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Neue Regeln im Wahlrecht5 Dinge, die man für diese Wahl wissen muss

Bei der Bundestagswahl am Sonntag gilt erstmals das neue Wahlrecht. Was sich genau ändert. Und was daran kritisiert wird.

Mehr Platz im Plenum: Mit der Wahlrechtsreform wird der Bundestag auf 630 Mandate verkleinert Foto: Christoph Söder/dpa

Das Wahlrecht ist im Jahr 2023 reformiert worden. Für die Abstimmung diesen Sonntag gelten neue Regeln. Doch was sich genau ändert, ist längst nicht allen klar. Das Wichtigste in Kürze:

1. Was ändert sich durch die Wahlrechtsreform?

Der Bundestag wird auf dauerhaft 630 Mandate verkleinert. Nach der Wahl 2021 sind 736 Abgeordnete in den Bundestag eingezogen, der so zum größten demokratischen Parlament der Welt wurde. Es gab 34 sogenannte Überhang- und 104 Ausgleichsmandate. Überhangmandate gab es, wenn eine Partei mehr Direktkandidaten entsenden konnte, als ihr gemäß dem Anteil an Zweitstimmen zustanden. Für die Sitzverteilung im Bundestag ist aber das Zweitstimmenverhältnis maßgeblich. Die Überhangmandate mussten also ausgeglichen werden. Das gibt es nun nicht mehr. Das Zweitstimmenergebnis wird nach den Stimmverhältnissen auf 630 Sitze umgelegt.

2. Was bedeutet das für die Wahlkreise?

Mit der Erststimme wird weiterhin für die Wahl­kreis­kan­di­da­t:in­nen in 299 Wahlkreisen abgestimmt. In den Bundestag ziehen aber nur so viele erfolgreiche Di­rekt­kan­di­da­t:in­nen ein, wie es das Zweitstimmenergebnis der Partei zulässt. Beispiel: Eine Partei gewinnt in einem Bundesland 50 Wahlkreise. Nach dem Zweitstimmenergebnis stehen ihr aber nur 48 Mandate zu und so gehen die 2 Di­rekt­kan­di­da­t:in­nen mit den schlechtesten Erststimmenergebnissen leer aus. Das könnte in einigen wenigen Fällen bei der anstehenden Wahl durchaus vorkommen.

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3. Warum wird die Regelung kritisiert?

Insbesondere der Union gefällt diese Regelung nicht. Die CSU etwa entscheidet traditionell fast alle bayerischen Wahlkreise für sich und hat etliche Überhangmandate zugesprochen bekommen. Nun könnten einzelne Di­rekt­kan­di­da­t:in­nen den Einzug in den Bundestag verpassen. Das liegt an der sogenannten Zweitstimmen­deckung. Politikwissenschaftler Robert Vehrkamp, der als Sachverständiger an der Wahlrechtsreform beteiligt war, kritisiert, dass sich Mythen rund um das neue Wahlrecht verbreitet hätten.

Eine Darstellung, dass Wahl­kreis­sie­ge­r:in­nen ihr Mandat nicht bekommen würden, sei falsch. Die Definition, wer als „Wahlkreissieger“ gelte, sei nun eine andere. „Ich vergleiche die neue Zweitstimmendeckung gerne mit der Abseitsregel im Fußball: Da zählt ein Tor auch nur, wenn der Torschütze nicht im Abseits stand. Die relative Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis alleine reicht nicht mehr. Um zum Wahlkreissieger gekürt zu werden, braucht es zusätzlich die Zweitstimmendeckung“, sagt Vehrkamp. Bür­ge­r:in­nen müssten sich an die neue Definition erst gewöhnen, da das alte Wahlrecht noch eingeübt sei.

4. Und was ist mit der Grundmandatsklausel?

Ursprünglich sah die Reform der Ampel auch die Abschaffung der Grundmandatsklausel vor. Die besagt, dass Parteien mit dem vollen Stimmenanteil in den Bundestag einziehen, wenn sie mindestens drei Direktmandate gewinnen – auch wenn sie weniger als 5 Prozent der Stimmen erhalten, so wie das bei der Linkspartei 2021 der Fall war. Die Erststimmenkönige von der CSU, die 2021 im Bundesergebnis auf einen Stimmenanteil von 5,2 Prozent gekommen war, sahen ihre Präsenz im Bund in Gefahr. Das Bundesverfassungsgericht kippte diesen Teil der Wahlrechtsreform im Juni 2024. Die Grundmandatsklausel gilt also auch diesmal.

