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Neun Monate lang fliegen, schlafen, jagen, fressen, ohne zu landen, immer in der Luft

„Der Zug der Mauersegler“ berichtet über Zugvögel und ihren Flug über Grenzen, an denen Menschen scheitern. Das Buch bietet Naturewriting mit ganzheitlicher Perspektive

Auf uralten, gefährlichen Wegen fliegt der Mauersegler Richtung Süden Foto: Dieter Mahlke/imago

Von Heike Holdinghausen

Wer Flügel hat und im Wind zu leben versteht, für den ist die Welt gar nicht so groß. Mauersegler können in einer Regenrinne in einem Haus in der Bremer Helgolandstraße ein Nest bauen und dort in den Sommermonaten ein oder mehrere Küken aufziehen. Nimmt Anfang August die Fülle an Blüten und Insekten in der Norddeutschen Tiefebene langsam ab, dann schwingen sie sich in den Himmel, richten sich am Magnetfeld der Erde aus und segeln Richtung Süden. Über Land, Meer, Wüsten, bis nach Liberia vielleicht, oder Tansania. Neun Monate lang fliegen, schlafen, jagen, fressen, ohne zu landen, immer in der Luft. Und dann: Rückkehr.

Imke Müller-Hellmann kann Mauersegler aus dem Fenster ihrer Bremer Wohnung beobachten. Sie lösen Fernweh bei ihr aus, darüber hat sie nun ein Buch geschrieben. „Oft habe ich mich gefragt, wo die Mauersegler meiner Straße hinfliegen“, schreibt sie, „wenn sie Anfang August, von einem Tag auf den anderen, nicht mehr zu sehen und zu hören sind. Wo sie jetzt gerade segeln und über welchem Ort sie wohl kreisen, habe ich an kalten Wintertagen überlegt, welches Stück Regenwald sie das ihre nennen, über das sie in diesem Moment hinwegpesen auf der Jagd nach unzähligen Regenwaldinsekten, während der hiergebliebene Spatz keine müde Mücke mehr fängt.“

Also ist Müller-Hellmann ihnen für ihr Buch „Der Zug der Mauersegler“ nachgegangen, nachgeflogen, gedanklich und buchstäblich. Sie ist hoch hinaufgeklettert unter das Kirchdach in Gehrde, einer kleinen Gemeinde bei Osnabrück. Dort hüten, beobachten, beringen und besendern seit Jahren En­thu­sias­t:in­nen eine Kolonie der kleinen Segler:innen. Ein Schatz für Na­tur­freun­d:in­nen, aber auch für Wis­sen­schaft­le­r:in­nen.

„ ,Woher wissen Sie, wann die Segler kommen?‘, frage ich, während ich mich vom Boden hochrapple und den Staub von den Knien klopfe. Der Doktorand aus Siegen ruft an, sagt sie, wenn der erste Segler in der Talsperre ist, sind sie ein paar Tage später hier.“

Die Autorin besucht Landschaften, Orte, Vögel und Menschen, nicht nur Ornithologen. Wer in der deutschen Kulturlandschaft über Tiere schreibt, berichtet unweigerlich über diejenigen, die sie beobachten, erforschen, ihren Lebensraum zerstören, erhalten oder gar erst schaffen. So weit, so konventionell, das Verhältnis von Mensch und Natur durchzieht das Genre Nature­wri­ting, in dem die Neuerscheinungen in dem Maße zunehmen wie die Zahl der Tiere und Pflanzen abnimmt. Speziell dem Mauersegler haben sich in den vergangenen ­Jahren etliche Au­to­r:in­nen gewidmet.

