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„Du verlierst über Nacht alles“

Pures Überleben in Zeiten ständiger Veränderung kennt Nicoleta Esinencu von ihrem Erwachsenwerden in Moldau. Mit ihrem Theaterkollektiv teatru-spălătorie spielt sie im Rahmen des Festivals „Every Day!“ am Hebbel am Ufer

Autorin und Theatermacherin Nicoleta Esinencu im Scheinwerferlicht des Berliner Hebbel am Ufer Foto: Christoph Voy

Von Katja Kollmann

„Der Kühlschrank war immer leer“, erinnert sich die Autorin und Theatermacherin Nicoleta Esinencu, wenn sie über ihre Jugend in den 90er Jahren in der Republik Moldau reflektiert. „Das Einzige, was drin war, waren Omega-3-Tabletten. Das kam als humanitäre Hilfe an Vaters Arbeitsplatz an. Wir hatten Nahrungsergänzungsmittel, aber keine Nahrung!“ Als 1991 mit dem Auseinanderfallen der UdSSR auch Moldau, die kleinste sowjetische Republik, unabhängig wird, wurden die staatlichen Betriebe ad hoc geschlossen. Die einsetzende Inflation nahm der Bevölkerung die letzten Sicherheiten. „Du verlierst über Nacht alles“, beschreibt Esinencu die damalige Situation ihrer Eltern: „Du hast keine Arbeit, kein Geld, kein Essen.“

Esinencu, die sich in ihrer Arbeit immer wieder neu mit dem gegenwärtigen global-kapitalistischen System und seinen konkreten Auswirkungen auf den Menschen auseinandersetzt, ist dreizehn, als in Moldau der Systemwechsel vollzogen wird. Sie wächst in einer Gesellschaft auf, in der alle Erwachsenen auf sich selbst zurück geworfen sind, jegliche staatliche Unterstützung fehlt und es darum geht, unter dem Druck der neuen Bedingungen zu überleben.

„Alle Eltern, vor allem die Mütter, sind auf den Markt gegangen, um irgendetwas zu verkaufen, damit Essen für die Kinder da war“, erinnert sich Esinencu. Viele Eltern werden so gezwungen, als Arbeitsmigranten im Ausland für ihre Kinder zu sorgen. Die Kinder wachsen elternlos in Moldau auf.

2019 hat sich die Theatermacherin in der dokumentarischen Performance „Die Abschaffung der Familie“ genau damit auseinandergesetzt. „Es war nicht mal Zeit da, Angst zu haben, sich dieser Angst bewusst zu werden, geschweige denn darüber zu reflektieren. Es ging ums pure Überleben in Zeiten ständiger Veränderung.“ Vor diesem Hintergrund findet eine extreme Polarisierung der Gesellschaft statt. Der Nationalismus breitet sich aus wie ein Geschwür.

„Ich bin ein Mensch, der Angst hat, und darum kämpfe ich. Es ist ein Kampf, den ich für meine Mutter führe. Eigentlich für alle Mütter.“ Die dunkle Stimme der 47-jährigen Esinencu bekommt ein warmes Timbre, als sie von ihrer Mutter erzählt, die Bücher schreiben wollte, aber nicht dazu kam, weil sie in der Familie die ganze Care-Arbeit leisten musste, während ihr Mann sich als Schriftsteller einen Namen machte. Dezidiert prangert die Theatermacherin in ihrer Arbeit das Patriarchat an. Sie macht sich für Feminismus stark. Patriarchale Strukturen hat sie nicht nur in der eigenen Familie erlebt, sondern auch als Dramaturgin am staatlichen Eugene-Ionesco-Theater in Chișinău Anfang der 2000er Jahre. „Alles hat damit angefangen, dass ich nicht einverstanden war, wie es im Theater um mich herum aussah.“ Nicoleta Esinencu ist nicht einverstanden, dass es im Theater Hierarchien gibt, dass an der Spitze des Theaters ein Mann steht und dass die Regie männlich ist. Sie akzeptiert unangemesses Verhalten der Regisseure bei den Proben nicht. Auch Inszenierungen, die oft Sexismus und Rassismus propagieren, lehnt sie ab.

