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Die Szene fühlt sich stark

Der Brandenburger Verein Opferspektive verzeichnet für 2024 einen deutlichen Anstieg von Fällen rechtsextrem motivierter Gewalt

Aus Potsdam Claudius Prößer

„In einer Kleinstadt in Brandenburg ist eine Familie mit zwei kleinen Kindern seit inzwischen drei Jahren regelmäßig dem Terror eines Nachbarn ausgesetzt. Immer wieder polterte dieser nachts gegen Wände und Türen, drehte laute Musik auf oder erfand Gesänge, in denen er der Familie den Tod wünschte.

Die Kinder sind verängstigt, der Gesundheitszustand eines Elternteils hat sich aufgrund der enormen psychischen Belastung erheblich verschlechtert. Seit Monaten ist die Familie gezwungen, den Lärm und die rassistischen Beleidigungen nachzuweisen. Durch ihre immense Kraftanstrengung gelang es, eine Kündigung des Nachbarn zu erwirken. Bis zu einer eventuellen Durchsetzung selbiger hält der Terror aber weiter an.“

Dieser Fall ist nur einer von vielen, den der Brandenburger Verein Opferperspektive am Freitag in Potsdam bei seiner Bilanz rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt im Jahr 2024 vorstellte. Bis zum vergangenen Jahr tauchten solche Fälle allerdings noch nicht in der Statistik auf – Bedrohungen und Nötigungen wurden nur erfasst, wenn sich Betroffene direkt an die Beratungsstelle wandten und schwere Tatfolgen vorlagen.

Jetzt sammelt der Verein alle Vorkommnisse, bei denen den Bedrohungen und Nötigungen eine rechte Tatmotivation zugrunde liegt und die polizeilich erfasst wurden. Diese Veränderung war innerhalb des Dachverbands der Beratungsstellen für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt entschieden worden. In der Folge weist die Bilanz für 2024 zwei verschiedene Zahlen aus: 202 Fälle von Bedrohungen und Nötigungen gab es nach der alten, 273 nach der neuen Zählweise.

Für Joschka Fröschner, bei Opferperspektive zuständig für Beratung und Monitoring, muss der Gewaltbegriff ohnehin weiter gefasst werden, wie sich an diesem Fall leicht ablesen lässt: „Die ständigen Drohungen gegen die Familie haben zu körperlichen Erkrankungen geführt – das ist Gewalt.“

Auch ohne den zusätzlichen Anstieg durch die angepasste Erhebungsmethode liegen die Zahlen rechter Gewalt in Brandenburg laut Opferperspektive fast wieder auf einem so hohen Niveau wie 2015, dem bisherigen Höhe- bzw. Tiefpunkt der seit 2007 erhobenen Statistik. Dabei steht körperliche Gewalt bei den Tatbeständen weiterhin an vorderster Stelle: 75 Fälle einfacher sowie 66 Fälle schwerer Körperverletzung weist die Bilanz für 2024 aus.

Dies illustrierte die Opferperspektive mit einem Beispiel, das aufgrund seiner Dramatik mehr mediale Aufmerksamkeit als andere erhielt: Auf einem Feuerwehrfest in Potsdam-Golm Ende August hatten rechte Jugendliche das Lied „L’amour toujours“ mit den Zeilen „Deutschland den Deutschen“ gegrölt. Als ein anderer Besucher deshalb missbilligend den Kopf schüttelte, wurde er von ihnen angegriffen. Ein Freund, der dem Opfer zu Hilfe kam, wurde bewusstlos geschlagen. Als er am Boden lag, traten die Jugendlichen weiter auf ihn ein.

Ein Detail lässt für die Opferperspektive tief blicken: Die Angreifer hatten sich anschließend nicht einmal vom Tatort entfernt, wo sie dann von der Polizei gestellt werden konnten. Ein Zeichen des immer stärker werdenden Selbstbewusstseins in der Szene, wie Geschäftsführerin Judith Porath meint: „Die extreme Rechte in Brandenburg tritt zunehmend selbstbewusst und aggressiv auf und duldet in ihrem Dominanzstreben keinen Widerspruch.“

Ihre Kollegin Anne Brügmann forderte nicht nur konsequente Strafverfolgung, sondern auch „klare Signale aus der Politik, dass der Schutz Betroffener von rechter Gewalt oberste Priorität hat“. Dazu gehöre auch die langfristige finanzielle Absicherung von Beratungsstrukturen. „Der Einsatz für eine offene Gesellschaft darf nicht mit Angst und Gewalt bezahlt werden.“

Bei den Tatmotiven stand auch im vergangenen Jahr Rassismus mit 130 erfassten Angriffen an erster Stelle. Zugenommen hat in dem Jahr mit drei Wahlterminen (Kommunal-, Europa- und Landtagswahlen) das Motiv „Gewalt gegen politische Gegner*innen“: Hier zählte der Verein 66 Fälle. Die Attacken hätten sich gegen PolitikerInnen und JournalistInnen, häufig aber auch gegen junge Menschen gerichtet, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Sprunghaft angestiegen seien auch Angriffe auf Frauen und Mädchen.

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