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Forscher über Einwanderungspolitik„Migration gilt als Verliererthema“

Der Wahlkampf war schrill. Doch dass sich etwas ändern muss, sagen auch Migrationsforscherin Naika Foroutan und Politologe Wolfgang Schroeder.

Naika Foroutan und Wolfgang Schroeder Foto: Tina Eichner

taz: Im Wahlkampf haben Union und SPD konkurriert, wer Menschen härter zurückweist und konsequenter abschiebt. War das nötig?

Wolfgang Schroeder: Nein, das war unnötig. Die zerbrochene Ampelregierung hat viele Restriktionen eingeführt. Sie hat es geschafft, Migration mit dem Geas-Abkommen europäisch zu regeln. Bei sachlicher Betrachtung hätte man sagen können: Wir konzentrieren uns im Wahlkampf auf Wirtschafts- und Sozialpolitik. Aber nach den Attentaten in Magdeburg und Aschaffenburg hieß es: Die Bevölkerung will dieses Thema. Dabei ist es ein toxisches Thema, von dem vor allem die AfD profitiert.

Im Interview: Zu den Personen

Naika Foroutan, 53, ist Professorin für Integrationsforschung und Gesellschaftspolitik an der Humboldt-Universität Berlin, Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) und Mitglied im wissenschaftlichen Beirat der Denkfabrik Progressives Zentrum.

Wolfgang Schroeder, 64, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Kassel, Vorsitzender der Denkfabrik Progressives Zentrum und Fellow des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB). Von 2009 bis 2014 war er Staatssekretär im Ministerium für Arbeit und Soziales in Brandenburg.

Naika Foroutan: Anfang Dezember war Wirtschaft laut Umfragen noch ganz klar das wichtigste Thema für die Bevölkerung. Mit Aschaffenburg und München wurde Migration neben der Wirtschaftsfrage zur zentralen Sorge der Menschen. Haben die Attentate die Stimmung gekippt? Mit Sicherheit. Aber die politische Entscheidung, Migration zum zentralen Thema zu machen, hält es ganz oben im ­Sorgenspektrum. Wir wissen aus der Wahlforschung, dass die von Parteien gesetzten Themen die Bevölkerung framen können. Klima spielte zum Beispiel aktuell im Wahlkampf kaum eine Rolle – obwohl es ein massives Problem bleibt.

Schroeder: Hinzu kommt: Wenn Parteien diese aufgewühlte Stimmung aufnehmen, dann müssen sie auch Lösungen bieten. Friedrich Merz hat aber durch seine Kompromisslosigkeit gegenüber SPD und Grünen den Weg zu einer gemeinsamen Lösung versperrt.

taz: Herr Schroeder, hat die gesellschaftliche Linke Fehler in der Mi­gra­tions- und Asylpolitik gemacht?

Schroeder: Die progressiven Kräfte sollten bestimmte Denkblockaden überwinden. Wenn Konservative sagen „Wir brauchen eine Obergrenze von 200.000 Asylbewerbern“, ist es kurzschlüssig, dies mit dem Hinweis auf den 200.001sten Asylbewerber moralisch rigoros abzulehnen und für undenkbar zu erklären. Es führt in eine Sackgasse, Grundprinzipien des Universalismus gegen den Utilitarismus zu setzen. Bei einer Demokratiekonferenz hat eine Kollegin kürzlich behauptet, dass Arbeitskräftezuwanderung utili­taristisch und damit der Einstieg in den Rechtsextremismus sei. Mit solchen Thesen ist es schwierig, realitätstüchtige Migrationskonzepte zu entwickeln.

taz: Brauchen wir eine Begrenzung von Migration?

Schroeder: Ja, aber nicht so, wie es gerade geschieht. Es ergibt keinen Sinn, das im Wahlkampf zu thematisieren, wenn man keine strukturell vernünftigen und praktikablen Antworten hat. Damit vermehrt man nur Missgunst und Misstrauen in dieses System. Wir brauchen Vertrauen. Insofern müssen die politischen Akteure überlegen, wie sie Migration ohne Affekte und großes gesellschaftliches Palaver bearbeiten.

Naika Foroutan, 53, Professorin für Integrations-Forschung an der HU Berlin, Direktorin des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrations-Forschung Foto: Tina Eichner

taz: Frau Foroutan, brauchen wir eine Begrenzung von Migration?