5. War ’s das jetzt mit Wahlrechtsreformen?

Das steht nicht fest. CDU und CSU schreiben in ihrem Wahlprogramm, das Wahlrecht erneut ändern zu wollen. Es könnte sein, dass bei der nächsten Wahl wieder neue Regeln gelten. Es ist aber unklar, welcher Stellenwert dem Thema Wahlrechtsreform in etwaigen Koalitions­verhandlungen zukommen wird.

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11 Kommentare

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  • In meinem Wahlkreis hat sich wieder eine schon bei früheren Wahlen aufgetretene Konstellation für eine beispielhafte Frage zur Wahlrechtsreform ergeben.

    Ein Direktkandidat ist gleichzeitig Vorsitzender der Landesliste, kann also mit beiden Stimmen gewählt werden. Wäre die Erststimme so nicht etwas "doppelt gemoppelt" verschenkt? Salzt oder versalzt man die Wunschsuppe, wenn man daraus schlussfolgernd mit der Erststimme eine andere Partei bevorzugt, die ebenfalls sympathisch erscheint?

    • @Hoagie:

      Am extremen Beispiel der CSU erklärt. Die CSU holt, wie bei der letzten BTW geschehen, in Bayern alle Direktmandate (minus eins) erhält aber bundesweit nur knapp über 5 Prozent der Stimmengewichtung (letzte BTW: 5,2%). Schon nach altem Wahlrecht zog damit kein einziger Kandidat der Liste anhand der Liste in den Bundestag. Denn die Anzahl der CSU Direktmandate ist weitaus höher als der prozentuale Verhältnisanteil, den die Partei laut Zweitstimmenergebnis besetzen dürfte. (Der Grund für Überhang- und Ausgleichsmandate und der Aufblähung der Mitgliederanzahl im Bundestag.) Nach neuem Wahlrecht wird nicht nur die Landesliste der CSU für die Berechnung unwichtig sein, sondern es können auch noch ein paar Direktmandate entfallen.

      Im oben aufgeführten Fall ist es sinniger den Kandidaten zumindest mit der Erststimme, besser noch mit beiden Stimmen zu wählen.

      PS. : Dies ist nur ein Beispiel - keine Wahlempfehlung.

    • @Hoagie:

      Kann man so sehen. Tatsächlich ist es aber vor allem so, dass die Bedeutung der Erststimme abgenommen hat. Man kann damit höchstens noch ein wenig Unordnung in die Liste bringen.

  • Was hier in der Darstellung fehlt: Parteilose Kandidaten sind von der Anforderung der Zweitstimmendeckung ausgenommen. Kann dadurch die Zahl der Abgeordneten doch größer 630 werden, wenn ja die 630 komplett nach Zweitstimmenverhältnis vergeben werden?

    Ist das dann nicht einfach zu hacken, indem sichere Direktkandidaten einfach ohne ihre Partei antreten, um letztlich je einen Sitz mehr zu bekommen?

    • @O-Weh:

      Nein. Siehe Bundeswahlgesetz.

      (Leider etwas umständlich vom Hintersten zum Vordersten. Das allerletzte Wort ist entscheidend!)

      § 20 Abs 3: "Andere Kreiswahlvorschläge müssen von mindestens 200 Wahlberechtigten des Wahlkreises persönlich und handschriftlich unterzeichnet sein."

      § 6 Abs 2: "Ein Bewerber, der nach § 20 Absatz 3 vorgeschlagen ist, ist als Abgeordneter eines Wahlkreises dann gewählt, wenn er die meisten Erststimmen auf sich vereinigt."

      § 4 Abs 1 Satz 1: "Die Gesamtzahl der Sitze (§ 1 Absatz 1) wird nach den Grundsätzen der Verhältniswahl zunächst auf die Parteien in Bezug auf das ganze Wahlgebiet und dann auf die Landeslisten jeder Partei verteilt. Von der Gesamtzahl der Sitze wird die Zahl der nach § 6 Absatz 2 erfolgreichen Wahlkreisbewerber abgezogen."

