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Schnellerweiterkrasser

Freizeitsport wird immer kompetitiver. Auch durch Apps wie Strava, auf denen Nut­ze­r:in­nen ständig ihre Leistung vergleichen und sich gegenseitig immer weiter pushen – bis es ungesund wird

Kopf frei: Wer sich beim Laufen richtig auspowert, kann in einen Flow-Zustand kommen

Aus Berlin Sophie Fichtner (Text) und Sebastian Wells (Fotos)

Der Puls schießt viel zu schnell in die Höhe. Kira Gerlach schaut immer wieder auf ihre Lauf­uhr, die Aufregung vom Start ist verflogen, aber ihr Herz rast. 190 Schläge pro Minute nach fünf Kilometern, das ist ungewöhnlich. Es ist viel zu warm für Anfang April in Berlin, 25 Grad werden es an diesem Halbmarathonsonntag im vergangenen Jahr. Gerlach ahnt, das wird hart. Dabei wollte sie heute eine neue Bestzeit laufen.

21,1 Kilometer lassen sich unterschiedlich angehen. Hauptsache ankommen, schneller sein als im letzten Jahr, oder man will es richtig wissen, so wie Gerlach. Sie hat vor, in unter anderthalb Stunden im Ziel zu sein. Sub 1:30, wie die Profis sagen. Eine Marke, die nur knapp fünf Prozent der etwa 38.000 Läu­fe­r*in­nen an diesem Tag unterbieten werden.

Immer wieder rechnet Gerlach nach, 4:20 Minuten braucht sie im Schnitt für einen Kilometer, das wird nichts. Ihr Puls rast weiter. Nach einer Stunde und 1:31 Minuten läuft Gerlach durchs Ziel. „Das war mein schlimmster Lauf“, sagt sie direkt danach. Aber in ihrer App Strava blinkt „PR“ auf. PR steht für Personal Record, eine persönliche Bestzeit. Daneben leuchtet eine kleine goldene Medaille, die Währung in der digitalen Sportwelt.

Strava ist die erfolgreichste App, mit der sich sportliche Aktivitäten tracken und mit der Welt teilen lassen. Wann und wie lange du gelaufen, geschwommen oder Rad gefahren bist, ob du Yoga gemacht hast oder Gewichte gestemmt und wie viel Kalorien du verbrannt hast – all das kann man bei Strava hochladen. Freun­d:in­nen können dir dafür Kudos geben, wie ein Like hier heißt.

Strava ist vom schwedischen Wort sträva abgeleitet, streben. Und so fühlt sich diese App auch ein bisschen an, immer auf der Jagd nach dem nächsten Rekord. Der inoffizielle Slogan heißt: „Strava or it didn’t happen“ – wenn du es nicht hochgeladen hast, hast du keinen Sport gemacht.

Sich noch zum Laufen aufzuraffen, weil der Kumpel heute auch schon 10 Kilometer gerannt ist – dadurch wird man im besten Fall gesünder. Gleichzeitig wird Freizeitsport, der einen Ausgleich schaffen soll, durch das permanente Vergleichen kompetitiver. Strava ist dabei nur ein Teil des Trends, der sich im Freizeitsport breitmacht: Immer weiter pushen, auch wenn der Körper Stopp sagt. Schneller, länger, krasser. Muss das immer sein?

Wer Kira Gerlach trifft, unterschätzt sie möglicherweise. Die 29-Jährige ist zierlich, blond, ziemlich hübsch. Ihr Blick ist standhaft. Darin erkennt man ihren Willen, der für eine Fußballmannschaft reicht. Einen Halbmarathon in unter eineinhalb Stunden laufen – würde sie das nochmal wagen? „Ja“, sie grinst, „das ist wie bei Frauen nach der Geburt. Direkt danach sagen sie nie wieder, und dann bekommen sie doch noch ein Kind.“ Gerlach kennt sich gut, traut sich viel zu. Aber es wird einen Tag geben, an dem ihr Ehrgeiz sie zu weit treibt.

Eigentlich heißt Kira Gerlach anders. Sie wird hier anonym bleiben, weil sie ihren Namen nicht in der Zeitung und im Internet lesen möchte. Mit mir spricht sie trotzdem, weil der Leistungsdruck im Hobbysport zunimmt. Wir sind befreundet.

