: Niemand kann sagen, wo Europa beginnt und wo es endet
Tomasz Różyckis „Feuerprobe“ ist ein klagender, aber nie anklagender Essay über das, was Europa hätte sein können, aber nie geworden ist
Von Frédéric Valin
Was ist Europa? Dieser Frage geht Tomasz Różycki in seinem Essayband „Feuerprobe“ nach, und folgt man ihm, dann ist Europa vor allem ein Mythos. Allerdings, und das macht die Sache interessant, glaubt Tomasz Różycki an Mythen, an die Macht des Ungefähren und an die Unzuverlässigkeit der Literatur, gerade der Dichtung. Vom polnischen Opole, seiner Heimat, aus macht er sich auf, dieses Europa zu entblättern, von dem niemand punktgenau sagen kann, wo es beginnt und wo es endet.
Bei Różycki hat Europa entsprechend keine politischen oder geografischen Dimensionen, es hat nur ungefähre Grenzen. Diese Grenzen verwischen von Norden nach Süden, von Westen nach Osten, nach oben aber ist diese Grenze definiert: Sie reicht bis zum Mond: Für Różycki ist dieser der Sehnsuchtsort, den die Menschen seit der Antike zu erreichen versuchten, sei es in Versen, in Romanen oder mit dem Teleskop.
Różyckis Erkundung oder vielmehr poetisch-philosophische Umkreisung Europas hat nicht den Anspruch, eine Vision aufzuzeigen; es ist ein Buch der Klage, ohne Anklage zu sein. Minutiös erzählt „Feuerprobe“ von all den Manuskripten, die von Autor*innen oder in Kriegen verbrannt worden sind, und erzählt dadurch auch davon, was Europa hätte sein können. Selbst wenn das Buch von veröffentlichen Texten erzählt, dann in erster Linie von misslungenen Versuchen großer Dichter: Fernando Pessoas staubtrockener Stadtführer für ein modernes Lissabon, Nikolai Gogols Versuch des zweiten Bands der „Toten Seelen“.
Różycki ist ein unzuverlässiger Chronist, immer wieder lässt er seine Leser*innen auch auf moderne Mythen hereinfallen. Papst Gregor IV. zum Beispiel macht er mitverantwortlich für die Verbreitung der Pest im katholischen Europa, weil er – der für die Einsetzung der Inquisition tatsächlich maßgeblich verantwortlich war – in einer Bulle schwarze Katzen als Verkörperung des Teufels bezeichnete; was der Legende nach zu einer Massentötung von Katzen in Europa führte, weswegen sich die Ratten ungehindert ausbreiten konnten, und mit den Ratten und ihrem Ungeziefer die Pest. Es wäre eine schöne Moral: Durch den rücksichtslosen Kampf gegen das Diabolische kommen Tod und Vernichtung zu den Selbstgerechten zurück. Sie stimmt aber historisch nicht; oder nur insofern, als dass Tomasz Różycki durch einen neuen, eigenen Mythos erzählt, woran es zu glauben lohnen könnte.
Tomasz Różycki: „Feuerprobe.Die trügerische Kartographie Europas“. Arco Verlag, Wuppertal 2025, 300 Seiten, 23 Euro
Es ist nicht einfach, diesen Text einzuordnen: Die 130 Fragmente, Beobachtungen und Ideen, die der Autor versammelt hat, sind eher ein gedruckter Zettelkasten als ein einheitlicher Text. Genau das macht die Lektüre aber auch so reizvoll: In den ungefähren Sphären, in denen sich Różycki bewegt, scheint ein historischer Kulturraum Europa als Idee auf, die aber keine politische ist, sondern eine des Gefühls. Am ehesten charakterisiert vielleicht die Bezeichnung des lyrischen Essays dieses Buch, das große Thesen und Würfe scheut und sich fragend und zweifelnd dem Gegenstand nähert, den zu umschreiben es versucht.
Es ist eine traurige Pointe des Textes, dass nach seiner Erstveröffentlichung 2020 Putin die Ukraine überfiel und jenes Europa, das Tomasz Różycki beschreibt, jetzt einer tatsächlichen Feuerprobe unterliegt. Er hat – ohne es unbedingt zu wollen – auch einen Text darüber geschrieben: eine Mahnung daran, was wir und künftige Generationen verlieren, wenn das Feuer sich einsengt.
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