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Archiv-Artikel

Universitäten scheuen die Macht

Ab dem kommenden Wintersemester dürfen die Hochschulen in den harten Numerus-clausus-Fächern 60 Prozent der Studierenden selbst auswählen. Eigentlich. Aber die Hochschulen können mit ihren neuen Rechten wenig anfangen. Schließlich ist die Selbstauswahl mit viel Arbeit verbunden

VON MADLEN OTTENSCHLÄGER

Die Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen macht Träume wahr. Von Dortmund aus verschickt sie quer durch die Republik Studienbewerber an Hochschulen. Manchmal zerstört sie auch Träume. Den von der eigenen Arztpraxis etwa. Oder vom Studium an der Lieblings-Universität. Geprüft wird nach Abiturnote und Wartezeit. Wer nicht fleißig genug war, bekommt keinen Studienplatz. Im besseren Fall sitzt man in einem Hörsaal hunderte Kilometer vom Wunschort entfernt.

Das sollte sich mit dem siebten Hochschulrahmengesetz ändern. Ab dem kommenden Wintersemester könnten die Hochschulen 60 Prozent ihrer Studierenden in den bundesweit zulassungsbeschränkten Fächern wie Medizin und Psychologie selbst auswählen. Das aber ist den meisten Universitäten egal. Knapp zwei Drittel verzichten auf die neue Freiheit und schieben die Macht zurück an die Behörde. Sie lassen die Studierenden weiter von der Dortmunder Zentralstelle für sich herauspicken – nach Abiturdurchschnitt.

„Ich halte nichts vom Machtverzicht der Universitäten“, sagt dagegen Gunter Schanz, Sprecher des baden-württembergischen Wissenschaftsministeriums. Im Ländle werden die Hochschulen per Gesetz zur eigenen Auswahl gezwungen. Mindestens ein weiteres Kriterium müssen sie neben dem Notendurchschnitt beachten. „Für die Hochschulen sind Auswahlverfahren ein Gewinn, sie bekommen besser geeignete Studierende“, begründet Schanz die Pflicht. Das rechtfertige die zusätzliche Arbeit, die persönliche Gespräche oder Testverfahren machen.

Heyo K. Kroemer, Dekan der medizinischen Fakultät der Uni Greifswald, freut sich geradezu über die Mehrarbeit. Wer in Greifswald Medizin studieren möchte, dem werden berufspraktische Erfahrungen positiv angerechnet. Einen Teil der Studieninteressierten löchern später Professoren in Auswahlgesprächen. Kroemer will dann zum Beispiel wissen, ob der Bewerber die Schwerpunkte der Fakultät kennt. Oder ob die Universität im Osten nicht nur eine Notlösung ist, weil es beispielsweise im hippen Berlin nicht geklappt hat. Das war lange Jahre ein Problem der Uni: zu viele StudentInnen, die von der Zentralstelle für die Vergabe von Studienplätzen (ZVS) nach Greifswald geschickt wurden und sich nur aus Mangel an Alternativen einschrieben.

Kroemer träumt nun vom Aus für die Zentralstelle. Alle Studierenden selbst auswählen – das ist seine Vision. Doch die Macht der Behörde bröckelt nur. Zwar wählt sie künftig nur noch 40 Prozent der Studierenden aus, je 20 Prozent der Plätze gehen an die Abiturbesten oder werden nach Wartezeit vergeben. Als Vermittlungsstelle bleibt sie aber das Nadelöhr im Kampf um den Studienplatz. Und für viele Studienbewerber die letzte Instanz.

Auch die Universität Bremen überlässt die Auswahl ihrer Psychologie-Studierenden weiterhin der Zentralbehörde in Dortmund. „Die Bewerber haben sich an den Schulen bewiesen, das wollen wir gar nicht in Frage stellen“, lobt Christina Vocke die Aussagekraft der Abiturnote. Als einziges Kriterium reicht Vocke das Abitur aber doch wieder nicht. Die Zahl der Studienabbrecher und -wechsler sei zu hoch und meist scheiterten die Abiturienten an falschen Vorstellungen, erzählt sie. Psychologie-Erstsemestler warteten auf die Couch und sitzen stattdessen in der Matheklausur. Vielleicht doch ein Grund, sich die Mühe eines Auswahlgesprächs zu machen? Und weniger Abbrecher zu produzieren?

