzen würden. Und dann kamen offizielle Aufrufe aus Berlin an die Adresse der geflüchteten Berliner. Also auch an uns: Wir sollten zurückkommen und unsere Stadt wiederaufbauen. Zunächst haben wir gelacht. Für wie dumm halten die uns eigentlich? Aber dann kam das Heimweh.
Vier Wochen nach unserem Aufbruch aus Berlin packten wir unsere Sachen und fuhren nach Osten. Es war Ende Mai 1945, als wir in Berlin-Schöneweide unsere Familien wiedertrafen.
Gerd und ich blieben enge Freunde, gingen aber unterschiedliche Wege. Gerd machte noch in der sowjetisch besetzten Zone Berlins Abitur und siedelte 1949 in den Westteil der Stadt über, um Philosophie und Publizistik zu studieren. Ich blieb in Schöneweide im Ostteil, machte eine Maurerlehre, wollte Schauspieler werden, begann aber 1949 beim Landessender Potsdam als Jungredakteur für Landwirtschaft. Gerd arbeitete von West-Berlin aus informell für die Organisation Gehlen, den Vorläufer des Bundesnachrichtendienstes. Mich, seinen Freund in Ost-Berlin, warb er als Agenten an. 1951 ging auch ich nach West-Berlin, wurde als Agent alsbald „abgeschaltet“ und wurde nach einigen Zwischenstationen Redakteur der Deutschen Welle, was ich bis zu meiner Pensionierung 1994 blieb. Mit Gerd war ich bis zu seinem Tod 2004 eng befreundet.
Die sechs Wochen, die Gerd und ich rund um das Kriegsende unterwegs waren, habe ich vor allem als großes Abenteuer in Erinnerung – auch wenn einiges davon wirklich gefährlich war. Aber genau das hat uns auf einen Schlag sehr selbstständig gemacht.
Der Autor, Jahrgang 1930, ist der Vater
von taz-Redakteur Bernd Pickert. Ein Gespräch zwischen beiden zu diesem Text hören Sie auf taz.de.
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