piwik no script img

Welt spielen

Die neue Ausgabe des Literaturmagazins „Delfi“ nimmt sprachgewaltig die sogenannte Wirklichkeit in den Blick

Von Yi Ling Pan

Nach „Tempel“, „Fleisch“ und „Gift“ verspricht „Spiel“, so der Titel der vierten Ausgabe von Delfi, dem Magazin für neue Literatur, etwas mehr Heiterkeit. Der Eindruck täuscht. Mit der Prämisse „Wer erzählt, spielt Welt“ setzen die Her­aus­ge­be­r:in­nen Fatma Aydemir, Enrico ­Ippolito, Miryam Schellbach und Hengameh Yaghoobifarah im Editorial einen bedrohlichen Ton. Literatur ist manipulativ, jeder Text immer auch Spiel mit der Wirklichkeit.

Gäbe es dafür einen Musterbeitrag, lieferte ihn Raphaëlle Red. In „Das längste Spiel“ tritt eine schwarze Frau einer Reality-Show bei. Die Macht von Au­to­r:in­nen entlarvt Red durch eine Erzählung, die sich selbst permanent aufhebt oder anzweifelt. Nach jedem Satz bietet sie mindestens eine Alternative an, inspiriert von „Choose Your Own Adventure“-Geschichten. Damit spielt sie der Leserin den Ball zurück: Sie muss sich für eine Realität entscheiden. Oder kann sie sich selbst dem entziehen? Die Protagonistin jedenfalls scheitert immer wieder, aus vorgelegten Narrativen über ihre Geschichte auszubrechen. Zwischen Resilienz oder psychischer Instabilität kann sie wählen, Gewinnen scheint keine Option zu sein. Vorerst. Red gelingt eine beeindruckende Jonglage mit Form und Inhalt, Kritik und Witz. Eindringlich ist die Analyse von Rassismus und Sexismus, der, eingewickelt in Quoten-Awareness, neue, perfide Formen annimmt. Gleichzeitig entlockt die sassy Einstellung gegenüber der Wirklichkeit Lacher – mit einem weinenden Auge.

Die Wirklichkeit bleibt auf Kipp, die Sehnsucht nach Alternativen sprachgewaltig und die Leserin gefordert bei Stefanie de Velasco, Melissa Broder und Jayrôme C. Robinet. Manche Stücke nehmen aber vor lauter Experimentierfreude Verwirrung zu leichtfertig in Kauf. Ein zwischen Telefonat und Regieanweisung schwankender Dialog von Mazlum Nergiz zwischen Stiefmutter und -tochter will einen halb verschwiegenen Tod aufarbeiten und damit zu viel. Die Illustration von Gina Wynbrandt lässt zu viel weg, wenn sie weiße Flächen an die Stelle von Köpfen setzt. Wirkungsvoll hingegen kreuzt Comiczeichnerin Marijpol in „Glamgun“ Kriegsmotive mit Herz-Emojis und der Cancel-Culture-Debatte. Dasselbe gelingt Miedya Mahmod in der Gedichtreihe „Anything not saved will be lost“ mit „Webcore“-Ästhetik und Kinderlyrik. Wenngleich unter dem „Stream of Consciousness“ verkopftere Projekte durchscheinen, die nicht immer ankommen.

„Delfi“, Nr. 4. Claassen Verlag, Berlin 2025, 144 Seiten, 15 Euro

Insgesamt ist die thematische Spielwiese eher grau als bunt. Im Notizenformat fächert Sandra Gugić anhand von verschiedenen Prot­ago­nis­t:in­nen einen vermutlich autobiografischen Israel-Aufenthalt auf. Sie alle setzen ein neues Puzzleteil in das Bild vom Gaza-Konflikt. Nur dass das Puzzle schon im Titel nicht aufgeht: „Es gibt keine Chronologie, nur die Unvollständigkeit der in Arbeit befindlichen Gedanken.“ Unter der zerfressenden Mehrstimmigkeit leidet das Schweigen der Erzählerin, das auch im Text droht zu laut zu werden und trotzdem real ist.

Aus der Reihe kopfzerbrecherischer Spiele tanzen die Liebesgeschichte von Chris Kraus, die nicht Liebesgeschichte sein will, und die kaffeesippende Meditation über Bügeln als Hobby von David Wagner. Theresia Enzensberger liefert eine interessante, nüchterne Untersuchung über den indigenen Stamm der Seminolen, die in Florida erfolgreich Casinos führen. Mit einem Drama über Medea erweitert Nino Haratischwili die Genrevielfalt. Ihre Ode an das Pathos ist eindrücklicher zu hören als zu lesen. Der US-amerikanischen Schriftstellerin Claudia Rankine begegnet man leider nur im Interview. Immerhin erfährt man etwas über ihre Schreibroutine, die um 3.30 Uhr morgens startet, was nicht so lustig klingt. Aber das ­Schreiben ist ja auch kein Kinderspiel.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen