: Es ist doch nicht alles schlecht
Kaffee ja, Stützstrümpfe nein. Warum es sich in der Uckermark zu überleben lohnt
Deutschland geht es signifikant besser als nach der Niederlage. Man bedenke nur die in den letzten Jahrzehnten immens verbesserte Zahnhygiene! Hitler noch putzte sich lediglich „morgens“, also gegen 13 Uhr, die Zähne, und das auch nur nach schelmischer Ermahnung durch seine Sekretärin Traudl Junge – „damit Sie auch morgen noch kräftig zubeißen können, mein Führer“. Seine Umgebung litt unter des Führers Mundgeruch, dem so genannten Vegetarieratem. Zuweilen vergessen wir eben, dass wir auch manchmal Stolz auf das bereits Erreichte und Errungene empfinden dürfen.
Beispielsweise hat sich im neuesten Stern-Ranking die Uckermark – ein schwach besiedeltes, landschaftlich nicht einmal abstoßendes, an Polen grenzendes Areal nordöstlich der Hauptstadt – abermals als ein in allen Kriterien verlorenes Gebiet erwiesen. Man verdient hier nichts, bekommt aber dies und jenes, ist nachhaltig arbeitslos und hofft für die nächsten zehn bis 15 Jahre nicht auf Besserung. Eigentlich müsste man einer Bevölkerung begegnen, die sichtlich vorgealtert ist und die Zahnhygiene vernachlässigt. Beides trifft natürlich zu. Dennoch geben „die Uckermärker“, wie sie von der Volkstumsabteilung ihrer Regierung in Potsdam als Zeichen dafür, dass es sich um einen urigen, eigenbrötlerischen Stamm handelt, genannt werden, auf Stern-Befragen vor, mindestes ebenso gern in der Uckermark zu leben wie die wohlständigen, weltläufigen Bürger von Köln daselbst! Für Menschen, die sich auf ein Durchschnittsalter von 60 geeinigt haben, gibt es keine Fluchtgründe mehr.
Wie intensiv sie vielmehr an einem Überleben zumindest bis Weihnachten festhalten, belegen empirische Stichproben im „Kaufland“ Eberswalde, Kreis Barnim – die Uckermark und der Barnim sind im Stern-Ranking zu einem Elendsdistrikt zusammengefasst. Dort fand sich in der vorigen Woche am Kaffeeregal bei der ostdeutschen Traditionsmarke „Rondo-Melange“ (das Pfund zu 2,19 Euro) – übrigens ein Produkt, dem „kandierte Bohnen“ zugesetzt sind – der Tagesbefehl an die Kunden: „Nur 12 Pakete pro Person“. Zwölf Pakete – also sechs Kilogramm! Wer sich mit sechs Kilogramm echten Bohnenkaffees verproviantiert, kann nicht fürchten, dass er das Wahljahr 2006 nicht mehr erleben könnte.
Seitdem strenge Rationierung herrscht, spielen sich im Kassenbereich fürchterliche Szenen ab, wie man sie seit Abschaffung der Lebensmittelmarken hierzulande nicht mehr gesehen hat. Noch in den Dörfern vorhandene Kinder werden missbräuchlich mehrmals in den Laden geschickt, mit abgezähltem Geld in der Faust. Familienväter leihen sich Kleintransporter, aus denen zahlreiche Frauen ausschwärmen, zum Teil mit Gehhilfen versehen. Eine Kundin, die beim Überschreiten der Mengenbegrenzung erwischt wurde, weil sie beim zweiten Mal auffällig „als Muslimin“ vermummt an der Kasse erschien, beteuerte, bettlägerig zu sein. Ein Kunde forderte für einstige Kämpfer gegen die einstige Diktatur des Proletariats eine Zusatzration und die Einrichtung einer Sonderkasse ein. Es kommt bereits zu Gerüchtebildung – Mitbürger wollen von Scheunen wissen, die bis zum First mit Kaffee gefüllt sind –, Spekulationsaufkäufen und Naturalienhandel: ein Pfund „Rondo-Melanche“ gegen ein Kilogramm Spargel „aus der Gegend um Beelitz“. Inzwischen sind „die Hamsterkäufer“, wie man sie nach der Niederlage im Weltkrieg nannte, auf Jakobs-Kaffee ausgewichen, der seit dieser Woche folgerichtig auch rationiert ist. Die Post registriert verstärktes Paketaufkommen, das offensichtlich Kaffee enthält, den die Uckermärker zu Verwandten in ganz Deutschland verschicken.
Dass dieses Käuferverhalten auch auf Stützstrümpfe übergreifen könnte, ist indes nicht zu erwarten. Denn im Unterschied zu Stützstrümpfen galt Bohnenkaffee in der DDR immer als ein Zeichen westlichen Wohlstands und freiheitlicher Gesinnung und wurde, als das Regime den Kaffee mit Zichorie zu strecken begann, von der Arbeiterklasse oftmals inniger vermisst als die Reisefreiheit. Es lohnt sich also, einmal im Getriebe der Zeit sinnend innezuhalten: Heute kann sich jeder Ostdeutsche so viel Kaffee leisten, wie er möchte. Selbst bei einer zwischenzeitlich notwendig werdenden Rationierung ist die Menge pro Kopf so großzügig bemessen, dass vor einer individuellen Überdosierung – Ohrensausen, Herzrasen – gewarnt werden müsste. Das trifft, wenngleich ohne die Gefahr von Nebenwirkungen, gleichförmig auf Ananas und Gummibärchen zu. Kein Wunder also, dass die Uckermärker gern in ihrer Heimat leben bleiben.
Den Bogen zur Zahnhygiene und/oder zu den brasilianischen Plantagenarbeitern zu spannen, wäre nunmehr ein Leichtes und sei dem Leser überlassen.
MATHIAS WEDEL