Aber Müller-Hellmann geht einen Schritt weiter und das Thema ganzheitlich an. Sie fragt: Wenn ich, Mensch, davon schreiben will, wie ich Vögel beobachte, oder wie andere Vögel beobachten – dann muss ich das Fernglas erst mal auf mich selbst richten. „Mein Körper ist nicht jung und nicht alt. Nicht männlich, nicht inter, nicht trans, nicht hetero und nicht schwanger. Nicht Schwarz (zur Schreibweise von „Schwarz“ und „weiß“ siehe Anmerkungen) und nicht of Color. … Er weicht nicht stark von gängigen Normen ab, und alles, was ich erlebe, würde ich anders ­erleben – und ich würde Anderes erleben – wenn er eine der genannten Eigenschaften besäße“, beginnt sie ihr Buch. Um dann immer wieder nachzuforschen, warum sie etwas wahrnimmt oder weiß, ­interessiert oder aufgibt, wer oder was sie beeinflusst, anregt oder irritiert.

Imke Müller-­Hellmann: „Der Zug der Mauersegler. Unterwegs zwischen Kontinenten“. Osburg Verlag, Hamburg 2025, 300 Seiten, 26 Euro

Die Autorin beschreibt, wie sie in ihrem WG-Zimmer in Bremen an ihrem Schreibtisch sitzt und den Weg der Zugvögel von Norddeutschland nach Afrika studiert. Und wie ihre Mitbewohnerin eine Schicht der NGO Alarm-Phone bestreitet, um Menschen zu helfen, die auf umgekehrter Wegstrecke unterwegs sind. Wie diese am Telefon sitzt und Anrufe entgegennimmt von geflüchteten Menschen in Seenot, die diese Nummer auf Zwischenstationen irgendwo auf dem afrikanischen Kontinent erhalten haben.

„Ich mache mir einen Kaffee in der Küche, meine Mitbewohnerin kommt aus dem Arbeitszimmer. Sie sagt: Sie gehen nicht ans Telefon. Ich frage, wer? Die Küstenwachen, Libyen, Malta, Italien und das schon seit Stunden. Da sind einhundert Leute in einem Schlauchboot. Am Abend bricht der Kontakt zum Boot ab. Meine Mitbewohnerin legt sich ins Bett und steht zwei Tage lang nicht wieder auf.“

Im Naturewriting nehmen die Neuerscheinungen in dem Maße zu, in dem die Zahl der Tiere und Pflanzen abnimmt

Präzise umreißt Müller-Hellmann die Ungleichzeitigkeiten ihres Berichtsgebiets: Da sind die Zugvögel, die sich frei zwischen Afrika und Europa hin und her bewegen, auf uralten, aber auch gefährlichen Bahnen – geschätzt die Hälfte aller Vögel, die sich im Spätsommer und im Frühling auf die Reise machen, kommt nicht an. Da sind die Flüchtenden, die auf ebenfalls gefährlichen Wegen von Afrika nach Europa unterwegs sind und an von Menschen gezogenen Grenzen und Zurückweisung scheitern. Und da sind Tourist:innen, die die Strecke bequem reisend überwinden, so wie die Autorin das vorhat – bis die Coronapandemie ausbricht, und sich für fast alle Menschen fast alle Grenzen erst einmal schließen.

Die Mauersegler reisen weiter. Mit großem Respekt tritt die Autorin ihnen gegenüber, und einmal, als sie ganz allein mit ihnen auf dem Kirchdach ist, kommt sie ihnen und damit wir ihr ganz nah: „Liebe Jungvögel alle hier, die ihr in den Kästen hockt und wispert und wartet, …, ihr wisst ja noch gar nicht, was alles Großartiges auf euch zukommt. … Erinnert euch an den Geruch meiner Hände und an meine geflüsterten Worte, als ich euch vorsichtig aus dem Kasten gehobenen habe, um euch einen Ring umzutun, der uns anzeigt, wo ihr zu Hause seid oder zumindest geboren seid, denn ihr braucht diesen Ring nicht, weil ihr zu Hause seid in der Luft.“ Da zeigt sie uns ihre Ehrfurcht vor diesem nahen und doch so fremden Leben vor ihrem Fenster. Es ist eben faszinierend, Vögel zu beobachten, und nichts daran ist harmlos.

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