„Ein Schlauberger mit einem Einser-Abi bringt uns nichts, wenn er sich nicht für das Gesamtpaket interessiert“, sagt Achim Fischer von der Uni Mannheim. Die Hochschule im Südwesten der Republik hält sowohl berufspraktische Erfahrungen als auch gewichtete Einzelnoten für einen besseren Interessen-Indikator als die 08/15-Methode Abiturdurchschnitt, um engagierte Studienbewerber ausfindig zu machen.

Andere Hochschulen lieben’s da bequemer. Hamburg, Aachen und Kiel üben Machtverzicht. Zu gering sei die Vorlaufzeit gewesen, berichten die zuständigen Mitarbeiter, um eigene Auswahlverfahren zu entwickeln. Selbst die Ludwig-Maximilians-Universität in München, Elitekandidat unter deutschen Unis, beschränkt sich auf die Beobachtung der Konkurrenz. Läuft’s dort gut, soll neu nachgedacht werden.

Dabei gibt es schon heute zahlreiche positive Erfahrungen. Die private Universität Witten/Herdecke und die European School of Business in Reutlingen testen seit Jahren die Fähigkeiten und Motivation der Studienbewerber. Die TU in München wählt in 20 Fächern die StudentInnen mit „Eignungsfeststellungsverfahren“ aus.

Teil des Prozederes ist häufig ein persönliches Gespräch, bei dem neben ProfessorInnen auch StudentInnen anwesend sind. „Es ist keine Prüfung, vielmehr sollen die Kandidaten zeigen, was sie neben dem Abiturzeugnis an sozialer Kompetenz zu bieten haben“, sagt Dieter Heinrichsen, Sprecher der TU München. Um Softskills also geht es, aber auch darum, die Persönlichkeit hinter den Zensuren zu finden. Wer jahrelang den kranken Vater gepflegt oder auf dem Bauernhof geholfen hat, hatte vielleicht weniger Zeit fürs Schul-Lernen; im Zeugnis allerdings steht davon nichts.

Sehr gute Erfahrungen mit der persönlichen Auswahl hat auch die Uni Bonn – und sich in den harten NC-Fächern trotzdem dagegen entschieden. An die 6.000 Bewerbungen erwartet die Uni allein für den Studiengang Medizin. „Das können wir weder personell noch zeitlich stemmen“, sagt Sprecher Andreas Archut. Bund und Länder nämlich geben keinen Euro zusätzlich, Zentralstelle heißt auch hier die Lösung.

Den Fluchtweg ZVS verstellt in Baden-Württemberg das Landeshochschulgesetz. Die meisten Studienanfänger punkten im Ländle mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Denn die Universitäten mit hartem NC-Fach, Freiburg, Heidelberg, Ulm, Konstanz, Stuttgart und Karlsruhe, haben sich neben der Abinote für dieses Kriterium entschieden. Die Uni Tübingen berät noch. Ob das Verfahren bis zum ZVS-Bewerbungsschluss (Kasten) feststeht, ist offen.

„Wir haben ein machbares Verfahren gesucht“, erklärt Andreas Barz von der Uni Heidelberg die Entscheidung für das Kriterium Berufsausbildung. Die Zeit war knapp, die Bewerberzahlen sind enorm. Und doch denkt man auch hier über eine persönlichere Auswahl nach, Motivationsschreiben beispielsweise. Im Fach Molekulare Biotechnologie hat die Uni damit sehr gute Erfahrungen gemacht: „Die Studierenden sind zufriedener und motivierter“, sagt Barz. Der erste Schritt, um Traum und Albtraum des Studienfachs voneinander unterscheiden zu lernen.