Mit 32 Jahren gründet sie mit Gleichgesinnten in der moldauischen Hauptstadt ihre eigene Theatertruppe teatru-spălătorie: „Wir haben gemacht, was uns gefällt und wir haben es anders gemacht“, erzählt sie. „Es war vor allem ein neuer Blick auf das, was uns umgibt.“ Sieben kurze Jahre, von 2010 bis 2017, hat das Kollektiv in Chișinău eine feste Bühne. „Es gibt eine Generation, die mit uns aufgewachsen ist“, stellt Esinencu nüchtern fest, aber schon die neue Generation kenne teatru-spălătorie nicht mehr. Die Truppe mietet in Chișinău Probenräume an. Vorstellungen kommen nicht zustande. „Man will uns nicht. Man macht alles, damit wir nicht da sind.“ Esinencu wird sarkastisch: „Das ist schon ein interessanter Ansatz einer sogenannten demokratischen Regierung: wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ „Clear History“, eine frühe Inszenierung, die in Moldau und auch im HAU gezeigt worden ist, holt ein Tabuthema an die Oberfläche: den Holocaust in Bessarabien. Das Territorium der heutigen Republik Moldau fiel im Sommer 1940 unter sowjetische Besatzung und gehörte von Sommer 1941 bis Sommer 1944 zu Rumänien, dessen totalitärer Herrscher Ion Antonescu mit NS-Deutschland kollaborierte. Mehr als 250.000 moldauische und ukrainische Juden und Jüdinnen wurden auf seinen Befehl hin ermordet. „Wir haben zu Hause nie über den Holocaust gesprochen,“, erinnert sich Esinencu. „Meine Eltern haben überhaupt nicht verstanden, warum ich das an die Öffentlichkeit zerre. In ihren Augen ist das: den Müll wieder hervorkehren.“

Der Holocaust, der auch vor der eigenen Haustür stattfand, wird „versteckt. Er wird wegradiert. Man möchte ihn loswerden und tut so, als hätte es ihn niemals gegeben.“ Momentan möchte man auch am liebsten „die Löschtaste“ drücken, wenn es um die sowjetische Periode geht, sagt Esinencu. „Wer an die Macht kommt, schreibt die Geschichtsbücher um. So gibt es bei uns viele offizielle Geschichtsschreibungen. Es gibt die, die nach Westen, und es gibt die, die nach Osten gerichtet sind,“ konstatiert die Theatermacherin trocken.

Keine Regierung wird mich davon abhalten, eine hierarchiefreie Gesellschaft anzustreben

Inzwischen ist teatru-spălătorie lose ans Berliner HAU angedockt. Seit 2012 sind am Haus acht Inszenierungen gezeigt worden. Die neunte hat am 21. März im Rahmen des Festivals „Every Day! Feministische Kämpfe im postsozialistischen Europa“ (21.–29. März) am HAU Premiere. Schmutzige Wäsche wird in „Dirty Laundry. The TrashOpera“ ganz konkret auf einem Kreuzfahrtschiff gewaschen. Esinencu lässt dort die extremen Pole der globalen Welt – enormer Reichtum und menschenunwürdige Ausbeutung – aufeinanderkrachen und sucht dann proaktiv nach gerechteren Varianten eines globalen Miteinanders.

Am staatlichen Theater in Chișinău wurde im März 2024 eine Inszenierung, die das Thema Korruption verhandeln wollte, direkt von der Präsidentin Maia Sandu verhindert. Es gab keinerlei öffentliche Aufarbeitung des Zensurskandals. Im Gegenteil: Es wurde „von ganz oben“ mit der aktiven Beteiligung des Kulturministers eine Kampagne lanciert, um Regisseur David Schwartz öffentlich zu diskreditieren. „Das Allertraurigste ist vielleicht wirklich, dass wir zu Hause nicht arbeiten können.“ Nicolea Esinencu sucht nach Worten und sagt zögernd: „Also ich persönlich, also eigentlich wir alle vom teatru-spălătorie fühlen uns zu Hause in Moldau wie Fremde. Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass wir eines Tages wieder in Moldau auftreten können.“ Noch werden alle, die nicht zur Mehrheit gehören, gehasst. Ihre Stimme wird jetzt fest und kämpferisch: „Aber keine Regierung wird mich davon abhalten, dass ich eine hierarchiefreie Gesellschaft anstrebe, die offen ist für Migranten und für queere Menschen. Keine Regierung wird es schaffen, mich zum Schweigen zu bringen.“

„Dirty Laundry. The TrashOpera“ läuft vom 21. bis 23. sowie am 25. März im HAU1

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