Marlene Dietrich: Wie Marlene „Lola Lola“ und ein Weltstar wurde
Vor 95 Jahren feierte Marlene Dietrich im Gloria-Palast Premiere. Sie wurde auf einen Schlag weltberühmt – dabei verdankt sie die Rolle einem Zufall.
Außerdem galt Heinrich Manns Roman von 1905 als skandalträchtig, weil er viele Wertvorstellungen der wilhelminischen Epoche karikiert hatte. Der sittenstrenge Gymnasiallehrer Professor Dr. Rath knechtet darin seine Schüler seit über 25 Jahren. Dabei ist der Despot im Klassenzimmer ein Doppelmoralist im Leben: Der gefürchtete Gelehrte verfiel einer verruchten Varietésängerin und zerbrach an seiner unglücklichen Liebe.
Heinrich Mann schuf mit dem Roman ein ironisches und tragisches Spiegelbild des Bildungsbürgertums in kaiserlicher Zeit. Das Werk mit dem Untertitel „Das Ende eines Tyrannen“ wurde im Handel zeitweise aber anders benannt: „Der blaue Engel“. Dies wies den weiteren Weg.
Die Ufa verpflichtete ab 1929 viele namhafte Künstler für ihren Film: Der Produzent Erich Pommer war zuvor organisatorischer Kopf des filmischen Meilensteins „Das Cabinet des Dr. Caligari“ von 1919. Die Regie führte Josef von Sternberg, schon lange gefeiert in Hollywood. Das Drehbuch stammte von Carl Zuckmayer, 1925 gewürdigt mit dem Kleist-Preis. Die Musik komponierte Friedrich Hollaender, seit jeher verehrt in der Berliner Kulturszene. Die Namensliste war klangvoll.
Den Lehrertyrannen von Heinrich Mann mimte Emil Jannings. Der Stummfilmstar, der 1929 in den USA mit dem Oscar als „Bester Hauptdarsteller“ ausgezeichnet worden war, ging für „Der blaue Engel“ extra zurück nach Europa.
Nur die dritte Wahl
Die weibliche Hauptrolle war schwieriger zu besetzen: Denn Heinrich Mann wollte für die Rolle der Varietésängerin „Lola Lola“ seine Geliebte Trude Hesterberg – die ihn dazu bewogen hatte, der Verfilmung von „Professor Unrat“ überhaupt zuzustimmen. Doch vergeblich: Regisseur Josef von Sternberg war von ihr nicht angetan. Emil Jannings wiederum war sicher: Anmut und Ausstrahlung, Eleganz und Erotik, Charme und Chic der „Lola Lola“ verkörperte nur eine einzige Schauspielkollegin – und zwar Maly Delschaft.
Delschaft hatte bereits viele Erfolge auf den hauptstädtischen Bühnen gefeiert. Seite an Seite mit Emil Jannings hatte sie auch in Stummfilmen wie „Varieté“ von 1925 überzeugt. Der Zufall wollte jedoch, dass ihr die große Rolle verwehrt blieb: Maly Delschaft war per Telefon nicht zu erreichen, als die Rolle der „Lola Lola“ besetzt werden sollte. Sie war zu Besuch bei ihren Eltern.
Tag um Tag verstrich. Josef von Sternberg ging schließlich in Berlin in die „Zwei Krawatten“-Revue mit Hans Albers. Der bereits berühmte Star wurde für eine Nebenrolle in „Der blaue Engel“ unter Vertrag genommen. Der Regisseur war nach dem Stück aber vor allem von einer noch unbekannten Schauspielerin hingerissen. Ihr Name: Marlene Dietrich.
Josef von Sternberg setzte sie als „Lola Lola“ durch. Und das gegen Widerstand von mehreren Seiten – etwa von den Ufa-Chefs, aber auch von Marlene Dietrich selbst. Sie hielt sich für ungeeignet als Vamp, war erst nach und nach von der Rolle zu überzeugen. Was folgte, wurde Legende.
Triumpf für Dietrich
„Der blaue Engel“ wurde ab dem Herbst 1929 gedreht. Die Arbeit in den Ufa-Ateliers in Neubabelsberg war bereits im Januar 1930 abgeschlossen. Premiere wurde am 1. April 1930 gefeiert. Schauplatz war der „Gloria-Palast“ im „Romanischen Haus“.
Das Lichtspielhaus direkt neben der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in Charlottenburg hatte erst vier Jahre zuvor eröffnet und war eines der edelsten Kinos in ganz Berlin: Leuchtreklamen über dem Kurfürstendamm, Treppenstufen aus Marmor unter kristallenen Kronleuchtern, Seidenvorhänge auf weiten Wandelgängen, dazu ein verspiegelter Wintergarten. Der neobarocke Vorstellungssaal bot 1.200 Sitzplätze.
Die Vorstellung von „Der blaue Engel“ wurde zum Triumph – nicht so sehr für Emil Jannings, sondern vielmehr für Marlene Dietrich. „Lola Lola“ betörte Professor Rath und die Kinogäste in Zylinder, seidenen Strümpfen und hochhackigen Pumps.
