Spannungen im neuen Syrien: Es knallt an der Küste
An Syriens Küste leben viele Alawit*innen – eine Minderheit, der Ex-Diktator al-Assad angehört. Nun gab es dort heftige Auseinandersetzungen mit den neuen Machthabern.
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Die syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR), eine Zivilorganisation mit Sitz in Großbritannien, meldete am Mittwochabend mehrere verletzte Zivilist*innen in Qardaha. Streitkräfte der neuen Regierung von Hayat Tahrir asch-Scham (HTS) hätten versuchten, das Haus eines ehemaligen Offiziers des Assad-Regimes zu stürmen. Laut der Rekonstruktion der Beobachtungsstelle sollen die Streitkräfte dann das Feuer eröffnet haben. Zuvor waren wohl bereits zehn Männer festgenommen worden.
In den Gebieten rund um die Küstenstädte Latakia und Tartus lebt die religiöse Minderheit der Alawit*innen. Ihr gehört der ehemalige Präsident Baschar al-Assad an – und viele seiner ehemaligen Anhänger, Mitarbeiter und Militärs. Nach dem Sturz des Autokraten am 8. Dezember 2024 durch eine sunnitisch geprägte Rebellenkoalition gab es in den alawitischen Regionen eine gewisse Unruhe.
Viele Alawit*innen fürchten seit dem Machtwechsel um ihre Sicherheit. Unter Assad waren sie in Machtpositionen überrepräsentiert, das macht sie bei der neuen Regierung kaum beliebt. Berichte über Misshandlungen oder gar Exekutionen häuften sich in den vergangenen Monaten, teilweise wurden sie durch Berichte von Nichtregierungsorganisationen bestätigt. Die neue Regierung von Hayat Tahrir asch-Scham beteuert, alle Minderheiten seien im neuen Syrien sicher – und schiebt die Verantwortung für die Vorfälle auf Kriminelle oder einzelne Individuen. Diese nutzten das Chaos in der Übergangsphase, um alte Rechnungen zu begleichen und Selbstjustiz auszuüben.
Viele in Syrien fordern ein „friedliches Zusammenleben“
Kürzlich wurde in Damaskus eine Konferenz für Nationalen Dialog abgehalten. Sie hat Empfehlungen für die neue syrische Übergangsregierung herausgearbeitet: Unter anderem soll Syrien vereint bleiben, alle bewaffneten Gruppen und Milizen ihre Waffen abgeben, Diskriminierung verhindert werden und Rechte wie die freie Meinungsäußerung gesichert sein. Ein „friedliches Zusammenleben“ aller religiösen und ethnischen Gruppen soll die Regierung sicherstellen, nicht zuletzt durch eine Übergangsjustiz, die Verbrechen von Mitgliedern des ehemaligen Regimes ahndet.
Dass die Umsetzung all dessen nicht leicht wird, zeigt sich an Vorfällen wie etwa am Mittwochabend. Auch darüber hinaus gibt es viele Beispiele für interreligiöse Konflikte: Auch in einem Dorf außerhalb Homs sollen am Mittwoch Schüsse gefallen sein, als bewaffnete Kämpfer versuchten, einen Mann festzunehmen.
Auch anders herum gibt es Vorfälle: Ende Januar etwa brachten wohl Anhänger des ehemaligen Regimes sieben Kämpfer der neuen Machthaber HTS in der Nähe von Latakia in ihre Gewalt – und drohten, sie zu töten. Sie wurden später von den neuen syrischen Streitkräften befreit. Und vor vier Tagen wurde ein Fahrzeug des Verteidigungsministeriums in Latakia angegriffen, ein Mann starb. Gruppen von verärgerten Männern versammelten sich daraufhin vor der Polizeistation und drohten Alawit*innen mit Vergeltung.
„Nicht so schlimm, wie es klingt“
In Tartus sind derzeit außerdem Falschmeldungen über eine bevorstehende Zwangseinberufung aller alawitischen Männer im Umlauf, wie ein Einwohner berichtet. Der junge Mann, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben möchten und hier Ali heißen soll, erzählt: Es habe am Mittwoch mehrere solcher Fake-News gegeben, die die Gemüter erhitzt hätten. Wer sie in Umlauf gesetzt hatte, wisse er nicht. Noch gebe es in der Region einige Anhänger*innen des alten Regimes, die den Sturz des Ex-Präsidenten nicht akzeptiert hätten, sagt er. „Die Lage im Küstengebiet ist unruhig. Aber es ist auch nicht so schlimm, wie es klingt. Außer in einigen Dörfern, dort gibt es echte Auseinandersetzungen.“
Für Ali ist eine Versöhnung für die Verbrechen der Vergangenheit nötig, damit sich die Lage beruhige. Dem jungen Mann ist es trotzdem wichtig, optimistisch in die Zukunft zu blicken: „Ich sehe es als eine nationale Pflicht. Wenn wir pessimistisch werden, wird dies unseren Fortschritt hindern“.
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