Gerlach hat in ihrer Jugend Leistungssport gemacht, Vielseitigkeitsreiten, und sie ist bei Wettkämpfen angetreten. Vielleicht sucht sie deshalb bis heute immer neue Herausforderungen. Im Frühjahr 2024 steht sie zwar kurz vor ihrem Studienabschluss in Architektur, und Masterarbeiten in diesem Fach verschlingen oft Monate. Trotzdem will sie auch sportlich noch etwas erreichen: den Berlin Marathon im September laufen. 42,2 Kilometer in drei Stunden und fünfzehn Minuten. Also bereitet Gerlach sich monatelang darauf vor.

„Ich habe gehört, dass wir Menschen Füchse oder Igel sind“, sagt sie. Füchse würden sich für viele Dinge begeistern, können von allem ein bisschen. Igel fräsen sich in ein Thema rein, sind total fokussiert. „Ich bin ganz klar ein Igel.“ Also testet sie neue Trainingsmethoden, erstellt sich online einen Trainingsplan, findet raus, wo ihre Schwellenbereiche liegen, sodass sie ihre Leistung steigern kann.

Sie spüre gerne, wie sich ihre Leistung entwickelt. Dass sich ihr Körper anpasst, sie schneller längere Strecken laufen kann. Anstrengende Intervalleinheiten, bei denen sie abwechselnd so schnell läuft, wie sie kann, und dann geht, hätten etwas Reinigendes. In der Erschöpfung liege tiefes Glück. So ähnlich, wie wenn sie zwischen ihren Freundinnen auf der Tanzfläche steht, die Musik richtig gut ist und sie nirgendwo sonst lieber wäre.

Kompetenz sei eines der Grundbedürfnisse, das tief in uns verwurzelt ist, sagt Jens Kleinert. Er forscht an der Sporthochschule in Köln zu Emotionen und Motivation im Sport. „Schon Babys versuchen, mit Bauklötzen einen Turm zu bauen, der möglichst groß ist“, sagt er. „Das machen sie nicht für andere, sondern für sich selbst.“ Sie testen, schaffe ich das? Wie weit komme ich? „Das heißt, Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis, sich als kompetent zu erleben.“ Wenn wir etwas schaffen, könne das sehr befriedigend sein. So wie sich Babys über einen hohen Turm freuen, befriedige es uns im Erwachsenenalter, dieses Gewicht zu stemmen oder jene Strecke zu rennen. Das Bedürfnis, Leistung zu erbringen, ist also etwas Urmenschliches.

Kira Gerlach setzt Kilometer auf Kilometer und Strava zählt mit:

17 April: 13,33 km, 4:57/km, 1h 6min

22. April: 14,39 km, 5:00/km – Intervalle 400-600-800-1000-1200-1000-800-600-400

23. April: 7,06 km, 5:27/km – Fahrrad abholen

26. April: 18,05 km – durch Zürich

27. April: 10,19 km, 325 Höhenmeter

1. Mai: 13,26km, 5:45/km

3. Mai: 16,33km, 369 Höhenmeter, 1h 31min

5. Mai: 21,49 km, 5:26/km – crew run

6. Mai: 10,12km, 4:58/km – 6x800 Meter Intervalle

10. Mai: 33,34 km, 5:22/km – heute bisschen ausgetobt

12. Mai: 21,09 km, 5:02/km – sunday routine

176 Kilometer in einem Monat. Ist das noch ein Hobby? „Ja“, sagt Sportpsychologe Oliver Stoll, „das würde ich als ambitionierten Hobbysport bezeichnen.“ Er forscht an der Universität in Halle zu den Auswirkungen sportlicher Aktivität auf die Psyche und läuft jeden Tag sieben oder acht Kilometer. Stoll sagt aber auch, wenn man so viel trainiere wie Kira Gerlach und zusätzlich auch im Job Ambitionen habe, sei das ziemlich viel Belastung.

„Emotional passiert viel, wenn wir laufen. Gerade bei leistungsorientierten Menschen“, sagt Stoll. „Viele von den Sportlerinnen und Sportlern im ambitionierten Bereich sind Perfektionistinnen und Perfektionisten.“ Wenn sie den eigenen hohen Anspruch nicht erfüllen können, löse das negative Emotionen aus. Der Selbstwert hänge stark von den Ergebnissen im Training ab. Auf der positiven Seite stehe dabei, dass Per­fek­tio­nis­t:in­nen überhaupt an einem größeren Ziel arbeiten können, ohne jeden Tag eine Belohnung zu bekommen. Sie haben ein Ziel im Kopf und ziehen den Trainingsplan durch.

