: 600 Tote in Andischan
AUS NAMANGAN PETER BÖHM
Mindestens 600 Tote soll die Niederschlagung der Unruhen in der usbekischen Stadt Andischan vergangenen Freitag gefordert haben. Dies berichten Augenzeugen; nach offiziellen Angaben wurden 70 Personen getötet. Die Nachrichtenagentur AP zitierte am Sonntag einen Arzt, der im Hof der zentral gelegenen Schule Nummer 15 die Leichen von 500 Menschen gesehen hat. Gulbachichor Turajewa von der regierungsunabhängigen Organisation „Schutz für Ärzte und Kranke“ bestätigt diese Zahl. Laut ihren Angaben waren zudem rund 100 Leichen im Hof des Instituts für technische Konstruktion aufgebahrt. Verwandte konnten sie dort am Samstag abholen.
Die usbekische Regierung vermittelt nicht den Eindruck, als sei sie an einer Aufklärung der Ereignisse interessiert. Am Samstag nahmen die Sicherheitskräfte sieben Journalisten fest, die in Andischan für ausländische Medien berichteten, und verwiesen sie der Stadt.
Glaubt man der usbekischen Regierung, gingen die Sicherheitskräfte am Freitag gegen einen Terroranschlag vor. Präsident Islam Karimow beschuldigte am Samstag auf einer Presskonferenz die verbotene islamistische Gruppe Hizb ut-Tahrir, hinter dem „Anschlag“ zu stecken. Laut seinen Angaben hatte in der Nacht zum Freitag eine Gruppe von Männern eine Armeekaserne und eine Polizeiwache in Andischan überfallen und Waffen erbeutet. Anschließend hätten sie das Hochsicherheitsgefängnis gestürmt und „fast sämtliche Gefangene“ freigelassen. Dann hätten sie sich im Komplex der Regionalverwaltung und zwei Gebäuden der Sicherheitskräfte im Stadtzentrum verschanzt. „Auf dem Weg dorthin nahmen sie mindestens 20 Geiseln, jeden, den sie kriegen konnten“, sagte Karimow weiter. „Dann rief einer der Geiselnehmer seinen Sohn in der Stadt an und sagte: „Wiegle die Leute auf.“ Daraufhin seien Verwandte, alte Leute, Frauen und Kinder zu ihnen gekommen. „Jeweils 300 von ihnen haben sich als menschliche Schilde um die Gebäude herum postiert. Auf dem zentralen Platz war niemand.“ So die offizielle Darstellung.
Medienberichte und Aussagen von Augenzeugen sagen jedoch etwas anderes: Auf dem großen Platz vor der Regionalverwaltung hätten am Mittwoch und Donnerstag mehrere tausend Menschen gegen ein Gerichtsverfahren in der Stadt protestiert und am Freitag gegen die Politik der Regierung.
Karimow sagte auf der Pressekonferenz, die Sicherheitskräfte hätten bis zum frühen Abend mit den Geiselnehmern verhandelt, deren Forderungen seien jedoch unannehmbar gewesen. „Sie verlangten von uns, alle religiösen Gefangenen in Fergahana, Taschkent und anderen Regionen freizulassen“, so der Präsident. Schließlich seien die Sicherheitskräfte mit Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen näher an die besetzten Gebäude herangerückt. Da hätten die Geiselnehmer gemerkt, dass sie keine Chance hatten. „Sie kamen aus den Gebäuden heraus und schossen.“
Auf der Frage eines Journalisten, wer den Sicherheitskräften den Schießbefehl gegeben habe, zuckte Karimow merklich zusammen. „Niemand“, sagte er schließlich. „Auf sie wurde geschossen. Deshalb mussten sie das Feuer eröffnen.“
Zahlreiche Augenzeugenberichte widersprechen jedoch dieser Version. Es seien die Sicherheitskräfte gewesen, die das Feuer eröffnet hätten. Sie hätten schwere Waffen eingesetzt und auf unbewaffnete Demonstranten geschossen.
Inzwischen ist Andischan weiträumig abgeriegelt. Auf allen Zufahrtstraßen sind Straßensperren errichtet, die Einheimische passieren können, nicht aber ausländische Journalisten. „In Andischan ist die Lage noch unruhig. Das ist zu ihrer eigenen Sicherheit“, sagte ein Polizist dem Berichterstatter an einer Straßensperre.
Die Unruhen scheinen sich jedoch auszuweiten. Am Samstag brachten Demonstranten das Verwaltungsgebäude in dem Städtchen Kara-Suu, 50 Kilometer östlich von Andischan direkt an der kirgisischen Grenze, unter ihre Kontrolle. Aus Protest gegen die am Freitag verhängte Grenzschließung steckten Flüchtlinge aus Andischan eine Polizeistation und Autos in Brand. Nach nächtlichen Schüssen blieb es gestern zunächst ruhig. In der Stadt halten sich mehrere hundert Flüchtlinge auf; insgesamt sollen mehrere tausend Menschen in Richtung Grenze geflohen sein. Mit Ausnahme von Kara-Suu blieb die Grenze weiter abgeriegelt. Rund 900 Usbeken, die die Grenze gewaltsam durchbrochen hatten, gelangten am Sonntag in ein Flüchtlingslager in der Region Dschalal-Adab im Südwesten Kirgisiens.