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Niemand, ich habe Geschenke für dich

Die Musikerin Sophie Hunger erzählt in ihrem Debütroman „Walzer für Niemand“ von zwei Einsamen und ihrer Liebe zu Klängen. Eine wichtige Rolle spielt auch das alemannische Volk der Walser

Etwa vor 1.000 Jahren kamen die Walser aus dem Berner Oberland ins Wallis Foto: Simone Donati/TerraProject/contrasto/laif

Von Nina Hurni

Es beginnt mit dem Ende: Mit dem letzten Ton, der verstummt, und der Erinnerung an die eigene Geburt, die auch eine Trennung ist: „Zum ersten Mal allein.“ Die Erzählerin in „Walzer für Niemand“ mag keine Erzählungen: „Ein schauriges Gefühl erfüllte uns, wenn jemand versuchte, rote Fäden zu spannen, plausible Vergangenheiten und Zukünfte zu konstruieren.“

Wir, das sind die Erzählerin und Niemand, ihr einziger Freund, ihr Begleiter, ihr Spiegelbild. Die beiden leben als Kinder im Spiegel bei Bern, einem Vorort der schweizerischen Hauptstadt. Sie hören Musik auf Langspielplatten, on repeat. Das Wiederholende gefällt ihnen mehr als das Lineare. Viele Ortswechsel folgen, sie bleiben heimatlos, abgeschottet von allen anderen und überschreiben den Atlas des Vaters mit einer Kartografie der Musik: „Unser Heimatland musste sich irgendwo dort befinden.“ Lange bleibt die Erzählung größtenteils im verbindenden „Wir“ – einer ungewöhnlichen, unkonkreten Erzählform, wie man sie beispielsweise von Saša Stanišić kennt. Die gemeinsam einsame Isolation hält an, bis die Erzählerin beginnt, selbst Musik zu machen und sich der Welt zuzuwenden.

Wer Sophie Hunger kennt, weiß, dass „Walzer Für Niemand“ der Titel eines Liedes ist, das 2008 erschien. Schon da war Niemand ein Gegenüber: „Niemand, ich habe Geschenke für dich / Was wäre ich geworden / gäb es dich nicht“. Im Roman ist Hungers Werk omnipräsent: Fast jedes Kapitel trägt den Namen eines Liedes, Songtexte sind in die Geschichte eingewebt und diverse Motive sind als Anspielungen zu verstehen. Hunger zeichnet mit diesem durchaus eigenwilligen Coming-of-Age-Roman eine Spur durch ihr weitläufiges Werk, ohne zu erklären. Alles bleibt poetisch, rätselhaft, absurd.

Sophie Hunger, mit bürgerlichem Namen Emilie Jeanne-Sophie Welti, wuchs teilweise im Spiegel bei Bern auf, zog als Diplomatentochter oft um. Auch als Erwachsene lebte sie mal in Paris, mal in Los Angeles und lange in Berlin. Den Künstlerinnennamen, bestehend aus ihrem zweiten Vornamen und dem Geburtsnamen ihrer Mutter, trägt sie seit dem ersten Album „Sketches on Sea“, welches sie in ihrer Wohnung aufnahm. Es folgten acht Studioalben mit internationalen Erfolgen und Musik für verschiedene Filme. Von Singer-Songwriter-Settings hat sie sich zu elektronischen Sounds in den Alben „Molecules“ und „Halluzinationen“ gewandelt, trotzdem ist ihre Musik unverkennbar: die heisere, fast schon fahrige Stimme, die kryptischen Texte, die Balladen, die in Wahn umschwenken.

Sophie Hunger: „Walzer für Niemand“. Kiepenheuer und Witsch. Köln 2025, 192 Seiten, 22 Euro

Sprachlich heimatlos singt sie auf Schweizerdeutsch, Hochdeutsch, Englisch und Französisch. Und immer wieder taucht ein „Du“ auf: „Komm, und bringe mich ins Wanken / Ich versprech’s, ich werde tanzen / Wenn Du mich brauchst dafür / Ist das die eigne Stimme, die ich hör? / Sag, kam ich Dir je näher / als Du mir?“ Nach der Lektüre des Romans kommt es einem so vor, als wäre Niemand, im Roman oft mit „Du“ angesprochen, in Hungers Musik immer anwesend.

Fast jedes Kapitel trägt den Namen eines Liedes und diverse Motive sind als Anspielungen zu verstehen

Niemand bleibt als Figur ein Rätsel, er ist mit der Erzählerin verschmolzen und doch fremd, abwesend und anwesend. Ein Ideal für die Erzählerin, die in ihrer Musik aufgehen will: „Ich wollte so singen, dass die letzte Note die Wirklichkeit unter sich vergrub. Ich wollte mit dem letzten Ton verschwinden, genauso wie ich mit dem ersten überhaupt erst erfunden worden war.“ Niemand versinkt derweil in obsessiven Nachforschungen über die alemannische Volksgruppe der Walserinnen, von der die Erzählerin abstammt. In den Bergen trotzen die Walserinnen der Kälte, orientieren sich mit Echolotung: „Die Vertreibung aus dem Paradies ist nicht endgültig, man kann dorthin zurückkehren, sagen die Walserinnen.“ Die Forschungsnotizen bilden eine zweite Erzählebene, eine weibliche Genealogie, die an Kim de l’Horizons „Blutbuch“ erinnert. Sie sind aber ebenso als Kommentar zur helvetischen Eigenartigkeit zu lesen und referieren auf Schweizer Bergliteratur und deren Prägung durch Volkslieder.

Als die Beziehung von Niemand und der Erzählerin Risse bekommt, bleibt Musik ihre Sprache: „Das, was wir einander zu sagen scheuten, alles Wissen und Missen, das sich in fünfundzwanzig Jahren Schweigen angesammelt hatte, kroch aus diesen Lautsprecher-Löchern wie Larven aus befallenem Kirschenfleisch.“ Bis es zu einer Katastrophe kommt. Doch Niemand ist nie weg: „Immer bist du hier“, singt Hunger auch schon 2008. Die Geschichte erzählt sich nicht als Linie, sondern als Kreis. Der Roman ist mehr Klang als Text, mehr Rätsel als Erklärung und vor allem: ein sprachlich einzigartiges Werk über Anfänge und Enden und das Wesen der Musik.

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