Foroutan: Ich bin für eine Steuerung, für transparente Zahlen. Und für Planbarkeit. Falsch finde ich, was Merz sug­geriert: Niemand kommt mehr rein, die Grenzen werden dicht gemacht, dann haben wir das Problem im Griff. Das ist ein Trugschluss. Denn wir brauchen aus demografischen und wirtschaftlichen Gründen mindestens 400.000 Eingewanderte pro Jahr netto. Migration als Ganzes – auch wenn Merz es auf irreguläre Migration einschränkt – wird aktuell als Bedrohung wahrgenommen.

Diese Lesart hat alle politischen und humanitären Sichtweisen verdrängt. Interessant ist: Die Ampel hat zwar scharfe Restriktionen durchgesetzt, sie war aber auch die Regierung mit der vergleichsweise progressivsten Migrationspolitik. Es gab eindeutige Verbesserungen wie das Fachkräfteeinwanderungsgesetz, das Chancenaufenthaltsrecht, die Erleichterungen bei der Anerkennung ausländischer Abschlüsse, die Erleichterungen bei Visa und die Reform der Staatsbürgerschaft. Da ist viel umgesetzt worden, was vorher jahrzehntelang unmöglich war. Die Ampel hat das Progressive aber eher versteckt.

taz: Die Ampel-Parteien haben sich nicht getraut, Fortschritte offensiv zu verkaufen?

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Foroutan: Ja, weil Migration als Verliererthema gilt. Olaf Scholz hat sich mit dem Satz „Wir werden in großem Stil abschieben“ als Abschiebekanzler inszeniert. Die reale Politik, die er gemacht hat, war produktiver und progressiver. Besonders deutlich wird das an den Migrationsabkommen, die mit Ländern wie Indien, Kenia, Georgien, Usbekistan und mehr geschlossen wurden. Das sind eigentlich Anwerbeabkommen für mehr Arbeits- und Fachkräfte, bei denen es auch um den Ausbau regulärer Zugangswege geht. Sie wurden aber vorrangig als Rückführungsabkommen verpackt.

taz: Die deutsche Migrationspolitik ist besser als ihr Ruf?

Foroutan: Die Ampel hat einiges getan. Trotzdem stolpert Deutschland migrationspolitisch seit Jahren den Ereignissen hinterher. Deutschland steht bei der Zuwanderung in absoluten Zahlen inzwischen an zweiter Stelle hinter den USA. Wir sind ein zentraler Mi­gra­tions­ak­teur weltweit geworden. Aber wir planen Migration politisch nicht als Zukunftsstrategie – sondern immer nur als Abwehrfphantasie. Wir haben immer noch kein Migrationsministerium. Migrationsfragen werden vorrangig aus dem Innenministerium gesteuert, das vor allem mit Sicherheitsfragen beschäftigt ist.

Wolfgang Schroeder, 64, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Kassel, Vorsitzender der Denkfabrik Progressives Zentrum Foto: Tina Eichner

taz: Viele klagen, dass die Integration in Deutschland nicht effektiv genug läuft. Stimmt das?

Schroeder: Im internationalen Vergleich steht Deutschland integra­tions­politisch bei vielen Indikatoren sehr gut da. Es gibt aber offenkundige Mängel und Überlastung. 30 Prozent der Kommunen klagen, dass Integration sie überlastet. Das kann man nicht ignorieren. Zumal der Eindruck entstanden ist, dass dies für alle Kommunen gilt – was nicht der Fall ist. Vieles, worüber wir sprechen, ist Behördenversagen, ist Steuerungsversagen, ist Staatsversagen. Die Bevölkerung ist massiv gewachsen. Die Prognosen vor gut 20 Jahren gingen von 78 Millionen Bewohnern aus. Wir sind jetzt mehr als 84 Millionen. Die Infrastruktur ist aber nicht nur nicht mitgewachsen, sie hat sich qualitativ und quantitativ verschlechtert. Das ist ein Ressourcenproblem. Wir haben unzureichende Infrastruktur für diejenigen, die schon immer hier gelebt haben. Und wir haben eine unzureichende Infrastruktur für die, die dazukommen sind. Wir haben also vielerorts einen Mangel an Kindergärten, Schulen, Krankenhäusern …

Foroutan: … Schwimmbädern, Wohnungen, psychosozialer Versorgung …

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Schroeder: Und das sorgt für die explosive Konkurrenz zwischen den Gruppen.

