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Neue Linken-Fraktion im Bundestag: Geht's zusammen?
Mit 64 Abgeordneten sind die Linken im Bundestag vertreten, von Aktivistin bis zu marxistischem Lehrer. Die taz hat drei der Neuen begleitet.
C ansın Köktürk muss sich beeilen, wenn sie noch auf das Foto will. Gut 60 GenossInnen stehen auf der ausladenden Treppe des Paul-Löbe-Hauses. Die 31-jährige schafft es gerade noch so. Sie hat sich im unübersichtlichen Regierungsviertel verlaufen. Es ist ja alles neu an diesem Dienstagmittag nach der Wahl.
Vor ein paar Wochen war der Wiedereinzug der Linken in den Bundestag noch ein vager Traum. Jetzt kommt die neue Fraktion mit ihren 64 Mitgliedern zu ihrem ersten Treffen zusammen. Parteichef Jan van Aken im roten Sweatshirt wird schon leicht ungeduldig, weil der Fotograf so lange braucht. Die Zeit drängt. Die Neuen müssen den Bundestag kennenlernen, das Programm ist straff. Köktürk lächelt selbstsicher in die Kamera. Sie ist Rampenlicht gewohnt. Sie war schon mal in einer Talkshow, damals noch als Grüne. Sie hatte ein Buch über den „Unsozialstaat Deutschland“ geschrieben und verteidigte bei Markus Lanz tapfer das bedingungslose Grundeinkommen.
Als der Fotograph signalisiert, dass er fertig ist, skandieren die GenossInnen „Alerta, alerta, antifascista!“. Ein donnernder Chor, der das große Atrium des Paul Löbe Haus füllt. „Alerta, alerta, antifascista!“ heißt: Man will das Sprachrohr der Bewegung sein.
Cansın Köktürk stimmt ein, Bodo Ramelow, Ex-Ministerpräsident von Thüringen, tritt etwas verlegen von einem Bein auf das andere. Ex-Parteichefin Janine Wissler steht schweigend am Rand.
51 von 64 Abgeordneten sind neu
Noch nie in der Geschichte des Bundestages hat es einen solchen Bruch in einer Fraktion gegeben. 51 der linken MdBs sind neu, nur 13 gehörten in der vergangenen Legislaturperiode der linken Gruppe an. Fünf waren früher schon mal linke Bundestagsabgeordnete gewesen, darunter Jan van Aken. Viele kennen Parlamente nur aus der Kommunalpolitik, andere nicht mal das. Die Fraktion ist mit 42 Jahren im Schnitt die jüngste im Bundestag, zu mehr als der Hälfte weiblich und ziemlich zufällig zusammen gewürfelt. Sie ist unbelastet vom tief eingraviertem Streit der alten Fraktion. Aber unerfahren.
Kann das funktionieren? Gibt es bald wieder alte Gräben? Wie wollen die Neuen den Schwung der Bewegung in das Parlament tragen? Soll die Fraktion Sprachrohr der Bewegung sein? Drei Annäherungen.
Ulrich Thoden hat auch gerade kräftig „Alerta“ skandiert. Am Montag hat der Lehrer aus Münster noch am Berufskolleg in Rheine unterrichtet. Englisch und Philosophie. Der 51-Jährige kennt zwar Kommunalpolitik. Aber er weiß, dass das nicht viel zählt, dass der Bundestag „ein Sprung ins kalte Wasser“ ist. Die Zeit rast. Thoden, drahtig und energisch, sieht man die Müdigkeit nach dem aufreibenden Wahlkampf nicht an.
Viele Linkspartei-Abgeordnete erzählen die gleiche Geschichte. Von jungen Leute, die noch nicht mal Parteimitglieder waren, und Plakate klebten, Flyer stecken, an Infoständen standen und an Haustüren klingelten. Viele Neue waren elektrisiert von der Sorge, so Thoden, dass „Deutschland nach rechts abdriftet'“ Und da hat die Linkspartei die klarste Botschaft: Alerta.