16. Mai: 8,05 km, 4:00/km, 8x600

18. Mai: 20,11 km – quer durch den Wald

20. Mai: 11,04 km, 4:49/km, 53min

21. Mai: 11,04 km, 5:17/km, 58min

„Laufen ist mein Ventil“, sagt Gerlach. Sie arbeitet viel an ihrer Masterarbeit, um den Kopf durchzupusten, geht sie laufen. Auf dem Plan steht ein Longrun pro Woche. Lang, das seien 17 Kilometer und mehr. Also joggt sie manchmal abends nach der Uni in großen Schlangenlinien nach Hause.

Für das Gefühl, sich den Kopf freizurennen, hat Oliver Stoll eine Erklärung. Hinter der Stirn liegt der präfrontale Cortex. Dieses Hirnareal ist aktiv, wenn wir Probleme lösen, grübeln, analysieren. Je stärker wir uns aber körperlich verausgaben, desto mehr werde dieses Areal heruntergeregelt, sagt Stoll. Beim lockeren Joggen mit einem Puls von 130 ließe sich noch nachdenken, aber je mehr Leistung man bringe, desto schlechter könne man bewusst rationale Probleme lösen. „Man kommt in den sogenannten Flow.“ In diesem Zustand verschieben sich Zeit- und Raumwahrnehmung. Für viele fühle es sich dann so an, als würden sie mit der Umwelt verschmelzen.

30. Mai: 10 Kilometer, 3x8min @ ~4:15

Ein Training, bei dem Gerlachs präfrontaler Cortex wahrscheinlich still war. Sie läuft auf einer Tartanbahn im Kreis, dreimal acht Minuten am Stück mit einem Tempo von 4:15 Minuten pro Kilometer. Dazu schreibt sie „new VO2max unlocked“. VO2max, das ist ein weiteres Strava-Phänomen. Hob­by­sport­le­r:in­nen verlieben sich durch das permanente Tracken in medizinische und statistische Werte. Der Wert beschreibt, wie viel Sauerstoff der Körper maximal pro Minute verwerten kann. Die Aufnahmefähigkeit lässt sich trainieren, und es gilt: Je höher dieser Wert ist, desto besser, weil die Leistungsfähigkeit zunimmt.

Sitzt man mit Strava-Nutzer:innen nach einer Radtour beim Abendessen, werden gerne mal Werte wie beim Quartettspielen hin- und hergeworfen.

„Was war dein Maximalpuls?“ „182“ – „185“ „Höchstgeschwindigkeit?“ „54“ – „60“ „FTP“ – Was? – „Wie viel Watt kannst du treten?“ – „3,8“ – „4,2!“

Das ist witzig und oft nicht so ernst gemeint. Es macht Spaß, seine Erfolge zu teilen, andere zu motivieren und sich Fotos anzusehen, die Freun­d*in­nen von ihrer Wanderung im Urlaub hochladen. Strava wirkt dabei auch noch purer als Instagram, wo alles poliert wird. Stattdessen teilen die Nut­ze­r*in­nen verschwitzte Gesichter und kalorienreiche Snacks, die sie sich unterwegs reingezogen haben. Trotzdem stellt sich die Frage, was der permanente Vergleich auf Dauer bewirkt. Wenn man selbst etwa immer langsamer läuft als der Rest der Community und das nach jedem Lauf in Zahlen und Balkendiagrammen serviert bekommt.

Wer sein Training noch tiefer analysieren will, kann für 75 Euro im Jahr ein Abo abschließen, so verdient das Unternehmen aus San Francisco Geld. 2020 wurde der Unternehmenswert mit 1,5 Milliarden Dollar angegeben. Mittlerweile tracken über 135 Millionen Sport­le­r:in­nen in über 190 Ländern ihre Aktivitäten mit Strava, damit hat sich die Zahl der Use­r:in­nen in den letzten fünf Jahren beinahe verdoppelt – die App ist nach eigenen Angaben zum größten Sportclub der Welt gewachsen. Und damit auch zu einem Ozean sensibler Daten, denn Nut­ze­r:in­nen gewähren Strava Zugriff auf viele Informationen, vom Wohnort über die Herzfrequenz bis zum verwendeten Equipment. Immer wieder wird vor Datenlücken gewarnt, weil sich angeblich anonymisierte Informationen doch Personen zuordnen lassen. Marken wie Nike, Garmin und neuerdings auch Apple connecten ihre Apps mit Strava, um Teil dieses Sportuniversums zu sein.