Foroutan: Der Strukturabbau hat ja schon 2008 mit der Austeritätspolitik eingesetzt. Das fällt uns jetzt auf die Füße.

taz: Die Stadt Schwäbisch Gmünd hat nach 2016 aus freien Stücken viele Geflüchtete aufgenommen. Jetzt sagen Bürgermeister und Schulleiterin: Wir schaffen das nicht mehr. Wir brauchen eine Pause. Der Bürgermeister fordert einen zweijährigen Aufnahmestopp. Ist das eine Lösung?

Schroeder: Wir brauchen Begrenzung. Die gesellschaftliche Stimmung ist überhitzt. Die reale Überforderung an manchen Orten kommt hinzu. Wir wissen aus Studien, dass die Menschen, die eine gewisse Migrationsskepsis haben, sich von den demokratischen Parteien nicht mehr verstanden fühlen und sich abwenden. Darauf müssen wir klug rea­gieren. Naika, du betonst: Unser Wirtschaftswachstum baut maßgeblich auf Zuwanderung auf. Das ist richtig. Aber gleichzeitig haben wir auch eine Entkopplung zwischen Bürgern und demokratischen Parteien und eine Erosion unseres politischen Systems. Wir müssen die Migrationsfrage entpolitisieren, aber klug steuern und gleichzeitig auf die Bedürfnisse der Bevölkerung eingehen. Das ist eine schwierige Gratwanderung.

Foroutan: Aber ein zweijähriger Zuwanderungsstopp wäre doch keine Lösung. Deutschland braucht 400.000 Einwanderungen netto pro Jahr. Dafür brauchen wir auch die Menschen, die über den Asylweg, den Fluchtstatus hierher gekommen sind. Würden wir die vorher selektieren, wären wir noch weiter von der Anzahl der Arbeitskräfte entfernt, die wir brauchen. Von den Männern aus Syrien, die 2015/2016 gekommen sind, sind 80 Prozent so­zial­versicherungspflichtig beschäftigt. Ein temporärer Zuwanderungsstopp könnte vielleicht funktionieren, wenn es eine andere funktionierende migrationspolitische Bahn gäbe, wie zum Beispiel in Kanada.

Was heißt das konkret?

Foroutan: Kanada hat Kontingentierungen. Die werden jeweils für drei Jahre berechnet, und dann können entsprechend viele Menschen einwandern. Mein Cousin zum Beispiel aus Iran, der nach Kanada will, sieht dann: Er steht auf Platz 1,2 Mil­lio­nen. Er kann also tracken, dass sein Antrag in etwa in drei Jahren und einem Monat angenommen wird. Diese Planbarkeit nimmt auch den Migrationsdruck raus. Das alles hat Deutschland nicht. Des­wegen ist hierzulande auch der Asyldruck so stark. Es gab in den letzten Jahren außer Asyl nur sehr eingeschränkte Zugangsmöglichkeiten für Menschen aus Drittstaaten. Es ist extrem kompliziert aus einem Drittstaat nach Deutschland zu kommen. Auch qualifizierte Fachkräfte scheitern an Bürokratie, Visavergabe, mangelndem Personal.

taz: Die Mitte-links-Parteien lehnen restriktive Migrationsmaßnahmen wie Grenzkontrollen ab. Dann steigt der Druck, sie knicken ein. Der Eindruck entsteht, dass Mitte-links sich von rechts treiben lässt, zu spät rea­giert und keinen Plan hat. Das nutzt rechten Parteien.

Schroeder: Das ist fatal und schädlich für Mitte-links-Parteien. Am Ende setzen sie eine Politik um, die ihrer eigenen Programmatik widerspricht. Sie verwickeln sich in Widersprüche, verlieren ihre Stammwählerschaft. Obwohl sie getan haben, was die Mehrheit der Bevölkerung wollte, sind sie am Ende schwächer als vorher.

