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Turnen und aufs Maul fallenÄsthetik des Scheiterns

Tiktok-Star Nile Wilson war früher ein Spitzenturner. Heute zeigt er mit anderen Jungs, wie Stunts eben auch danebengehen können.

Nile Wilson, als Scheitern für ihn noch keine Option war: Turnwettbewerb bei den Commonwealth Games 2018 in Australien Foto: Shutterstock/imago

Wenn man auf Nile Wilsons TikTok guckt, passieren in der Regel drei Dinge: Und dann packt sich Nile Wilson aufs Maul. Und dann stöhnt Nile Wilson. Und dann steht Nile Wilson wieder auf. Es ist gar nichts Heroisches daran, er hält sich den Rücken oder das Knie, egal worauf er gerade gefallen ist, jammert kurz, lacht ein bisschen, und versucht es nochmal.

Was versucht er? Er versucht Stunts nachzubauen, die er auf TikTok gesehen hat. In seinem Gym versucht er das, von dem man auch aus der Ferne ahnen kann, dass es nach Schweiß und Kunststoff riecht; dass nichts Glorreiches hier jemals wird stattfinden könne. Und eigentlich müsste Nile Wilson das, was er da versucht, auch können (denkt der Laie, der ich bin): Schließlich ist Nile Wilson professioneller Kunstturner, gehörte zur Weltelite dieser Art der Körperertüchtigung. Sein größter Erfolg: die Bronzemedaille am Reck bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro. Aber vieles von dem, was er da versucht, kann er nicht. Aus zwei Gründen kann er es nicht: er ist mit 29 Jahren jetzt schon ein bisschen älter, erstens, und zweitens können die Leute immer viel weniger als man denkt.

Das sieht man aber selten auf TikTok oder auf YouTube, wo viele Gym­nas­t*in­nen und Tän­ze­r*in­nen ihre Moves und Tricks vorführen: Da scheint so oft alles so perfekt zu sein, das ideale Gegenlicht, ein malerischer Hintergrund, eine perfekte, hollywoodeske Performance. Was Nile Wilson vorführt, ist das Gegenteil, es ist sozusagen der postmoderne Kommentar. Er zeigt die Arbeit am Stunt, und vor allem tut er das nicht allein, sondern zusammen mit seinen Kompagnons Luke Stoney und Ashley Watson. Ganz erstaunlich daran ist, dass diese Truppe zusammengestellt scheint wie von einem mäßig begabten Serienproduzenten.

Ihre Körper sind ganz unterschiedlich gebaut, Nile Wilson zum Beispiel ist klein und drahtig, Luke Stoney – der Beau der Gruppe – groß und auch breit, und Ashley Watson hingegen ist ein bisschen chubby, rund und gedrängt. Es ist – für den Laien, der sich dafür bisher kaum interessiert hat – geradezu unglaublich zu sehen, welcher Stunt wem schneller und besser gelingt. Die Kanäle dieser drei sind nicht zuletzt auch eine Feier der Vielheit der Körper.

Spaß an der Freud

Vor allem aber haben sie Spaß an dem, was sie tun – wobei auch das eine Feier der Vielheit ist, denn diese Halle, in der sie da herumturnen, hat nichts Glamouröses, nichts an ihrem Tag ist beneidenswert außer, dass sie Spaß haben. Und den haben sie, und das sollte auch der letzte Sinn des Sports sein; das zu zelebrieren ist vielleicht die letzte hohe Kunst des Barrens und der Ringe. Anders als Turnvater Jahn es einst predigte, geht es nicht um Fitness oder Wehrertüchtigung, sondern schlicht darum, etwas zu tun. Insofern ist Turnen, wie Nile Wilson und seine Bande es praktizieren, Kunst. Es nimmt dieser Ertüchtigung das Militärische, ohne das Kameradschaftliche herauszudestillieren. Es ist Spaß an der Freud. Und es macht Freud, Leuten dabei zuzusehen, wenn sie Spaß haben.

Nile Wilson ist einer der wenigen Männer, die über Missbrauch in seiner Disziplin gesprochen haben. Er hat – auch in Dokumentationen – berichtet, dass er glaubt, misshandelt worden zu sein und hat die „Kultur des Missbrauchs“ im Leistungssport angeprangert. Seinen Videos, seiner ganzen Herangehensweise sieht man an, dass er versucht, die Dinge anders anzugehen: Scheitern als Chance, nicht unbedingt als Chance, um zu obsiegen und zu gewinnen, sondern als Chance, umarmt zu werden und über die eigene Fehlbarkeit zu lachen.

Es ist sehr bedauerlich, gehört aber zu Nile Wilson dazu, dass er zugleich immer wieder sexistische Ansichten äußert und zum Beispiel Andrew Tate verherrlicht. Auf seinem Kanal tut er das nicht, was vermutlich damit zusammenhängt, dass der kreative Kopf hinter den Videos seine Schwester (und die Part­ne­r*in seines Kompagnons Ashley Watson) ist. Sie ist sozusagen Editor-in-Chief der Videos und vielleicht sogar – wer weiß es – das Herzstück der Truppe. Es fällt nicht schwer, sich vorzustellen, dass diese Combo ohne sie zusammenbrechen würde. Sie zieht die Männlichkeit aus der Selfperformance der Männer heraus, als würde sie einen Schlangenbiss aussaugen.

Genau dadurch macht sie das, was „die Jungs“ performen, enjoyable. Man wünschte, es gäbe eine Serie, deren Figuren so undurchschaubar, aber auch nachvollziehbar wären wie jene drei, die da vor sich hinturnen, aufs Maul fallen, ständig scheitern und dabei doch erfolgreich sind. In Staffel vier wird Nile entweder verstehen, warum Männer nicht vom Mars sind und Frauen von der Venus, oder nicht. Dann wird sich herausstellen, ob es sich um eine Comedyserie handelt oder ein Drama.

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