: Auratische Momente
BUCHMESSERN Menschheitsprojekt Herrndorf: ein Spaziergang zum Abschluss der Buchmesse
Am Buchmessenwochenende war dann das Wetter so schön, voller Atemzüge eines Frühlingstages. Also ist man – während der Buchbetrieb auf dem Messegelände noch einmal alles gab, 2.780 Autoren bei 2.600 Veranstaltungen und mindestens 160.000 Besucher – einen anderen Weg gegangen. Quer durch Leipzig Richtung Deutsche Nationalgalerie, wo gerade eben eine neue Dauerausstellung zur Geschichte der Sprache und des Buchs eröffnet wurde.
Auf dem Weg noch Buchmessengedanken. Wie man es leider immer wieder knapp nicht geschafft hat, zu einer Lesung von Frank Schulz zu gehen, ja Frank Schulz überhaupt vollkommen verpasst hat. Schade. Wie Christian Kracht, den man dafür immer und überall gesehen hat, nicht der richtige Ersatz war. Wie großartig es aber war zu sehen, wie respektvoll Péter Nádas und seine Übersetzerin Christina Viragh miteinander umgegangen sind. Und dann auch, wie stolz und abgekämpft manche Jurymitglieder ausgesehen haben. Aus solchen Eindrücken setzt sich halt eine Messe zusammen.
Es soll bei den Jurysitzungen viel diskutiert worden sein. Dass sich eine Jury unter dem Vorsitz der betriebsnahen Literaturkritikerin Verena Auffermann beim Leipziger Buchpreis für einen so betriebsfernen Autor wie Wolfgang Herrndorf entschied, war ja auch so nicht unbedingt zu erwarten, auch wenn hinterher alle sagten, das sei doch eh klar gewesen (war es aber wirklich nicht!). Wie sich dann aber noch lange nach der Verleihung alle Messebesucher immer gleich die Köpfe heißredeten und man sich selbst so freute, weil es dabei vor allem darum ging, ob „Tschick“ und „Sand“ wirklich so gute Romane sind – und eben nicht darum, ob das Thema wichtig ist, wie bei dem Angestelltenroman mit dem langen Titel von Thomas von Steinaecker, der bis zum Schluss Herrndorfs wichtigster Gegenkandidat war. Herrndorf wird wirklich mit literarischen Argumenten verteidigt: Stil, Schönheit, Gewitztheit im literarischen Spiel.
So ging es im Kopf herum. Dann war man bei der Nationalbibliothek. Ein irres Bauwerk. Bismarck, Gutenberg, Goethe über dem Haupteingang zum historischen Gebäude in all seiner Pracht. Eine Kathedrale der Bildung, die Schwere gut aufgefangen durch Details und einen modernen Anbau.
Die Ausstellung zeigt genau das, was man erwartet: Hieroglyphenschrift, Faksimile der Gutenbergbibel (das Original im Besitz der Nationalbibliothek liegt noch – Kriegsfolge – in Moskau), schöne Ledereinbände, Buchhändler aus dem 19. Jahrhundert mit würdigen Gesichtern, pädagogische Zeichnungen von Kindermädchen, die so vertieft ins Lesen sind, dass sie das aus dem Kinderwagen gefallene Baby nicht bemerken, moderne Cover und Typografien. Ein Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Bücher und des Lesens.
Bänkelsänger und Burnout
Auch wenn alles ein bisschen absehbar ist, die Ausstellung lohnt allein schon deshalb, weil man die aktuellen Aufgeregtheiten gut historisch einordnen kann. Wer etwa den Kupferstich eines historischen Bänkelsängers sieht, der bis ins 19. Jahrhundert auf Jahrmärkten und Messen Druckerzeugnisse verkaufte und seine Botschaft in einem Liedvortrag zusammenfasste, schaut auf das, was manchmal heute unter „Debatte“ läuft, etwas cooler: Was früher sittliche Moritaten waren, sind heute halt zum Beispiel die Erfahrungsberichte über Burn-outs.
Das soll gar nicht despektierlich klingen. Eher im Gegenteil. Der Besuch dieser Ausstellung ruft einem wieder ins Gedächtnis, dass hinter allen Büchern menschliche Vorhaben und menschliche Leidenschaften stecken. Der Trubel und das Aufgeregte der Messe selbst macht es einem ja manchmal schwer, das zu würdigen. Wie Wiebke Porombka in der FAZ richtig anmerkte, werden Messen und Literaturfestivals nur noch durch Zahlen gerechtfertigt: durch die pure Masse ihrer Besucher. In der Ausstellung kann man sich dagegen auratische Momente zurückholen – auch wenn immer behauptet wird, dass es keine Aura mehr gibt. Jedenfalls bekommt man einen Eindruck davon, was für ein Menschheitsprojekt das Lesen ist und damit auch hinter so einer Messe steht. Und das ist dann doch ein guter Messeausklang. DIRK KNIPPHALS