Foroutan: Wir sollten die Kausalität zwischen Migration und den Erfolgen ra­dikal rechter Parteien nicht überhöhen. Das gilt vielleicht derzeit in Deutschland. Aber es ist kein generelles Muster. In Schweden, Dänemark, der Schweiz und Österreich hatten Rechtspopulisten schon vor der großen Flucht­mi­gra­tion hohe Zustimmungswerte. Ich habe den Verdacht, dass scheinbar alles mit der Migra­tions­frage verknüpft ist, weil wir es so erzählen. Wir könnten auch genauso gut sagen: Der Strukturabbau ab 2008 hat die rechten Parteien groß gemacht.

taz: Lässt sich der Erfolg von Trump ohne das Thema Migration erklären?

Foroutan: Natürlich. Trump ist als Phänomen vor allem durch die wachsende Ungleichheit in den USA zu erklären. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Mark Lilla hat vor acht Jahren argumentiert, dass Trump die Wahl 2016 gewonnen hat, weil die Demokraten zu viel über Gendern und Minderheiten und zu wenig über soziale Themen gesprochen haben. Da wurde dann „Wokeness“ verantwortlich gemacht. Man sieht, wie selektiv das ist – als ob Frauen- und Minderheitenrechte nicht mit sozialen Themen zusammenhängen würden. Eine kulturelle Kampferzählung wurde ins Feld geführt, um zu emotionalisieren und vom Strukturabbau abzulenken.

Gespräch im taz-Haus an der Berliner Friedrichstraße Foto: Tina Eichner

Schroeder: Migration macht Gesellschaften heterogener und unübersichtlicher. Das ist auch ein Grund, warum die AfD-Parolen wirken. Sie bedienen das Gefühl, man würde für Migranten nur zahlen und nie etwas zurückbekommen.

Foroutan: Muss die Politik auf jede gesellschaftliche Stimmung reagieren? Wenn die Mehrheit der Bevölkerung über Jahrhunderte dachte, die Juden töteten Kinder und gossen das Blut in ihre Matzen – heißt das dann, dass die Politik die „Sorgen“ der Bevölkerung ernst nehmen muss? Oder muss sie Ressentiments, Rassismus und Antisemitismus korrigieren? Es ist Populismus, immer zu spiegeln, was die Mehrheit hören will – oder gar es anzufachen. Dabei kommt die Politik der AfD heraus. Leider auch der populistische Schwenk von Friedrich Merz. Der behauptet, er mache jetzt mal die Grenzen dicht, obwohl das weder politisch, noch rechtlich, noch infrastrukturell machbar ist. Nur weil es ein Teil der Wähler hören will.

taz: Und wie kommen wir aus dieser Populismusfalle heraus?

Foroutan: Wir müssen die Migrationsfrage stärker technokratisch und sozialgestalterisch besprechen. Sie wird seit Jahren viel zu emotional aufgeladen. Von allen Seiten, auch von jenen, die den menschenrechtlichen Aspekt betonen. Das codiert Migration zu einer Null-eins-Frage.

taz: Es gibt nur dafür oder dagegen?

Foroutan: Genau. Die Sache ist aber viel komplexer. Empirisch betrachtet weist viel auf eine Verknappung von Migration hin. Das mag vielleicht derzeit niemand glauben, es stimmt aber. Vier Prozent der Weltbevölkerung sind Migranten, 96 Prozent leben und sterben dort, wo sie geboren wurden. Es ist also eine kleine Gruppe. Es ist möglich, dass es – wenn es zu einer Verknappung von Arbeitsressourcen kommt – zu einer stärkeren weltweiten Konkurrenz um Mi­gran­t:in­nen kommt.

Schroeder: Mit dem Bild läufst du Gefahr, das Problem zu neutralisieren. Es gibt Schulklassen mit 70 Prozent Kindern aus Zuwanderungsfamilien und ohne Schulsozialarbeiter. Da nutzt es nichts, darauf hinzuweisen, dass sich globale Migration in Zukunft verändert.

Foroutan: Aber ohne Migration gibt es auch nicht mehr genug Schulsozialarbeiter, für Pflegekräfte gilt das sowieso. Der Bedarf an migrantischen Arbeitskräften ist weltweit enorm groß. Südkorea und Japan, die jahrelang eine extrem restriktive Migrationspolitik gefahren haben, wandeln sich langsam zu Anwerbenationen. Der ambitionierte Golffuturismus braucht auch jede Menge migrantische Arbeitskräfte. Oder das Beispiel Brexit: Danach fehlte den Briten die polnische Zuwanderung, die Regale in den Supermärkten waren leer, weil die Waren nicht mehr transportiert wurden. Die britische Regierung hat Polen gefragt, ob sie zeitweise wieder in Großbritannien arbeiten würden – ohne Erfolg. Polen ist kein Auswanderungsland mehr. Das sind dynamische Prozesse. In Berlin fährt die U-Bahn seltener. Nicht mal in diesem Sektor, in dem wirklich schnell ausgebildet werden kann, sind genug Arbeitskräfte vorhanden.

