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Der Traum von Norwegen

Mystik und Introspektion: Literatur aus Norwegen, Gastland der Leipziger Buchmesse, findet kaum irgendwo so viele Ab­neh­me­r:in­nen wie hierzulande. Warum eigentlich?

Von Jette Wiese

In der kommenden Woche eröffnet das Gastland Norwegen seinen Stand auf der Leipziger Buchmesse unter dem Motto „Traum im Frühling“. An den vier Besuchertagen werden Stars wie Maja Lunde („Die Geschichte der Bienen“) und Karl Ove Knausgård („Min Kamp“) auf der Messe zu hören sein. Letzterer wird pünktlich zur Messe auch einen neuen Teil seiner „Morgenstern“-Reihe veröffentlichen, „Die Schule der Nacht“. Der Verlag Luchterhand kündigt den Roman mit den Worten an: „Was geschieht, wenn der Mensch sich aller Moral entledigt und nur noch um sich selbst kreist? Über die Kräfte, die uns formen, sowohl die dunklen als auch die hellen.“

Es ist schon gekonntes Marketing des Verlags, sofort liegt da die ganze nordische Erzählwelt im Anschlag. In sich versunkene Figuren, die an einem weiten Fjord stehen und über die schweren Fragen des Lebens nachdenken. Die Natur, von der es reichlich in Norwegen gibt, ist dabei nicht nur Szenerie, sondern oft auch Taktgeberin des Denkens, Projektionsfläche des Inneren. Wie viel schon geschrieben wurde über gewaltige Berge, alles verschluckende Wälder und tiefblaue, fast schwarze Fjorde! Und das stimmt ja auch alles. Aber woran liegt es, dass diese Umgebung so viele Geschichten mit introvertierten, mitunter gequälten Figuren produziert? Und warum ist die ganz bestimmte Mischung aus Melancholie, Schaurigkeit und Heimeligkeit bei deutschen Le­se­r:in­nen so erfolgreich?

Dazu muss man einen Blick auf die Kulturlandschaft Norwegens werfen. Das Land hat zwar gemessen an den gerade einmal 5,5 Millionen Ein­woh­ne­r:in­nen extrem viel Platz. Die Literaturszene drängt sich aber auf einer Handvoll Kulturorte vor allem in der Hauptstadt Oslo und in Bergen an der Westküste. In Bergen bildet die Skrivekunstakademiet seit 1985 junge Au­to­r:in­nen aus. Knausgård war Ende der Achtzigerjahre selbst einer ihrer Schüler und lernte unter anderem bei Jon Fosse, dessen mystisches, melancholisches Werk 2023 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde.

Das Gebäude der Schreibakademie ist direkt am Fjord gelegen, von wo aus sich jedes Jahr Tausende von Hurtigruten-Kreuz­fah­rer:in­nen den Traum von einer Fahrt zum Nordkap erfüllen, sicher auch mit der ein oder anderen norwegischen Urlaubslektüre im Koffer. Schlängelt man sich an den Touristen vorbei bis ins Stadtzentrum zum berühmten Café Opera und probiert dort zum Beispiel von der hervorragenden Fischsuppe, kann es sehr gut passieren, dass früher oder später namhafte Au­to­r:in­nen wie Tomas Espedal vorbeischauen. In Bergen, wie in der norwegischen Literaturszene überhaupt, liegt vieles sehr nah beieinander.

Ein anderer solcher Kulturort ist das kleine Dorf Ulvik, zumindest für ein paar Tage im Jahr, wenn sich die norwegische Lyrikszene zum Poesiefestival trifft. Das Treffen würdigt den Schriftsteller Olav H. Hauge (1908–1994), der sein Leben dort am Hardanger­fjord als Landwirt, Übersetzer und Dichter verbrachte. Von ihm stammt das Gedicht „Der Traum in uns“, eine erwartungsfrohe und robuste Versaufzählung über die Hoffnung darauf, „dass die Zeit sich öffnet“, „dass der Berg sich öffnet“ und „dass die Quellen springen“.

Die norwegische Literaturszene drängt sich auf einer Handvoll Kulturorte vor allem in der Hauptstadt Oslo und in Bergen

Das passt gut zum „Traum im Frühling“, mit dem sich Norwegen jetzt in Leipzig präsentieren will. Versteht man darunter mehr als eine saisonale Verlegenheitsentscheidung, geht es um Erwartung und Erkenntnis, die auf die Natur übertragen wird. Sie öffnet eine Tür im Denken und im Leben, deren Schwelle zu übertreten beides bedeuten kann: Aufbruch und Ankunft, Schauer und Heimeligkeit. Das Motiv findet sich nicht nur bei Knausgård oder Fosse, sondern auch in weiblicher Gegenwartsliteratur aus Norwegen wie zum Beispiel in Vigdis Hjorths „Wiederholung“, das gerade bei S. Fischer erschienen ist. Dort ist es die plötzlich hereinbrechende Dunkelheit im Wald, die ein verborgenes Trauma der Protagonistin heraufholt: „Wir atmeten Dunkelheit, der Hund mit aufmerksam zum Wald hin gerichteten Sinnen, ich auf mein Inneres lauschend, wo sich etwas rührte, aus der Tiefe emporstieg, aber es verschwand wieder, ehe ich es zu fassen bekam.“ Die Naturerfahrung stößt eine Aufarbeitung ihrer Jugend und des sexuellen Missbrauchs in ihrer Kindheit an. Moderner Stoff, altes Motiv.

