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Die Terroristin im Kinderzimmer

„Angriffe auf Anne“ von Martin Crimp ist ein Klassiker des postdramatischen Theaters. In Lilja Rupprechts Inszenierung an der Berliner Schaubühne wirkt die Gewalt gruselig echt

Von Katrin Bettina Müller

Das Theater als Labor: Wie viele Worte braucht es, um eine Figur zu erfinden? In Martin Crimps „Angriffe auf Anne“ genügen oft wenige Sätze, um die Konturen der gerade fassbar gewordenen Figur Anne wieder zu verwischen. Reden über Anne, die selbst nie auftritt: Das ist ein Spiel mit hoher Geschwindigkeit. Ratzfatz ist unsere Fantasie bereit, eine grobe Skizze weiterzuspinnen. Unsere Bereitschaft, einer Figur auf der Bühne zu glauben, ist Teil des Spiels. Listig trickst Crimp uns immer wieder aus, fügt Anne eine neue Farbe hinzu, nimmt etwas anderes weg, und schon biegt ihre Geschichte wieder ab, nicht selten ins Radikale.

1997 in London uraufgeführt, machte das Stück Martin Crimp bald zu einem international bekannten Dramatiker. Es war eine Kampfansage an die Chimäre der Authentizität, gerade als diese auf dem Sprung war, zum beliebten Image-Artikel auf Social Media zu werden. Die Zeit des postdramatischen Theaters begann, das, statt Rollen und kohärente Handlungen zu erfinden, lieber auf die Konstruiertheit von Identität und Wahrhaftigkeit schaute.

An der Schaubühne Berlin, die seit mehr als zwanzig Jahren der Generation britischer Dramatiker um Sarah Kane, Crimp und Ravenhill verbunden ist, hat jetzt Lilja Rupprecht „Angriffe auf Anne“ inszeniert. Jule Böwe, Marcel Kohler und Kay Bartholomäus Schulze werden von der Live-Musik von Fabian Ristau begleitet, die melancholische Kontrapunkte setzt, wo der Text sich berauscht an aktionreichen und oft gewaltgetränkten Fantasien.

Das beginnt schon in der ersten von 17 Szenen: zehn Nachrichten hören wir, die Anne auf ihrem Anrufbeantworter hat. Leider, sagt die Mutter, können wir dir kein Geld mehr geben. Eine Stimme ist begeistert von ihrer Idee, den Bäumen Namen zu geben. Eine Stimme droht ihr sexuelle Gewalt an. Meinen die alle die selbe Figur?

Ein Paar liegt im Bett, wir sehen es vor uns auf der Bühne und von der Videokamera verdoppelt groß von oben. Zweistimmig entwerfen sie eine intime Begegnung eines Paares, fallen einander ins Wort, verändern die Situation, ziehen das Tempo an, plötzlich geht es um eine ideologische Abrechnung mit einem Gefühle fressenden Kapitalismus.

Unsere Bereitschaft, einer Figur auf der Bühne zu glauben, ist Teil des Spiels

Crimps Text fährt Emotionen rauf und runter. Er spielt dabei mit der Idee, dass die Dar­stel­le­r:in­nen den Faden selbst aufnehmen und variieren. Kleine Verschiebungen zwischen den realen Körpern auf der Bühne und ihrem Videobild setzen da noch eins drauf.

Einmal sind alle drei Schau­spie­le­r:in­nen mit Masken und in altmodischer Eleganz, mit Karo- und Punktmustern, als Frauen verkleidet. Anne hat Fotos geschickt, die drei Mütterfiguren beschreiben sie. Stolz über Annes Selbstständigkeit schwingt mit, wie sie da mit ihrer alten roten Tasche die ganze Welt bereist. Sich mit den Armen solidarisiert. Die drei auf dem Sofa schlagen synchron die Beine übereinander und reden gemütlich weiter von Annes Weg in den Terrorismus. In einem unglaublich verniedlichenden und gefühlsduseligen Gestus geschieht das. Wie die kleine Anne schon in ihrem kleinen Kinderzimmer ein Gewehr haben wollte und eine Liste mit Namen. Wen sie Nacht für Nacht erschießen will.

Es ist eine gruselige Erfahrung, wie viel von dem, was Crimp vor mehr als zwanzig Jahren seiner Figur anhängte, heute auf einen Echoraum stößt, in dem das Abgründige sich häuft in der Realität. Da gibt es auch die blonde Schwiegertochter Anne, Mutter zweier Kinder, die sie in einer an die Reichsbürger erinnernden Abkopplung von der Gesellschaft vor deren bösen Kräften schützen will. Crimp konnte in einem Interview zu seinem Stück, nachzulesen im Programmheft, sagen, dass es ihm ums Erfinden ging, um Dinge, die man beim Schreiben entdeckt. Vieles davon ist in der Gegenwart beklemmend real geworden.

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