Der Auftritt, der sie in die Handlung einführte, wurde eine der bekanntesten Filmszenen des 20. Jahrhunderts. Auch die Lieder von Friedrich Hollaender sang sie mit ungeahnter Brillanz: „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ ging bald um die Welt. Das Premierenpublikum bejubelte Marlene Dietrich in einem kaum endenden Beifallssturm. „Unter Vertrag nehmen!“, telegraphierte ein begeisterter Vertreter von Paramount Pictures an seine Bosse in Hollywood.
Gang nach Hollywood
Marie Magdalene „Marlene“ Dietrich, Mimin und Mythos, Stilikone und Sexsymbol. Ihr Stern war über Nacht aufgegangen – in ihrer Heimat Berlin. Sie wagte nun den Weg in die Vereinigten Staaten von Amerika. Die Abreise erfolgte bereits am Tag nach der Premiere von „Der blaue Engel“. Film um Film spielte sie unter der Regie von Josef von Sternberg. Der Ruhm mehrte sich.
Hollywood hatte sie gelockt. Dies aber taten bald auch die Nazis. Das NS-Regime etablierte sich 1933 in ihrer alten Heimat. Marlene Dietrich jedoch weigerte sich, ihre Schauspielkunst in den Dienst des Nationalsozialismus zu stellen. Sie widerstand sogar dem Angebot von NS-Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der ihr 1936 die außerordentlich hohe Summe von 200.000 Reichsmark für jeden Film bot, den sie im Deutschen Reich drehen würde.
Die Bewunderung von Adolf Hitler wurde ihr zugesichert – und freie Wahl des Stoffes, der Produktionsfirma und der Regie für alle erhofften Filme. Marlene Dietrich lehnte ab. 1937 besuchte sie das Deutsche Reich zum letzten Mal. Sie wiederholte ihre Weigerung gegenüber den Nazis.
Stattdessen spielte sie in Filmen unter der Regie von Alfred Hitchcock, Billy Wilder und Orson Welles. 1939 wurde sie Staatsbürgerin der USA – und Captain des US-Militärs im Zweiten Weltkrieg. Sie trat in der Truppenbetreuung vor amerikanischen Soldaten auf – und vor deutschen Kriegsgefangenen. In einer Rundfunkrede im September 1944 appellierte Marlene Dietrich an deutsche Soldaten: „Jungs, opfert euch nicht“ und sagte: „Hitler ist ein Idiot.“ In der NS-Propaganda wurde sie schon lange als „Ami-Hure“ angefeindet.
Während Marlene Dietrichs Stern stieg, spielte Maly Delschaft während der NS-Zeit an verschiedenen Berliner Theatern und hatte auch mehrere Filmrollen. Außerdem spielte sie für die deutsche Truppenbetreuung im besetzten Frankreich. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs hatte sie vor allem Nebenrollen in DEFA-Filmen. Sie arbeitete in Ost-Berlin und lebte in West-Berlin. 1961 setzte der Mauerbau ihrer Karriere ein jähes Ende.
Erinnerung an Delschaft
1970 wurde sie für ihr Lebenswerk mit dem „Filmband in Gold“ ausgezeichnet. Sie starb 1995. Die Rolle, die ihr verwehrt geblieben war, begleitete sie bis zuletzt. Auf der Gedenktafel am Kaiserdamm 89, ihrem einstigen Wohnhaus, steht: „In ‚Der blaue Engel‘, der Marlene Dietrich weltberühmt machte, sollte sie zunächst spielen.“ Sie galt als „Marlene vor der Marlene“.
Gedenktafeln gibt es in Berlin auch für den Produzenten Erich Pommer und den Musiker Friedrich Hollaender. Sie erinnern an die Bedeutung des Werks für beide Lebenswege, die untrennbar mit „Der blaue Engel“ verbunden waren. Der Filmtitel und ein Porträt von Marlene Dietrich finden sich zudem an ihrem Geburtshaus in der Leberstraße 65 in Schöneberg.
Dort, wo der Film uraufgeführt wurde, gibt es allerdings keine Erinnerung an „Der blaue Engel“. Das „Romanische Haus“ wurde am Abend des 22. November 1943 bei einem britischen Luftangriff zerbombt, ebenso wie die Gedächtniskirche. Das Kino wurde in den 50er Jahren in Sichtweite vom einstigen Standort wieder errichtet.
„Gloria Berlin“ heißt der Bürokomplex, der sich heute am Kurfürstendamm 12–15 erhebt. In einem Konferenzsaal und einer Lounge wird an die filmische Vergangenheit erinnert. Der Eingang zum ersten „Gloria-Palast“ jedoch hatte sich knapp 200 Meter entfernt befunden – exakt dort, wo ab 1959 der Neubau des benachbarten Gotteshauses erfolgte.
Die Geschichte des „Gloria-Palasts“ und das Leben von Marlene Dietrich sind an der Gedächtniskirche nicht dokumentiert. Ein Anlass dafür bietet sich im kommenden Jahr: Am 27. Dezember ist der 125. Geburtstag von Marlene Dietrich. Eine Gedenktafel wäre sicher nicht das schlechteste Geschenk.
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