Abplakatieren ist zu wenig
Und jetzt? Kommt nach der Euphorie die Ernüchterung? Thoden sagt: „Wenn wir jetzt den neuen Mitgliedern nur Abplakatieren anbieten, ist das zu wenig“. Es gelte aber, tote Ortsvereine neu zu beleben. Man müsse „in die Fläche gehen“. Kommunalpolitik sei eine gute Schule für neue GenossInnen, denn dort gehe es konkret zu. Zum Glück seien in NRW schon im September Kommunalwahlen.
Wahlen sollen offenbar jetzt generell als linke Bewegungsbeschleuniger funktionieren. Die neue Fraktion fährt, jedenfalls ein Gros davon, am Mittwoch nach Hamburg. Dort wird am Sonntag gewählt. Eine Soli-Geste. „Unser Familienausflug“, so einer der neuen Abgeordneten leicht spöttisch auf der Treppe im Paul-Löbe-Haus.
Sollen Partei und Fraktion Sprachrohr der Antifa-, Mieten- und Klimabewegung sein? Thoden ist skeptisch. Es sei zwar gut, dass die Linkspartei sich zu einem Zwitter entwickelt habe „von der Partei zu Partei und Bewegung“. Die Partei brauche Bewegungen, und dürfe auch nicht paternalistisch auftreten. „Aber wir sind nicht nur das Megafon“.
Thoden ist 2018 aus der SPD ausgetreten. „Die letzte Groko war eine zu viel“, sagt er. Die SPD habe bei der Vermögenssteuer versagt. „Es gibt einen Unterschied zwischen Pragmatismus und wirklich gar nicht kämpfen.“ Das kritisieren SPD-Linke auch.
Sehnsucht nach leninistischen Schulungen?
Thoden klingt in vielem, nicht zuletzt dem Lob der Kommunalpolitik, geerdet, pragmatisch, abwägend. Ukraine? Er ist wie die meisten Linken gegen Waffenlieferungen. Aber natürlich müsse „die territoriale Integrität der Ukraine gewahrt“ werden. Die Vorstellung, dass „Europa zuschaut, wie die Ukraine aufgeteilt wird“ findet er „unerträglich.“ Die Solidarität mit Kiew hat aber auch Grenzen. „Meine Seite ist die Seite des Friedens, nicht die der Ukraine oder Russlands.“
Einerseits, andererseits.
Es gibt noch ein andererseits. Linke, sagt er, brauchten ideologische Fundamente. Zum Beispiel nur gefühlslinks gegen zu hohen Mieten zu sein, reiche nicht. Um die Hintergründe von zu hohen Mieten zu verstehen, brauche es „auch Kapitalismuskritik und Analyse auf marxistischer Basis.“ Thoden ist Mitglied der Kommunistischen Plattform, einer kleinen, überalterten, mit der DKP verbandelten Organisation mit deutlichen Hang zu Rechthaberei und Sektierertum.
Bekämpft werden mit Hingabe „BRD-Staatsräson“ und „ NATO-verharmlosende Positionen“ in der Linkspartei. Die Aufgabe von Strömungen wie der KPF sei es, so Thoden, auch „Bildungsangebote für Neuglieder zu schaffen.“ Man wird sehen, ob sich die zehntausenden NeugenossInnen, Durchschnittsalter 28, nach leninistischen Schulungen sehnen, um ihren Gefühlssozialismus auf amtlich wissenschaftliches Niveau heben zu lassen.
Einige Dosen Plattform-Marxismus
„Ich war auch in der SPD Marxist“, sagt Thoden, der meist wie ein SPD-Linker klingt. Ein marxistischer Lehrer aus Münster. Mit viel Lehrer, viel Münster, und einigen Dosen Plattform-Marxismus. Das ist ein Alleinstellungsmerkmal. Aus der KPF ist er in der wiederauferstanden Linksfraktion nach seiner Kenntnis „der Einzige“.