Auffällig ist, dass viele Nut­ze­r:in­nen ihre Leistungen erklären, etwa so: „Wieder zurück nach der Erkältung“ (ich kann noch nicht so doll), „shake out run“ (ich laufe locker, weil ich morgen einen Wettkampf habe), oder „unterwegs mit Marco“ (Marco ist ein Anfänger, wir sind sein Tempo gelaufen).

Liegt im Vergleichen der Leistungen also ein Problem? Jens Kleinert fängt beim Selbstwert an: „Das Wort hört sich zwar so selbstorientiert an, aber er bildet sich durch den Vergleich mit anderen.“ Das heißt, wir messen uns an dem, was wir gegenüber anderen können. Darin liege die Krux. Wenn wir uns mit einer professionellen Leichtathletin vergleichen, kann deren Leistung unerreichbar sein und uns runterziehen. Mit dem Nachbarn können wir vielleicht mithalten, was wiederum motivierend ist und uns anspornt. „Der Selbstwert ist sehr stark sozial orientiert“, sagt Kleinert, „das heißt, der Vergleich mit anderen ist in uns verankert und hängt von den Beziehungen zu anderen Menschen ab.“

Hier stellen uns Instagram, Tiktok und auch Strava ein Bein. Seit vier, fünf Jahren seien auf Social Media zwar auch Leute aktiv, die Fehler machen, die Dinge nicht so richtig können. Überwiegend präsentierten sich aber die Könner, sagt Kleinert. Wir vergleichen uns so automatisch mit einer Auswahl an Menschen, die nicht die Realität abbilden. Das Resultat: Wir blicken in einen manipulierten Spiegel und fühlen uns im Vergleich immer minderwertiger. „Das ursprüngliche Selbstwertprinzip funktioniert auf Social Media nicht mehr, weil Vergleiche oft einseitig negativ ausfallen“, sagt Kleinert. „Das ist ein Problem für die Freude an Leistung.“

Auf Sport-Apps übertragen kann das bedeuten, dass wir utopische Bestzeiten von uns erwarten – und uns schlecht fühlen, wenn wir sie nicht erreichen.

Parallel zum Hype um die App gründen sich in vielen Städten zunehmend Laufclubs. Laufen ist Lifestyle geworden, Strava schreibt in seinem Jahresreport 2024 sogar ganz unironisch, dass Laufclubs die neuen Nachtclubs seien. Theoretisch ist joggen einer der günstigsten Wege, sich zu bewegen. Ein ausgebeultes Schlafshirt, Hose egal, die Schuhe sollten etwas federn und los, Meter machen. Theoretisch. Auf Social Media gab es 2024 den Trend, sein teuerstes Outfit anzuziehen. Ein Sportinfluencer zeigt sich im schwarzen Nike-Ganzkörperlook, neonpinken Schuhen mit Carbonsohle, GPS-Uhr, Sportbrille von Prada. Es scheint, als ginge es nicht nur darum, schnell, weit und häufig zu laufen, sondern dabei auch noch krass auszusehen.

Gerlach läuft auch regelmäßig bei einem Laufclub mit. Sie joggen sonntagmorgens, danach trinken sie oft zusammen Kaffee. Peter Duran hat die Gruppe in Berlin vor rund fünf Jahren mitgegründet. Ihm sei es nicht darum gegangen, einen Lifestyle zu hypen. Er wollte zusammen mit Freun­d:in­nen laufen, dann kam die Coronapandemie und immer mehr Leute schlossen sich ihnen an. Mittlerweile sind 200 Leute Teil der Gruppe, manche laufen jede Woche mit, andere selten.

Warum, glaubt er, ist Laufen gerade in? „Wenn ich pessimistisch bin, glaube ich, dass der Kapitalismus es geschafft hat, Laufen cool darzustellen.“ Marken versuchen sich in die Laufclubs einzukaufen, sponsern Shirts für die Gruppe, auch mal Laufschuhe. Der Sport, der bis vor ein paar Jahren noch von Boomern in neonleuchtenden Outfits angeführt wurde, bekommt so einen elitären Look.

