: Im Garten des Menschlichen
Safttriefender Granatapfel und Katzenmensch mit Fledermausflügeln: Hieronymus Boschs saftige Visionen von Sünde und deren Bestrafung werden in Osnabrück zu einem apart designten Musik-Tanz-Film-Theaterabend

Von Jens Fischer
Hinein ins begehbare Panoptikum der fantastischen Schreckenswelt des „Hieronymus B.“, und ja: „B.“ wie Bosch. Eingeladen zu dieser Choreografie hat Nanine Linning, nach 13 Jahren gestaltet sie erstmals wieder in Osnabrück einen Musik-Tanz-Film-Abend mit Bezug zur Bildenden Kunst.
Das Orchester spielt Barockmusik, die eine Auftragskomposition von Michiel Jansen in die Moderne fortschreibt. Das Publikum wandert erstmal in drei Gruppen durchs Theater am Domhof und wogt auf der Bühne hin und her – zwischen belebten Installationen, deren Bildsprache Boschs Weltgerichtsgemälde, vor allem aber seinem „Garten der Lüste“ entstammen, genauer der rechten Seite dieses Triptychons, die purgatorische Peinigung für sündige Menschen illustriert. Aus dem Schlaf der Vernunft geborene Unterweltsvisionen sind es und hatten in Boschs 15./16. Jahrhundert den klaren moralischen Anspruch des erstarkenden Bürgertums, doch bitte gottgefälliger zu leben.
In der tänzerischen Verlebendigung sind Boschs verführerische und bedrohliche Monsterwesen, Fabeltiere, allegorische Chimären und all die weiteren Seltsamkeiten viel eindrücklicher, als sie es in 3-D-Animations-Ausstellungen je waren. Wie von ihm gemalt ist in Osnabrück eine Frau in Harfensaiten wie in einem Foltergerät verstrickt; durch einen Schlüsselring schlängelt ein Akrobat, ein anderer entwindet sich einem Metallgefängnis; zum Würfelspiel animiert ein Kröterich; aus einem messerdurchbohrten Ohr wird eine Frau geboren. Zwischen den Zuschauer:innen tanzen in hautfarbenen Trikots entblößte Menschen mit aufgenähten Gummibrüsten. Alle wirken schmerzgepeinigt, von Qual gekrümmt und von Begehren getrieben. Der räkelige Verlockungsreigen mündet in einen zärtlichen Pas de deux – was wiederum ein aggressives schweinsköpfiges Wesen stört.
Weitere Termine: 30. 4.; 3., 4., 17. + 24. 5., Theater am Domshof, Osnabrück,
Personal und Themen des Pandämoniums sind so mit dem Willen zum immersiven Spektakel vorgestellt. Um sich näher darauf einzulassen, bekommt das Publikum auf der Vorderbühne surreale Videospielereien mit den angetippten Motiven serviert: Ein Typ zermatscht einen safttriefenden Granatapfel, saugt und leckt an dem alten Fruchtbarkeitssymbol herum. Narren haben sich Schiffsrümpfe um die Hüften gebunden und ergehen sich in wilden Hüftstößen. Einem Tänzer steckt ein Pfeil im Anus. Mit erigierter Zunge nähert sich eine Echse einer Frau, die auf ihr davonreitet. Tja, um welches Laster mag es der Choreografin wohl vor allem gehen?
Dass Linning die Antriebsenergie hinter all den aus allzu menschlichen Instinkten, Begierden, Gefühlen als immer noch gültig verdeutlichen will, erklärt sie auf einer weiteren Station der Wanderproduktion mit einem verlesenen Text. Wie in einer klassischen Stückeinführung erläutert sie ihren Zugang zu Bosch und das Inszenierungskonzept. Wozu ein fischiger Ritter mit Todessichel und ein beelzebübisch roter Katzenmensch mit Fledermausflügeln drei Menschendarsteller in die Flucht schlagen. Von einer zeitgemäßen Visualisierung und Ausdeutung der von Bosch gemalten sieben Todsünden kann aber nicht berichtet werden.
Final sitzt das Publikum dann im Saal und bekommt Linning-Kunst in aller Opulenz und Dynamik: Aus dem Wurzelwerk eines knorrigen Baums, dem Thron des Katzenteufels, entwindet sich die verworfene Menscheitsbrut, krabbelt, tobt, kämpft wohl gegen eine drohende Hölle, strebt mit Armen und Beinen aber auch nach Höherem. Himmelsleitern werden herabgelassen, aber die gemarterten Seelen sind zu schlapp für den Aufstieg.

Das jenseitige Licht aus Boschs „Der Aufstieg der Gesegneten“ wird eingeblendet, ein formidabler Erzengel weist den Weg, Chormusik erklingt, so dass die Grenze zum sakralen Kitsch nicht nur gestreift, sondern wohl extra für das katholische Osnabrück auch überschritten wird. Schließlich hocken Adam und Eva in hingebungsvoller Nähe auf einem riesigen Granatapfel und lieben sich. Ach, das Paradies ist schon auf Erden zu finden.
Bei Bosch wirkt die Konfrontation mit den Abgründen menschlicher Ängste und Sehnsüchte im Detail eher erschreckend schmerzhaft. Bei Nanning ist im christlichen Kosmos aus Schuld, Strafe und Sühne al les gleich apart designt. Wie die kraftvoll athletische Choreografie die Tanzkörper nach ihrer triebhaften Ursprünglichkeit suchen lässt, kommt mit bezaubernder Sinnlichkeit daher. Zu schön, um wahr zu sein – jubelnde Zustimmung erntet dieser wundersame Abend.
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