Sahra Mirow hat gerade den ersten Tag in Berlin hinter sich gebracht, inklusive konstituierender Fraktionssitzung und Verabschiedung der Linken-Abgeordneten, die nicht mehr angetreten sind. Wenn der neue Bundestag spätestens am 25. März zum ersten Mal zusammenkommt, wird sie der gleichen Fraktion wie ihr politisches Vorbild angehören. „Ich war immer ein Gregor-Gysi-Fan“, sagt die 41-Jährige und lacht. Sein Auftreten beeindrucke sie.
Gysi findet meist klare Worte. Die Heidelberger Abgeordnete formuliert vorsichtig. Und sie deutet lieber an, dass sie einen reformorientierten Kurs einschlagen will. „Ganz grundsätzlich müssen wir wieder auch parlamentarische Mehrheiten links von der CDU haben“, antwortet Mirow auf die Frage, ob die Linkspartei, wenn die Mehrheiten es hergeben, auch regieren solle.
In der neuen Fraktion dürften das nicht alle so sehen. Klar, da ist Bodo Ramelow, der in Thüringen jahrelang vergleichsweise geräuschlos mit Grünen und SPD koalierte. Aber zu den neuen Abgeordneten gehört auch die Krankenpflegerin Lea Reisner, die in der Seenotrettung aktiv war und Anarchie als ihre Utopie bezeichnet. Oder der Neuköllner Ferat Koçak, der maßgeblich dank der Unterstützung von Aktivist*innen sozialer Bewegungen im Haustürwahlkampf das Direktmandat gewann. Ob sie bei linken Annäherungsversuchen an SPD und Grüne mitgehen würden?
Dem Rechtsruck „die materielle Basis entziehen“
Zunächst steht aber die Verteilung der Ausschüsse an, auf die sich die 64 einigen müssen. „Das hat noch Zeit, die Besetzung werden wir gemeinsam besprechen“, sagt Mirow, wieder diplomatisch. Am liebsten würde sie in den Ausschuss für Arbeit und Soziales oder zum Thema Wohnen arbeiten. „Aber auch andere Themen kämen in Frage“, stellt sie klar. Thoden, der gerne Friedens- oder Verkehrspolitik machen will, kommt sie damit schonmal nicht in die Quere.
Mirow ist in einfachen Verhältnissen in Lübeck aufgewachsen und die erste in ihrer Familie, die studiert hat. „Die Gerechtigkeitsfrage war für mich immer wichtig“, erklärt sie. Strukturelle Bedingungen zu bekämpfen, die Ungleichheit schaffen, das treibe sie an. Mirow will damit auch dem Rechtsruck „die materielle Basis entziehen“. Wobei die Kämpfe gegen Diskriminierung und für Klimaschutz nicht gegen soziale Fragen ausgespielt werden dürften, findet Mirow. „All diese Themen gehören zusammen.“
Ukraineunterstützung, Nahost, Identitätspolitik oder Klassenkampf – es gibt viele Themen, über die sich die neue Linken-Fraktion zerlegen könnte, so wie es die alte in vielen Grabenkämpfen getan hat. Mirow kennt die Konfliktlinien, seit 2014 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Heidelberger Büro der Linken-Abgeordneten im Bundestag, zuletzt für Gökay Akbulut. Doch die Gefahr, dass es wieder zur Spaltung der Fraktion kommen könne, sieht sie „ganz und gar nicht“. „Wir gehen da alle rein mit einem wirklich frischen Start“. Und: „Es ist gerade so eine gute Stimmung bei uns und richtig harmonisch.“
In puncto Ukraine verweist sie auf das Wahlprogramm der Partei – keine Waffenlieferungen, dafür gezielte Sanktionen gegen Putin und seine Getreuen. Das hätten alle Kandidierenden im Wahlkampf vertreten „und das wird auch Richtschnur für uns sein“. Was das Streitthema Palästinasolidarität angeht, habe man „eine sehr klare Haltung in Partei und Fraktion“, beschlossen beim Parteitag im vergangenen Oktober. Also kann nichts mehr schief gehen?