Aber Duran hat auch eine andere Erklärung: „Viele haben das Bedürfnis nach einer Gruppe.“ Sozial seien wir sehr entkoppelt, wir verbrächten mehr Zeit vor Bildschirmen als mit anderen Menschen. Im Laufen finden viele Gemeinschaft. „Das ist auch das, was mich am Glücklichsten daran macht“, sagt er. Die Gruppe feuert sich gegenseitig an, wenn sie gemeinsam trainiert, bei Wettkämpfen und natürlich auf Strava: „Krasses Volumen“, „Maschine“, „wohoo“. Da will man das Level halten.

Kira Gerlach sagt, es mache ihr gar nicht unbedingt etwas aus, wenn andere ihre Zeiten sehen. Dass sie wiederum immer sehen kann, wie viel die anderen trainieren, das stresst sie zunehmend. Wenn Freund:innen, mit denen sie für den Marathon trainiert, schon wieder einen langen Lauf hochgeladen haben, denkt Gerlach daran, dass ihr wöchentlicher Longrun noch aussteht.

1. Juni: 16,22 km, 5:16/km

4. Juni: 10,03 km, 5:08/km – after work

6. Juni: 9,03km, 4:37/km – 5x1000 m Intervalle

8. Juni: 7,05 km, 5:03/km

Sie beginnt, Verabredungen am Samstagabend abzusagen, trinkt lieber nichts und geht früh ins Bett, weil sie am nächsten Morgen zum Trainieren verabredet ist.

Wer zu intensiv und mit zu hohem Pensum trainiert, kann in einen Übertrainings­zustand geraten

Oliver Stoll, Sportpsychologe

9. Juni: 17,11 km, 4:41/km, Sonntag 8:49 Uhr

11. Juni: 6,82 km, 4:01/km, 5x800

12. Juni: 15,25 km, 5:15/km

14. Juni: 7,13 km, 4:18/km – Tempo

17. Juni: 10,13 km, 5:03/km

19. Juni: 9,17 km, 283 Höhenmeter

22. Juni: 15,24 km, 604 Höhenmeter – steile, rutschige Waldwege und zwei Flüsse zu überqueren

23. Juni: 22,03 km, 5:30/km – durch Bern

Zum diesen 22 Kilometern postet sie ein Foto vom Rhein, der sich klar durch die Schweizer Stadt schlängelt. Was auf Strava nicht zu sehen ist: Gerlach hatte gar nicht unbedingt Lust auf diesen Halbmarathon. Ihr linkes Bein schmerzt beim Laufen, von der Hüfte zieht es runter in den Oberschenkel. Sie ignoriert das: „Beim Laufen hat man immer mal Wehwehchen.“

Eigentlich bräuchten wir eine ausgeprägtere Fehlerkultur, sagt Jens Kleinert. „Da gibt es diesen schönen Begriff der Self-Compassion, übersetzt heißt das so viel wie Selbstmitgefühl.“ Gemeint sei, dass man nicht zu hart mit sich ins Gericht geht. Wenn man nicht die drei Kilo abgenommen hat, nicht gewonnen hat oder auch mal drei Wochen nicht beim Sport war, solle man sich das selbst verzeihen und sich stattdessen fragen: Was bedeutet das und wie gehe ich damit um?

Das Gleiche gelte für eine soziale Fehlerkultur. „Einen Trainer, der auch mal sagt ‚ist okay, wenn du heute keinen Bock hast‘, sehen wir in der Fitnessbranche eher selten“, sagt Kleinert. „Meistens heißt es pushen, pushen, pushen.“ Ganz selten sieht man auf Strava Läufe, die abgebrochen werden, „gar keine Lust heute“, schreibt eine Frau. Statt Flammen werden Umarmungs-Emojis kommentiert.

Rückblickend sagt Gerlach über den Lauf in Bern: „Das war der Moment, wo ich einfach mal auf meinen Körper hätte hören sollen.“ Es habe immer mal Tage gegeben, an denen sie keine Lust hatte, aber während des Laufens sei der Spaß gekommen. Im Juni muss sie sich aber durch Trainingseinheiten durchbeißen, die Freude bleibt aus. „Alles fühlte sich anstrengender an“, sagt Gerlach und sie merkt, die Leistungskurve geht nicht mehr hoch.

