Friedensforscherin: „Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
An höheren Militärausgaben führe kein Weg vorbei, sagt die Friedensforscherin Nicole Deitelhoff. Die Weltlage erfordere Einsparungen beim Klimaschutz.
taz: Frau Deitelhoff, was sagen Sie als Friedensforscherin: Wie schlimm ist die Lage?
Nicole Deitelhoff: Wir haben eine US-amerikanische Regierung, die keinerlei Interesse an Europa hat und das deutlich in die Welt hinausposaunt. Das ist schlecht. Aber noch ist nichts passiert. Es gibt kein schriftliches Statement, in dem steht: Schluss mit der Nato und Schluss mit dem transatlantischen Bündnis. Die Lage ist also schlimm, aber es geht noch schlimmer.
taz: Im Ukraine-Krieg scheint es so, als ob die USA schon die Seiten gewechselt haben.
Deitelhoff: Es gab Gespräche zwischen den USA und Russland in Riad. Auch da ist nichts Belastbares herausgekommen, das eine neue Realität schafft. Das kann nur durch das Handeln der US-Regierung passieren. Sieht es da gut aus? Nein. Haben wir den Eindruck, dass sie die richtigen Positionen in diese Vorgespräche eingebracht hat? Nein. Doch wie gesagt: Noch ist nichts passiert oder vereinbart worden.
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taz: Sehen Sie für Deutschland und Europa eine Chance, bei den Ukraine-Verhandlungen einen Fuß in die Tür zu bekommen?
Deitelhoff: Es gibt Handlungsspielraum. Man darf jetzt nicht panisch erstarrt über den Atlantik schauen. Europa muss seine eigenen Ziele formulieren, Strategien für die Umsetzung entwickeln und sie mit Ressourcen hinterlegen. Deutschland sitzt da momentan nicht gerade auf dem Fahrersitz. Aber unabhängig davon, wer in Europa die Führungsrolle übernimmt, müssen schnell Entscheidungen fallen. Manche davon liegen schon in der Luft.
taz: Worauf kommt es an?
Deitelhoff: Erstens müssen wir stärker in Rüstung investieren. Über die Aufhebung der EU-Defizitgrenzen kann man den Mitgliedstaaten den Spielraum einräumen, den es dafür braucht. Zweitens sind die Truppenstärken in fast allen Mitgliedstaaten zu niedrig und Einheiten nicht schnell genug einsatzfähig und verlegbar. Drittens braucht die Ukraine weitere Militär- und Finanzhilfen. Wenn wir wollen, dass ihre Interessen gleichberechtigt mitverhandelt werden, muss sie sich im Krieg erst mal behaupten können. Und viertens: Egal wo jetzt gerade Parlamentswahlen stattfinden, muss Europa etwas in eine mögliche Verhandlungsmasse einbringen. Dazu gehören ernsthafte Sicherheitsgarantien.
taz: Sind Sicherheitsgarantien ohne ausländische Truppen vor Ort möglich?
Deitelhoff: Nein, das wird nicht gehen. Dazu ist die mögliche Waffenstillstandslinie zu lang und die Anreize sind zu groß, sie zu übertreten. Die Frage ist nur: Stehen die ukrainischen Streitkräfte an der Waffenstillstandslinie und die ausländischen Truppen stehen im Hinterland für den Fall einer Aggression bereit? Oder sind die ausländischen Truppen an vorderster Front nötig? Dann bräuchte es zwar weit weniger Soldat*innen, aber das Eskalationspotenzial wäre ungleich höher, wenn sie aus Nato-Ländern kämen.
taz: Die nächste Bundesregierung muss also zwingend deutsche Soldat*innen in die Ukraine schicken?
Deitelhoff: Noch mal: Es steht nichts fest. Diese Frage wird erst virulent, wenn es eine Waffenstillstandsvereinbarung gibt, der die Ukraine zustimmt. In dem Moment müssen die Europäer aber bereit sein, auch mit eigenen Soldatinnen und Soldaten dort reinzugehen. Das ist zumindest das Pfund, mit dem man wuchern kann, wenn man an den Verhandlungstisch will.
taz: Wie könnte der deutsche Beitrag zu so einer Mission aussehen?
Deitelhoff: Grundsätzlich hat Deutschland das gleiche Problem wie viele andere europäische Staaten: Wir haben keine Truppenkontingente, die wir von heute auf morgen in die Ukraine schicken könnten. Wir haben nirgends 20.000 Leute stehen, die nichts zu tun haben und innerhalb kürzester Zeit verlegungsfähig wären. Wir sind momentan dabei, eine Brigade für Litauen aufzustellen, und das ist schon eine enorme Anstrengung für eine über die Jahre stark reduzierte Bundeswehr. Sollten die USA tatsächlich entscheiden, ihre Truppen zum Beispiel an der Nordostflanke der Nato zurückzuziehen, wird das Problem noch größer. Dann müssten die europäischen Staaten eigentlich auch im Baltikum mit größeren Ressourcen reingehen, um Russland dort keine offene Tür zu hinterlassen.
taz: Laut einer Studie von Greenpeace ist Europa Russland bei Verteidigungsausgaben, den Truppenstärken und konventionellen Waffensystemen weit überlegen. Reicht das nicht?