Eloquent und mit robustem Selbstbewusstsein
Cansın Köktürk kommt aus der „schönsten Stadt der Welt“, sagt sie. Aus Bochum. Dort ist sie groß geworden, zweisprachig. Ihre Eltern kommen aus der Türkei, der Vater ist Bauingenieur. Linke Politik war zu Hause immer Thema. „Bleibt kritisch“, das hat sie von ihrer Familie gelernt. Und ist ihren Eltern dafür dankbar.
Dass sie sperrig sein kann, hat sie bei den Grünen gezeigt. 2021 machte sie dort eine kurze steile Karriere. Sie attestierte der Ampel einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit, galt als „grüne Rebellin“, überwarf sich mit ihrem Kreisverband und trat wieder aus. Nachdem Sahra Wagenknecht die Linkspartei verlassen hatte – „ein Befreiungsmoment für die Linke“ – trat sie dort ein. Köktürk ist eloquent und verfügt über ein robustes Selbstbewusstsein.
„Mein Opa hat immer schon gesagt, dass ich mal Politikerin werde.“
Wie sieht sie das?
„Politikerin bin ich nur auf dem Papier“
„Ich habe Schwierigkeiten damit, mich als Politikerin zu bezeichnen“, sagt sie. Drei Jahre lang hat sie eine Notunterkunft für geflüchtete Menschen geleitet. Ausgehend von dem Elend, das sie dort sah, denkt sie Politik. „Politikerin bin ich nur auf dem Papier“, erklärt Köktürk. Soziale Arbeit sei ihre Berufung und „höchst politisch“. Die Verantwortung als Politikerin wolle sie jetzt „mit Hingabe übernehmen“, um „greifbare Veränderung“ zu erreichen. Dafür brauche es diesen Weg, und das sei ihr Ziel.
2021 hat sie gesagt, dass sie „ von Fraktionszwang und Hierarchien in einer Partei nicht viel hält“, und meinte die Grünen. Eine Fraktion, in der jeder macht was er will? Eine Partei ohne oben und unten? Dieser Satz dürfte jeden Parlamentarischen Geschäftsführer und jeder Parteichefin sorgenvoll stimmen. Er klingt mehr nach Sponti-Bewegung als nach institutioneller Politik.
In der Linksfraktion, glaubt sie, werde man „Meinungsunterschiede wertschätzend austragen“. Richtig ist: Der Kompromissdruck ist in der Opposition weniger drängend als in einer Partei, die gerade mit der FDP regieren will. Köktürk hält Bewegung und Partei nicht für einen Widerspruch. „Das geht Hand in Hand. Ich bin Aktivistin. Politik fängt nicht im Parlament an. Meine Aufgabe ist es, die Themen der Bewegung in den Bundestag zu bringen. Wir müssen den Kontakt zu den Bewegungen halten.“
Köktürk ist vielleicht eine der schillerndsten Figuren der Fraktion. Eigensinnig, sendungsbewusst und eloquent.
Der Spagat zwischen KPF und Ramelow ist strapaziös
Und die Ukraine-Politik? Und Gaza? Lagern da nicht explosive Stoffe, die die derzeitige Harmonie abrupt in die Luft jagen können? Der Spagat zwischen KPF, die noch immer mit dem Handwerkszeug Leninscher Imperialismustheorie arbeitet, und Bodo Ramelow, der für schwere Waffen für die Ukraine votiert hat, ist ziemlich strapaziös. Und etliche der NeugenossInnen finden es selbstverständlich, dass man der Ukraine alles liefert, was sie braucht.
Köktürk sieht Waffenlieferungen skeptisch. „Waffen beenden keine Kriege, sondern Verhandlungen.“ Die Linkspartei müsse „eine starke Stimme für Abrüstung sein.“
Klar ist ihre Position zu Gaza und Israel. Den Kompromiss der Linkspartei im Herbst fand sie gut. Aber „In Gaza hat ein Genozid stattgefunden. Das ist offensichtlich.“
Es wird mit der Kompromissfindung in der Fraktion vielleicht doch nicht so einfach.
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