Der Sportpsychologe Oliver Stoll sagt, es bestehe die Gefahr, sich zu viel zuzumuten. Viele würden nicht richtig essen, hätten einen Vollzeitjob und wollten gleichzeitig Topleistungen im Sport bringen. Alles zu jonglieren – schwierig. Was ist der häufigste Fehler? „Falsche Pausen“, antwortet Stoll direkt. „Radfahren gehen, das ist keine Pause.“ Die Belastung auf den Muskeln und Knochen sei zwar eine andere als beim Laufen, aber das Herz-Lungen-System werde trotzdem gefordert. „Und diese Beanspruchung ist genauso hoch.“

In vielen Städten haben sich in den vergangenen Jahren Laufclubs gegründet

Wer zu intensiv mit einem zu hohen Pensum trainiert, könne in einen Übertrainingszustand geraten. „Und da kommt man nur schwer wieder raus“, sagt Stoll. Symptome seien permanente Müdigkeit, obwohl man viel schläft, und eine höhere Ruheherzfrequenz als gewöhnlich. „Dieser Zustand ist nicht so schlimm wie ein Kreuzband­riss, aber es haut einen aus der Saisonplanung.“ Stoll habe schon Läu­fe­r:in­nen erlebt, die drei, vier Monate in dem Energietief festhingen. Was helfe, sei, die Belastung runterfahren, essen, zunehmen – und nicht zu früh wieder anfangen.

25. Juni: 5,41 km, 3:59/km – 5x800

27. Juni: 13,25 km, 5:23/km

28. Juni: 11,11 km, 4:44/km – nachts um halb 10 nach Hause gelaufen

30. Juni: 18,06 km, 5:14/km, 20:30 Uhr

Gerlachs Bein tut weh. Nicht mehr nur am Ende eines Laufs, sondern immer ein bisschen. An Abenden, an denen sie frei hat und Freun­d:in­nen treffen könnte, ist sie zu erschöpft, hat keine Lust, unter Leute zu gehen.

Das Laufen entwickelt sich von einer Freizeitaktivität zu einem zusätzlichen To Do auf der ohnehin langen Liste. Im Trainingsplan geben bunte Felder vor, an welchem Tag Gerlach wie lange laufen soll: Dienstags langsamer Dauerlauf, donnerstags soll sie schnell sein. Feuerrot leuchten die Tage, an denen sie eine Halbmarathondistanz zurücklegen soll. Sechs Stunden und mehr nimmt das Training pro Woche in Anspruch.

Sie braucht das Laufen für den Kopf, den Flow, damit die Gedanken schweigen und der Stress nachlässt. Aber rennen kostet viel Energie, die ihr dann bei der Arbeit fehlt.

2. Juli: 6,33 km, 5:52/km

3. Juli: 11,05 km, 5:17/km

5. Juli: 21,21 km, 5:03/km

7. Juli: 20,01 km, 5:28/km

Kira Gerlach spürt gerne, wie sich ihre Leistung entwickelt

Trotz vieler Dehnübungen und Faszienrolle lässt der Schmerz im Bein nicht nach. Auch beim Gehen sticht es manchmal. Gerlach geht zum Physiotherapeuten, er sagt, es muss nicht, aber es könnte etwas am Knochen sein.

9. Juli: 10,40 km, 5:13/km

10. Juli: 9,44 km, 5:07/km

und dann

13. Juli: 30,07 km, 5:19/km, 2h 41min – getting lost in the forest with myself

„Eine richtig dumme Aktion“, wie Gerlach sagt. Übers Wochenende fährt sie in ein Haus am See. Sie will sich herausfordern, also steigt sie früher aus dem Zug und läuft die restliche Strecke durch dichten Wald, vorbei an Heufeldern, über Wiesen. Unterwegs nimmt sie die Kopfhörer raus, um die Natur zu hören. Vorher hat sie eine Schmerztablette geschluckt.

