: Ein unaufhaltsamer Aufstieg nach ganz unten
Arno Frank begleitet in „Ginsterburg“ deutsche Kleinstädter, die sich nur allzu gerne der Nazi-Herrschaft unterwerfen
Von Klaus Hillenbrand
Das Gift hat sich in die Kleinstadt eingeschlichen. Es breitet sich aus, unter den Kindern, beim Pfarrer, dem Fabrikanten und einem geachteten Mediziner. Das Gift verändert eine geordnet erscheinende kleine Welt. Die einen bringt es um, die anderen laben sich an ihm. Zum Ende hin verschlingt es nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Mauern, das Fachwerk, die Kirchen der Stadt, alles. Dass daran diejenigen die Schuld tragen, die das Gift zuvor versprüht haben, wollen diese nicht erkennen. Das Gift heißt Hass, Ressentiment, Überheblichkeit, Antisemitismus und Nationalismus.
Dieses Gift tropft im neuen Roman von Arno Frank in einer Kleinstadt mit dem fiktiven Namen Ginsterburg, irgendwo in der Mitte Deutschlands gelegen, aus allen Ritzen, ohne seine Wirksamkeit gar zu offensichtlich zu zeigen. Eher kommt es ganz unauffällig daher, geruchlos und unsichtbar. Das Ginsterburg-Epos spielt sich in den Jahren 1935, 1940 und 1945 ab. Dies ist keine Gute-Nacht-Lektüre. Arno Frank verlangt vom Leser eine ordentliche Portion Konzentration. Sein Buch gliedert sich in drei Zeitebenen, diese wiederum zerfallen in einzelne Erzählepisoden, die von den Protagonisten der Geschichte getragen werden. Hört sich kompliziert an, ist es aber nicht.
Die Nazi-Zeit also, immer wieder gerne genutzte Folie deutscher Literaten für Familiendramen, Holocaust und Heldengeschichten. Aber in dieser hier gibt es keine Helden, und die Familien sind zerrissen, auch wenn der äußere Schein stets gewahrt bleibt. Die Stadt Ginsterburg erscheint anfangs so wohl geordnet, mit Bahnhof, Fachwerkhäuschen, Kirche und Fabrikschornsteinen, als sei sie einer Modellbahnanlage entsprungen. Doch das täuscht.
Großartige Zeiten scheinen das zu sein, so glauben es die Gläubigen schon 1935, während die Zweifler das Zweifeln noch nicht aufgegeben haben. Die Mutter Merlin hat noch Reste aus linker Vergangenheit im Kopf, doch beugt sie sich den Vorschlägen der Reichskulturkammer für die in ihrer Buchhandlung anzubietenden Literatur. Ihr Sohn Lothar kann den selbst gefangenen Fisch nicht töten und hält dies für ein schlimmes Defizit. Seine Freundin versichert, dass er das noch lernen werde. Eugen, der Redakteur, weiß um seine einst abgelehnten, aber doch eingesandten Beiträge für die linke Weltbühne. Landauer, der Jude, bringt sich um. Otto, aufgestiegen zum Kreisleiter, findet die Zeiten schon großartig.
Fünf Jahre später sind die Zweifler fast vollständig verstummt, während sich die Gläubigen bestätigt sehen, ist doch die Stadt und ihr Leben noch besser geworden, besonders ihre eigenen Karrieren. Die Menschen haben sich mit den gar nicht mehr so neuen Verhältnissen arrangiert. Sie lieben weiter, gehen arbeiten, manche sind Soldat geworden. Lothar begeistert sich fürs Fliegen (und wird bald darauf zum Kampfpiloten der Luftwaffe, der das Töten jetzt kann). Eugen ist zum Chefredakteur des Ortsblattes aufgestiegen (und weiß, dass die Gestapo weiß, was er einst verfasst hat). Merle denkt nicht mehr so sehr an die alten Zeiten (lieber mehr an Eugen). Die Witwe von Landauer ist fortgezogen. Und Kreisleiter Otto findet die Zeiten noch großartiger.
Arno Frank: „Ginsterburg“. Klett-Cotta Verlag. Stuttgart 2025, 429 Seiten, 26 Euro
Der dritte Teil fällt in das Jahr 1945, erstes Drittel. Jeder Ginsterburger steht, nach zehn Jahren der Gift-Inhalation, auf seinem Posten (mit einer kleinen, aber wichtigen Ausnahme). Sie stehen dort freiwillig, versteht sich. Mehr wird hier nicht verraten.
Zusammengehalten werden die drei Teile von Franks Buch mittels detaillierter Informationen über den Luftkrieg, sei es theoretischer Natur, also der Konstruktion neuer Mordmaschinen, seien es praktische Fragen wie das Überleben an Bord einer abgeschossenen englischen Lancaster. In beiden Fällen geht es also um Leben und Tod, auch wenn der Konstrukteur das nicht so ausdrücken würde. Je häufiger diese Erklärungen werden, desto stärker ahnt man, dass diese Geschichte nicht gut ausgehen kann, nicht für die am Boden, aber auch nicht für die in der Luft. Kann sie auch nicht, die Zerstörung der deutschen Städte im Krieg ist schließlich bis heute für jeden sichtbar, auch ohne zwischenzeitlich geräumte Trümmerhaufen.
Besser gehalten haben sich offenbar die Trümmerhaufen in den Köpfen, wie dem jüngsten Bundestagswahlergebnis zu entnehmen ist. Aber damit verlassen wir Arno Franks großartigen Roman „Ginsterburg“, einem Epos über eine Kleinstadt, dessen Bewohner sich gerne und freiwillig den Nazi-Herrschaften unterwerfen.
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