  • Wie oft hoert man, dass die Politik in Berlin nicht mehr am Waehler dran ist und von den Alltagsproblemen keine Ahnung haben.



    Aber statt die direkten Elemente der Demokratie in Deutschland zu staerken war der Ampel machpolitische Spielchen lieber, um der Union zu schaden.



    So sieht sie aus, die vielbeschworene "Rettung der Demokratie" der Ampel.

    Was passiert eigentlich mit den Kanditaten auf den Parteilisten wenn die Zweitstimmen nicht mal fuer die Direktkandidaten reichen? Gehen die dann leer aus? Kann ich mir nicht vorstellen, dass die Parteifunktionaere sich ihren sicheren Listenplatz nehmen lassen.

  • >„Ich vergleiche die neue Zweitstimmendeckung gerne mit der Abseitsregel im Fußball: Da zählt ein Tor auch nur, wenn der Torschütze nicht im Abseits stand. Die relative Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis alleine reicht nicht mehr. Um zum Wahlkreissieger gekürt zu werden, braucht es zusätzlich die Zweitstimmendeckung“, sagt Vehrkamp.

    Das ist immerhin eine verständliche Erklärung (viele andere sind es nicht; der Autor hat also einen guten Griff getan, danke!), aber ganz so einfach wie beim Fußball ist es dann ja doch nicht. Wie lautet die Regel denn ganz genau? Kann man vorherberechnen, also so, dass der Wähler so wie der im Abseits stehende Spieler schon wissen müsste, dass er unerlaubt handelt? Oder der Kandidat, dass er unerlaubt siegt?

    Und wie geht es genau, wenn die Wahl erfolgreich ausgezählt ist, aber dann noch jemand ausscheidet? Wenn also z. B. die CSU einige Wahlkreis-Erste nicht ins Parlament bringt, weil sie die knappsten "Siege" hatten - und wenn nun nachgerückt werden muss. Rückt dann der nächstfolgende Wahlkreis-Erste doch noch nach oder muss man nach der Landesliste gehen? § 48 Bundeswahlgesetz ist da nicht gerade eindeutig zu verstehen. Weiß jemand die Antwort?

  • Für das Direktmandat in meinem Wahlkreis haben 2021 lediglich 28,2 % (!) der Erststimmen gereicht. 2017 waren es auch nicht viel mehr: 33,5 %.



    Das bildet beides absolut nicht die Mehrheit der Wähler ab.



    Darum kann ich absolut nicht nachvollziehen, wie man solche Überhangmandate als demokratischer ansieht, als der Anteil an allen abgegebenen Stimmen.

    • @e2h:

      Wenn ich es richtig verstanden hab, sollte nach altem Wahlsystem sichergestellt werde, dass jeder Wahlkreis einen Vertreter im Bundestag hat. Aber solange ich das Geschehen aktiv beobachte, seit fünf Jahrzehnten, war dies Augenwischerei, da im politischen Geschehen Befindlichkeiten einzelner Wahlkreise keine Rolle spielten. Vielen Wählern war die Rolle der Erst- und Zweitstimme auch garnicht klar. Ich kenne auch (unbedachte) Aussagen, dass man einfach alle Direktkandidaten ins Parlament schicken und auf die Zweitstimmen verzichten soll.



      Als demokratisch sehe ich vor allem an, dass die Zweitstimmen die prozentuale Zusammensetzung des Oarlament bestimmen. Wer dann wirklich dort einzieht legt dann die Gewichtung zwischen Zweit- und Ersttimmen fest. Insofern finde ich den Begriff Zweitstimmendeckung auch genau richtig.

    • @e2h:

      Koalitionen auf Wahlkreisebene - das wär doch mal was: Ein Kandidat müsste andere hinter sich bringen, um 50% der Stimmanteile zusammen zu bekommen. Schluss mit Wahlabenden, die die neuen Machtverhältnisse in einer Fernsehshow ermitteln. Politik wieder als ernsthaftes und entschleunigtes Unterfangen, wieder auf lokaler Ebene, wo Einzelne sich noch direkt einbringen und spürbar was verändern können.

      • @O-Weh:

        Allerdings gibt es auch die Landesparlamente und kommunalen Vertretungen. Die dürfen wir nicht vergessen.