Als sie ankommt und in den See springt, einen Beinschlag macht, durchfährt sie höllischer Schmerz. Als würde ihr Körper schreien: Hör endlich auf! Das MRT ein paar Tage später ergibt: Ermüdungsbruch, Grad 3 von 5. Im linken Oberschenkel nahe der Hüfte sind durch das intensive Laufen Haarrisse im Knochen entstanden, in die Flüssigkeit eingedrungen ist. In beiden Hüftgelenken, da wo der Oberschenkel auf die Hüfte trifft, hat sie Blutergüsse.

Wenn man so viel läuft, dass der Knochen nachgibt, hat das dann mit Sucht zu tun? Oliver Stoll zählt auf, welche Faktoren zu einer Suchterkrankung gehören. Man steigert die Dosis, isoliert sich, fokussiert sich auf die suchterhaltende Tätigkeit, hat Entzugssymptome. Und ganz entscheidend, man leidet darunter, dass man es macht. „Süchtige wollen gar nicht weitermachen, aber es ist der einzige Weg, das Spannungsgefühl loszuwerden. Die haben so große Blasen an den Füßen, dass das Fleisch bis zum Knochen offen liegt, und laufen trotzdem weiter“, sagt Stoll. Sportsucht, die offiziell auch gar nicht diagnostiziert werden kann, gäbe es ganz selten. Weniger als ein Prozent der Menschen, die Sport treiben, seien davon betroffen.

Zu einem anspruchsvollen Ziel gehörten die Tage, an denen man keinen Bock hat, dazu. „Das ist normal im Sport“, sagt Stoll, „das finde ich nicht schlimm.“ Wenn die Lust aber jeden Tag fehlt oder man verletzt ist und trotzdem laufen geht, „dann hat man ein Problem“. Für Oliver Stoll klingt Gerlachs Fall nach Leidenschaft. Die trete in zwei Varianten auf, harmonisch oder zwanghaft. Die zwanghafte Leidenschaft sei eine Vorstufe zu dem, was mal eine Suchterkrankung werden könne.

Zehn Wochen darf Gerlach gar nicht laufen gehen, am Anfang nicht mal spazieren, sie soll Treppenstufen meiden. Zuerst will sie sich nicht eingestehen, dass aus dem Marathon nichts wird. Sie beruhigt sich mit dem Gedanken, dass es ohne hohe Ambitionen klappen könnte, wenn sie einfach entspannt mitläuft? Doch ihr Pensum fällt schlagartig von rund 50 Kilometern pro Woche auf null. Wohin jetzt mit dem Stress? Manchmal kriecht ihr die Anspannung zwischen die Rippen, schnürt ihre Brust zusammen und Panik breitet sich darin aus.

„Aber dann war da auch eine Erleichterung“, sagt Gerlach im Nachhinein, „weil es mich gezwungen hat, eine Pause zu machen.“ Nach zwei Wochen merkt sie, dass es ihr körperlich wieder viel besser geht, dass sie wieder Energie hat. Den Marathonplatz gibt sie weiter und vergräbt sich in ihrem anderen Großprojekt, der Masterarbeit.

Neben dem Laufen sind auch Kraftübungen wichtig, genauso wie richtige Pausen und genug zu essen

Mit ein paar Monaten Abstand gesteht sich Kira Gerlach ein, dass sie sich mit dem vielen Training selbst keinen Gefallen getan hat. „Ich war wie in einem Tunnel“, sagt sie, „habe einfach weitergemacht und mich selbst reglementiert.“ Manchmal habe sie sich ihre eigene Freiheit geklaut und weniger im Moment gelebt, stattdessen immer vorausgedacht, immer die nächste Einheit geplant. „Irgendwie immer maximiert.“

Kira Gerlach ist in ihrem Umfeld nicht die Einzige, die sich kaputt gerannt hat. Auf Anhieb kann sie neun Menschen aufzählen, die einen Ermüdungsbruch hatten. Auch Laufgruppengründer Duran hatte welche in beiden Füßen. Kurz vor Weihnachten schreibt ein Physiotherapeut, der in der Gruppe mitläuft, in den Chat: „2024 war, glaube ich, das Jahr der Ermüdungsbrüche.“ Damit sich das im neuen Jahr nicht wiederholt, schickt er eine lange Liste mit Tipps. Man muss genug Kalorien zu sich nehmen, genug Calcium, Proteine, Vitamin D. Kraftübungen und Pausen machen. Laufen ist eben doch nicht einfach aus dem Haus gehen und losrennen.

