: Neues Wissen, neue Rätsel
Geschichte ist nie auserzählt: Das Osnabrücker Felix-Nussbaum-Haus hat drei zuvor unbekannte Gemälde Felka Plateks, der Frau des Namensstifters, geschenkt bekommen. Sie bescheren dem nun viel Arbeit – und eine Chance

Von Harff-Peter Schönherr
Die Vergangenheit konfrontiert uns immer wieder mit Rätseln: Fragen sind offen. Vermutungen stehen im Raum. Man wartet ab, man sucht, man hofft, dass die weißen Flecken auf der Landkarte unserer Erinnerung schwinden. Bei einem dieser weißen Flecken ist das jetzt geschehen. Und die neue Geschichte, die das Felix-Nussbaum-Haus im Museumsquartier Osnabrück (MQ4) nun erzählen kann, ist eine Geschichte eindrucksvoller Zivilcourage – umso vorbildhafter für unsere Gegenwart.
Das Haus, gewidmet Felix Nussbaum, einem jüdischen Maler der Neuen Sachlichkeit, 1944 im KZ Auschwitz-Birkenau ermordet, ist mit neuen Fakten konfrontiert: zu Nussbaum selbst und zu seiner Ehefrau Felka Platek (1899–1944), auch sie Künstlerin. Diese neuen Fakten komplettieren das vielleicht zentrale Narrativ des Hauses. Wichtiger noch: Sie korrigieren es.
Auslöser ist eine Schenkung. Drei bislang unbekannte Arbeiten Piateks hat das Nussbaum-Haus erhalten, sie stammen aus dem Besitz von Maryvonne Collot, einer Nachfahrin der Brüsseler Familie Giboux-Collot. Die hatte Nussbaum und Platek geholfen, als das Paar sich in Belgien vor der NS-Verfolgung verbarg. 1943 entstanden, zeigen die Gemälde Augustine Collot und ihre Kinder Albert und Yvonne Giboux; es sind Porträts von Unterstützern.
Aber das Nussbaum-Haus verdankt der Schenkerin weit mehr: ihre Familienerinnerungen. Die füllen Wissenslücken auf, zum Leben Plateks und Nussbaums im Exil, ihren Brüsseler Aufenthaltssorten und Ausweichquartieren, der Entstehung der Hauptwerke Nussbaums in den Jahren 1943/44, die den Holocaust anklagten.
Nussbaum, das wissen wir jetzt, hat bei Familie Giboux-Collot, Rue Général Gratry 23, Brüssel, nicht nur ein Kellerversteck zum Malen gehabt, fernab seiner eigentlichen Wohnung in der Rue Archimède 22. Der Keller war ein Souterrain, Nussbaum und Platek haben dort auch gelebt, und eine enge Freundschaft zwischen den Versteckten und ihren mutigen Helfern entstand.
Mehr noch: Collot hat dem MQ4 Fotos überlassen, die zeigen, dass Nussbaums Bilder in den 1960ern in Giboux-Collots Wohnung hingen – die Familie bewahrte sehr aktiv das Andenken an ihre jüdischen Freunde, die beide in Auschwitz starben. „Das sind ganz neue Erkenntnisse“, freut sich Anne Schwetter, Nussbaum-Kuratorin des MQ4. „Das verschafft der Forschung wichtige Ansätze.“ Direktor Nils-Arne Kässens spricht gar von einer „Sensation“, einem „Wendepunkt in der Erforschung der letzten Lebensjahre von Nussbaum und Platek“.
Maryvonne Collot, Schenkerin, über den Zufallsfund in einer Garage
Anfang der 1970er-Jahre waren die Arbeiten Nussbaums und Plateks plötzlich aus der Rue Général Gratry 23 verschwunden, erinnert sich Maryvonne Collot: Der Kunsthändler Willy Billestraet, Besitzer des Hauses und mit Yvonne Giboux liiert, der Tochter von Augustine Collot und Schwester von Albert Giboux, verkauft sie zwischen 1975 und 1984 an das Museum der Stadt Osnabrück: Rund 130 Arbeiten wechselten den Besitzer, in mehreren Konvoluten, für insgesamt „grob geschätzt, überschlagen“ rund 340.000 DM, so Schwetter zur taz.
Hier beginnt das Problem: Billestraets Rolle ist dubios. Sie trägt Züge eines Kriminalfalls, von Selbstüberhöhung, von Geschichtsfälschung. Nicht nur, dass er Maryvonne Collot zufolge der Familie Giboux-Collot 1971 sagte, er wolle die Werke dem deutschen Museum schenken. Nein, in Osnabrück wiederum erweckt er den Eindruck, unmittelbar am Schutz des Künstlerpaares beteiligt gewesen zu sein. „Billestraet hat teils widersprüchliche Aussagen getätigt“, sagt die Kuratorin. „Mal sagte er, er persönlich habe Nussbaum und Platek mit dem Lebensnotwendigen versorgt, mal dass ‚wir‘ für ihn eingekauft hätten – mit ‚wir‘ meint er seine Familie, die er niemals namentlich erwähnt.“
Das ist jetzt revidiert. Richtig sei nach ihrem Wissen, so Schwetter: Billestraet gehörte zwar das Haus Rue Général Gratry 23, aber gewohnt hat in der Wohnung Familie Giboux-Collot. „Es waren also Augustine Collot und ihr Sohn Albert mit seiner Frau Lydie, die Nussbaum und Platek versteckten und das Risiko auf sich genommen hatten.“ In Osnabrück wurde Billestraet damals aber offenbar ungeprüft geglaubt. Und es sei natürlich möglich, so Schwetter, „dass Billestraet die Familie besuchte und so Kontakt zu Nussbaum und Platek hatte“.

Maryvonne Collots Schenkung ergänzt fortan die bislang rund 35 Arbeiten umfassende Platek-Sammung des MQ4. Die drei Porträts zeigen die wahren Unterstützer des verfolgten und später ermordeten Künstlerpaars. Abenteuerlich auch, wie sie den Tiefen der Vergangenheit entstiegen sind: Maryvonne Collot sagt, sie habe die Bilder 2023 per Zufall in einer Garage gefunden, eingewickelt in braunes Papier. „Als ich es ausgepackt habe, habe ich sofort erkannt, was das war!“
Auf das MQ4 kommt jetzt viel Arbeit zu. Denn das neue Wissen ruft nach Vertiefung, auch Verifizierung. Unter anderem zu der Frage: Ist Osnabrück damals sorgsam genug mit seiner Erinnerungskultur umgegangen? Dem Haus liefert das neues Erzählmaterial; eine geradezu detektivische Spurensuche in alle Richtungen.
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