Deitelhoff: So einfach ist es nicht. Ich bin Friedensforscherin, mein Interesse an einer Militarisierung unserer Gesellschaft ist gleich null. Aber man muss sich mit den Realitäten befassen. Wenn man sich die militärischen Fähigkeiten rein nach Ausgaben anguckt, dann stehen wir besser da als Russland. Tatsächlich haben wir aber das Problem, dass wir für das gleiche Geld nicht das Gleiche kriegen. Das liegt daran, dass die 27 EU-Staaten immer noch Rüstung nur für sich selbst beschaffen. Wir haben in jeder Kategorie von Rüstungsgütern unterschiedliche Modelle. Es sind außerdem bestimmte Fähigkeiten, die uns in Europa fehlen: Bei der Aufklärung, der Flugabwehr und bei Verlegekapazitäten haben wir große Lücken.
taz: Diesen Sonntag steht auch zur Wahl, die Verteidigungsausgaben beizubehalten, zu senken oder zu erhöhen. Was ist richtig?
Deitelhoff: Wir kommen gegenwärtig nicht umhin, mehr auszugeben. Punkt.
taz: Gleichzeitig haben wir eine zunehmend marode zivile Infrastruktur sowie große Finanzierungbedarfe bei der Pflege und im Gesundheitsbereich.
Deitelhoff: Es ist fürchterlich, dass wir im 21. Jahrhundert so über Verteidigung und Aufrüstung nachdenken müssen. Doch noch mal: Die USA ziehen sich zurück, und eventuell müssen wir in der Ukraine eine Waffenstillstandsvereinbarung absichern. Die Frage ist, wie man das finanziert. Und da liegen zwei Optionen auf dem Tisch: mehr Kredite aufnehmen oder die Schuldenbremse einhalten und irgendwo im Haushalt umschichten.
taz: Und was sagen Sie?
Deitelhoff: Ich vermisse im Kontext der Wahlen eine Ehrlichkeit in der Debatte. Wir können nicht so tun, als würden wir in Frieden leben, alle unsere Wünsche erfüllen und dabei auch in Verteidigung in dem Maße investieren, wie wir das möchten. Wir müssen darüber reden, wo wir Abstriche machen können. Das wird dazu führen, dass anderes, das genauso wichtig ist – Bildung, Klimaschutz – zumindest verschoben werden muss. Man kann nicht alles über Schulden finanzieren, sondern muss auch Prioritäten setzen.
taz: Das klingt, als sollte Deutschland auf Kriegswirtschaft umstellen und alle anderen gesellschaftlichen Fragen hinter der Geopolitik anstellen.
Deitelhoff: Nein, um Gottes Willen. Solche Eindrücke entstehen schnell, wenn man diese Gespräche führt. Wir können natürlich keinen sozialen Kahlschlag betreiben. Aber es geht darum, Umschichtungen vorzunehmen und manche Dinge auf die längere Bank zu schieben. Das kann man nicht im Federstreich machen, sondern muss darüber ernsthaft miteinander ringen. Und ohne eine Reform der Schuldenbremse wird es nicht gehen.
taz: Aber dieser Streit wird doch sehr intensiv geführt. Der Unmut in der Bevölkerung wurde bei dem Thema etwa prominent durch das BSW und die AfD kanalisiert.
Deitelhoff: Wenn AfD und BSW angeben, für den Frieden einzustehen, dann meinen sie etwas anderes. Sie sprechen dann von Verhandlungen mit Russland und werben dafür, dass die Sanktionen aufgehoben werden, um die Wirtschaft in Deutschland zu stärken. Sorry, aber das ist kein Friedenskonzept.
taz: Würden Sie sagen, der Bundestagswahlkampf ist der globalen Lage gerecht geworden?
Deitelhoff: Nein, das ist er sicher nicht. Die Ukraine ist erst eine Woche vor der Wahl zum Thema geworden. Die Kampagnen waren angesichts der Lage, in der sich Europa und dieses Land befinden, nicht angemessen.
taz: Wir haben in diesem Gespräch sehr viel über Aufrüstung gesprochen. Was braucht es neben Waffen noch, um langfristig in Sicherheit zu leben?
Deitelhoff: Eine Lehre des Kalten Kriegs ist: Es funktioniert nicht, sich nur massiv aufzurüsten und den anderen dominieren zu wollen. Sonst kommt man schnell an den Punkt, wo es um alles oder nichts geht. Denken Sie an die Kubakrise. Wir müssen auch über Wege nachdenken, wie man aus dieser Nummer wieder herauskommt, wie man zumindest friedliche Koexistenz wieder gewährleisten könnte. Mit anderen Worten: Wir müssen jetzt schon darüber nachdenken, wie irgendwann eine neue Sicherheits- und Friedensarchitektur in Europa aussehen könnte.
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