Kritik an Social Media und Spielfilm: Kino ohne Außerhalb
Der Filmhistoriker Lars Henrik Gass kritisiert in einem Buchessay den Stellenwert von Spielfilmen. Kino spiegle die narzisstische Gesellschaft wider.

Wir leben in einer narzisstischen Gesellschaft. Zumindest kann man sich diesen Eindrucks kaum erwehren. Sozialen Netzwerken wird seit Jahren nachgesagt, in ihrer Funktionsweise narzisstische Tendenzen zu befördern.
Auf Instagram und Tiktok verbreiten Life Coaches oder Menschen, die sich für solche halten, Theorien über angeblich weit verbreitete narzisstische Persönlichkeitsstörungen. Manchem Politiker wird, ob zutreffend oder nicht, allzu gern per Ferndiagnose ein pathologischer Narzissmus attestiert. Und der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz diagnostiziert unserer nach ewigem Wachstum strebenden Gesellschaftsform gar einen kollektiven Narzissmus.
Es verwundert daher nicht, dass derart gestaltete Diagnosen irgendwann auch auf kulturelle Erzeugnisse angewendet werden. Lars Henrik Gass, ehemaliger Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen und Gründungsdirektor des erst im Entstehen begriffenen Hauses für Film und Medien in Stuttgart, meint zu erkennen, wie das gegenwärtige Kino narzisstische Gesellschaftsentwicklungen widerspiegelt.
Programmatischer Titel
So trägt sein kürzlich erschienener, rund 100 Seiten umfassender Essay den programmatischen Titel „Objektverlust. Film in der narzisstischen Gesellschaft“. Laut Gass setze sich eine „neue Wahrnehmungsökonomie des Kinos durch, die sich in den letzten beiden Jahrzehnten am Internet als prägender sozialisierender Erfahrung ausgebildet hat“.
Lars Henrik Gass: „Objektverlust. Film in der narzisstischen Gesellschaft“. XS-Verlag,
Berlin 2025, 108 Seiten, 21 Euro
Jene Filme, die diese Tendenz aufweisen, „richten sich vor allem an westliche Mittelschichten, für die Film im Zuge der digitalen Entwicklung und der allgemeinen Deregulierung von Arbeitsverhältnissen Bestandteil eines stark veränderten Freizeitverhaltens wurde“.
Rekurs auf Siegfried Kracauer
Das Kino habe nicht mehr ein von Neugier getriebenes Erkenntnisinteresse zum Ziel. Im Gegenteil, im Kino der Gegenwart spiegele sich die Gesellschaft in einem narzisstischen Akt nur selbst. Um seine These zu begründen, rekurriert Gass in seinem ideologiekritischen Verständnis von Kino auf den Architekten, Soziologen und Filmtheoretiker Siegfried Kracauer, der die technisch vermittelte Beziehung zur „äußeren Wirklichkeit“, also zur physischen Realität und deren sozialen Verhältnissen, als die eigentliche Leistung des Kinos verstand.
Mit den Erfahrungen des Faschismus im Bewusstsein schrieb Kracauer dem Kino das emanzipatorische Potenzial zu, „falsches Bewusstsein, den geschichtlichen Alptraum durch kollektive Therapie zu überwinden“, wie Gass schreibt. Kino als Form von Teilhabe und Öffentlichkeit also, die Gesellschaft (um)gestaltet. Keiner filmhistorischen Bewegung wird diese Fähigkeit so sehr zugeschrieben wie dem italienischem Neorealismus, dessen Filme den Lebensalltag der einfachen Menschen in der Nachkriegszeit verhandelten.
Filme wie Greta Gerwigs „Barbie“, der für Gass eine „Großerzählung des instagramibilen Narzissmus“ darstellt, könnten sich ein Außerhalb der Warenwelt gar nicht mehr vorstellen. In Filmen von Giorgos Lanthimos, Paolo Sorrentino oder Mia Hansen-Løve betrachte sich die Mittelschicht nur noch selbst, „doch nicht im Sinne einer Abbildung, nicht im Sinne einer womöglich kritischen Darstellung der materiellen Bedingungen ihrer Existenz, sondern in ihrer Haltung zur Wirklichkeit, in ihrer Weltsicht“.
Der Objektverlust, von dem im Buchtitel die Rede ist, beschreibt den Verlust einer äußeren Wirklichkeit, für die sich das Gegenwartskino, das nur noch auf sich selbst gerichtet ist, nicht mehr interessiert. Der Essay ist eine so gehalt- wie anspruchsvolle Lektüre, die lohnenswert ist. Mit ihr kann sich auch eine Filmkritik selbst befragen, die sich zunehmend auf Geschmacksurteile zurückzieht und den Bezug zum gesellschaftlichen Ganzen verliert.
Prägnant formulierte Gedankengänge
Seine Gedankengänge formuliert Gass dabei in bestechend prägnanten Sätzen: „Kino bildet gesellschaftliche Verhältnisse nicht mehr ab, es ist Teil von ihnen.“ Oder: „Das narzisstische Kino ist ein Kino des Geschmacks, der Ausdifferenzierung, der Verfeinerung, das nichts zu erzählen, nichts zu entdecken hat, aber dem zeitgenössischen Bedürfnis nach einer unterhaltsamen Melange von Kritik und Schauwert bedenkenlos entgegenkommt, ohne künstlerisch freilich allzu große Ansprüche zu stellen.“
Manchmal wünscht man sich eine stringentere Argumentation, vieles bleibt im Modus des Postulats. Zudem ist es schade, dass Gass die überzeugendste Beweisführung seiner These des Objektverlusts ausgerechnet an „Der talentierte Mr. Ripley“ von Anthony Minghella vornimmt, einem Film, der über 25 Jahre alt ist. Sein Blick auf das Kino ist dennoch meist so schonungslos wie erhellend.
Etwa wenn er Ruben Östlunds vermeintlich antikapitalistischen Film „Triangle of Sadness“ jegliche „gesellschaftliche Positionen oder Klassenstandpunkte“ abspricht, in der „Stirb langsam“-Reihe hingegen eine „Fortschrittserzählung des Universalismus“ erkennt.
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