Gibt es ein Anzeichen, dass man übertreibt? Motivationsforscher Jens Kleinert holt aus: „Es gibt intrinsische und extrinsische Motivation.“ Intrinsische Motivation bedeute, dass ich Freude an der Sache habe. „Ich fahre Fahrrad, weil ich gerne Fahrrad fahre. Und nicht, weil ich abnehmen will, weil ich länger leben will, auch nicht, weil ich besser schlafen will, sondern nur, weil ich gerne Fahrrad fahre.“ Wenn man extrinsisch motiviert ist, treibe man Sport, um etwas anderes zu erreichen. Also schlank sein, anderen etwas beweisen, cool sein. „Ziele erreichen ist zwar grundsätzlich gut, aber wenn ich immer nur auf die Konsequenzen schiele und nicht der Sport selbst im Mittelpunkt steht, dann verliere ich irgendwann die Freude am Sport treiben. Und das ist ein Riesenproblem.“

Um dem vorzubeugen, rät Kleinert, sich immer wieder mit einem Freund zu fragen: Macht uns das da gerade noch Spaß? Machen wir das gerne?

Bei Strava fehlt diese Funktion. Wie viel Spaß man hatte, will die App nicht wissen.

16. September: 3,58 km – erster Lauf nach 10 Wochen Verletzungspause

Darunter Emojis mit Herzen, Emojis mit Tröten, Sternschnuppen.

Langsam tastet sich Gerlach zurück. Die Uhr sagt ihr, dass sie für einen Kilometer ungefähr eine Minute länger braucht als vor der Verletzung. Und ihr Puls ist auch höher. „Das zu realisieren, war ein harter Moment“, sagt sie. „Am liebsten hätte ich den Puls einfach ausgestellt. Aber ich muss mir einfach Zeit geben.“

Manchmal fühlt sie ein Kribbeln in ihrem Oberschenkel. Dann kriege sie Angst und frage sich: „Ist da wieder was oder bilde ich mir das ein?“

Laufen ist nicht nur Wettbewerb – für viele bedeutet es Gemeinschaft

21. Oktober: 9,25 km, 5:35/km – never felt so unfit

Um sich vor einer erneuten Verletzung zu schützen, macht sie jetzt Krafttraining. Kniebeugen mit einer Hantelstange, Kniebeugen auf einem Bein, Kniebeugen mit Schwung und Kettlebell. Außerdem: Plyometrics. Das sind explosive Sprünge, die helfen sollen, die Knochen zu verdichten. Sie achtet darauf, mehr zu essen – Kohlenhydrate vor dem Sport, Proteine danach – und vor allem, nicht mehr morgens mit leerem Magen laufen zu gehen. Wenn man nicht abnehmen will, ist das gerade für Frauen ein No Go, weil der Körper dann auf Reserven zurückgreift und so verletzungsanfälliger wird. Und, vielleicht besonders schwer: Auf drei Tage Training folgt ein Tag Ruhe.

17. Januar: 13,33 km, 5:26 km – mit den girls

20. Januar: 10,11 km, 4:43/km – Tempo gemacht

25. Januar: 21,05 km, 5:15/km, 1h 50min

28. Januar: 8,4 km, 4:14/km – Intervall Pyramide 400-600-800-1000-800-600-400

Für dieses Jahr nimmt Kira Gerlach sich drei Dinge vor: ein Training auch mal ausfallen lassen, wenn sie keine Lust hat, den Marathon in Kopenhagen laufen und davor, Mitte Februar, den Halbmarathon in Barcelona.

Kurz vor dem Start in Barcelona ist sie unsicher. Sie will den Lauf genießen und gleichzeitig wissen, was ihr Körper nach der Verletzung wieder kann. Für ihr Selbstbewusstsein wäre es ein Push, wenn sie eine gute Zeit läuft, sagt sie. Was ist drin?

16. Februar: 21,30 km, 4:21/km, 1h 32min – so happy with this one!

Eine silberne Medaille glänzt auf Strava. Das war Gerlachs zweitschnellster Halbmarathon, sie war nur eine Minute langsamer als vor der Verletzung. „She’s back“, schreibt eine Freundin darunter.

Sophie Fichtner ist Redakteurin der wochentaz. Sie darf gerade nicht laufen, weil sie beim Radfahren übertrieben hat.

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