Das Motto und die Literatur passen auch deshalb so gut, weil klug gewirtschaftet wurde. Hinter dem Gastlandauftritt in Leipzig steht eine staatlich geförderte Exportagentur für Literatur, Norla. Sie sorgt seit ihrer Gründung im Jahr 1978 dafür, dass mehr als 8.700 Titel in 76 Sprachen übersetzt wurden. Einer ihrer größten Abnehmer ist der deutsche Buchmarkt, weshalb sie Norwegen schon den Gastlandauftritt bei der Frankfurter Buchmesse 2019 sicherte. Das damalige Motto lieferte besagter Olav Hauge: „Der Traum in uns“. Die Mystik, die Natur, die Introspektion, das alles ist also auch Produkt einer ausgefeilten Marketingstrategie, die schon einmal für gut befunden wurde und nun in die zweite Runde geht.

Dabei sind die Mit­ar­bei­te­r:in­nen bei Norla sehr darauf bedacht, auf die Vielfalt der norwegischen Bücher hinzuweisen. Die sei besonders ausgeprägt, weil mit dem „Innkjøpsordningen“ auch Au­to­r:in­nen abseits des Mainstreams gefördert werden. Durch jene Ankaufsregelung verpflichtet sich der norwegische Kulturrat dazu, von jedem neu erscheinenden Buch knapp tausend Exemplare zu kaufen, die anschließend an die Bibliotheken verteilt werden. Im Vergleich zur deutschen Literaturbranche ist das ein komfortabler finanzieller Grundstock, durch den weniger bekannte Schrift­stel­le­r:in­nen überhaupt erst die Möglichkeit zur Veröffentlichung bekommen.

Es stimmt deshalb keinesfalls, dass norwegische Literatur nur aus traurigen alternden Männern bestünde. Im Gegenteil, mit Linn Strømsborg („Verdammt wütend“) und Oliver Lovrenski („bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann“) werden bei der Buchmesse auch zwei Au­to­r:in­nen ihre Bücher vorstellen, die vom modernen Norwegen und seiner pluralen Gesellschaft erzählen.

Woran liegt es dann, dass die Inszenierungen von und nach Fosse und Knåusgard für das deutsche Publikum so hervorstechen? Einer, der die beiden Erzählwelten, die einsame Natur und das moderne Leben in der Großstadt, schematisch gegenüberstellt, ist Matias Faldbakken. Dessen im Herbst vergangenen Jahres erschienener Roman „Armes Ding“ handelt von einem jungen Mann auf einem abgelegenen Bauernhof. Im Wald findet er ein wildes, fast schon animalisches Kind, das er einfängt und um das er sich kümmert. Das Kind erholt sich schnell und entpuppt sich als junge Frau.

Grübelkulisse? Der Aurlands­fjord nördlich von Bergen Foto: Juliette Robert/Haytham-REA/laif

Es beginnt eine Liebesgeschichte zwischen beiden, die schließlich dazu führt, dass sie vom Hof fliehen müssen. Sie landen in Oslo, wo sie sich in intellektuellen Kreisen bewegen und einander schnell fremd werden, bis Horror und Gewalt über sie kommen und die junge Frau verhaftet wird.

Faldbakken kontrastiert diese beiden Welten, Land und Stadt, Romantik und Moderne, in allen Feinheiten der Sprache und Symbolik. Sie trennt ein Sündenfall, der die einfache Welt auf dem Land für immer verschließt. In der Stadt erscheint dagegen alles zäh und verschwommen, das Leben so unbefriedigend wie das Ende des Buchs. Faldbakken führt die Lesenden meisterhaft vor, denn man wird ertappt darin, wie vermeintlich klar die Dinge in der ursprünglichen Welt doch lagen und wie gut sich das anfühlte.

Vielleicht ist es das, was mit norwegischer Literatur hierzulande assoziiert wird, also vor allem ein Gefühl der Leser:innen. Es ist eine möglicherweise sehr deutsche Sehnsucht danach, die Schwere des Lebens zu erfassen – in ferner Abstraktion, versteht sich. Das passt schon alles sehr gut zusammen mit der Literatur und vor allem der Natur Norwegens, die man auf Luxuskreuzfahrtschiffen schmökernd an sich vorüberziehen lässt. Die Buchmesse ist eine gute Gelegenheit, dieses Traumbild einmal zu überprüfen.

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