Schroeder: Wir brauchen Migranten als Arbeitskräfte. Das ist die sachlich-fachliche Ebene. Aber wir haben auch noch die politisch-kulturelle Ebene, wo es Widerstände gibt. Und es gibt ein gefährdetes politisches System, das auf dem Hintergrund dieser schwierigen Gemengelage enorm in die Defensive gekommen ist.

Foroutan: Die Gefahr, dass Demokratien wegen des toxischen Migra­tions­diskurses kollabieren, sehe ich. Sie werden aber volkswirtschaftlich ­kollabieren, wenn es keine Migration mehr gäbe oder eine massive Einschränkung.

taz: Frau Foroutan, in einem Papier für das Progressive Zentrum fordern Sie in drei Jahren eine Zuwanderung von 4,5 Millionen Menschen. Ist Deutschland derzeit bereit dafür?

Foroutan: Das ist die Bruttomigration, die man braucht, wenn 400.000 Menschen jährlich bleiben sollen. Die Wirtschaftsforschungsinstitute sagen: Wenn weniger kommen, haben wir ein veritables Problem.

Schroeder: Ich bin skeptisch. Die gefühlte Lage der Republik hat sich in den letzten zehn Jahren dramatisch verschlechtert. 2015 fanden nur 20 Prozent der Bevölkerung, dass es zu viele Migranten gibt, jetzt sind es 65 Prozent. Die Ausgangslage ist denkbar schlecht.

taz: Wie kann man die verbessern?

Schroeder: Positiv beeinflussen kann man diese ablehnende Stimmung mit der schnellen Integration in Arbeit und mit einer Modernisierung der Verwaltung, die ja die Voraussetzung für eine planende und vertrauenerweckende Migrationspolitik ist. Alle, die ins Land kommen, sollten sofort arbeiten dürfen. Statt langwieriger Sprachkurse müssten mehr Menschen die Sprache auch bei der Arbeit lernen. Kooperative Gesellschaften wie unsere funktionieren über Arbeit. Um die Akzeptanz von Migration zu erhöhen, muss zudem die Verwaltung besser funk­tio­nieren. Eine Studie von Bertelsmann zeigt, dass die Ausländerbehörden in den Rathäusern häufig das letzte Rad am Wagen sind, was Personal und technologische Ausrüstung angeht. Dabei müssten die Ausländerbehörden zu den wichtigsten Behörden in den Rathäusern zählen.

Foroutan: In den letzten zehn Jahren ist das Gefühl entstanden, dass es keine Form von Steuerung bei Migration gibt. Die progressive Antwort darauf ist nicht Grenzen zu, sondern Planung. Das beinhaltet durchaus auch harte Maßnahmen. Aber wenn es nicht einmal genug Personal gibt, um Abschiebungen durchzuführen, wird man auch diesen Mangel nicht ohne Migration beheben.

Schroeder: Vielleicht brauchen wir jetzt eher konkrete Lösungen als große Absichtserklärungen.

taz: Was muss die nächste Bundesregierung in Bezug auf Migration tun?

Schroeder: Wir brauchen als Erstes eine dramatische rhetorische Abrüstung. Migration darf nicht weiter zum Sündenbock werden, weil parallel Zuwanderung zunimmt und Infrastruktur zerfällt. Wir brauchen einen historischen Kompromiss, der die beiden zentralen Themen – Zuwanderung und staatliche Investitionsfähigkeit – in der politischen Mitte neu aufstellt: Dabei könnte die Zuwanderung auch genutzt werden, um den Staatsapparat weiter zu modernisieren und zu professionalisieren. Dies setzt aber voraus, dass die staatliche Investitionsfähigkeit verbessert wird, also die Schuldenbremse reformiert wird, um Integration und Infrastruktur zu verbessern. Hinsichtlich der Zuwanderung wird dies vermutlich nur gelingen, wenn man mehr Zugänge im ökonomischen Bereich eröffnet und die illegale Zuwanderung begrenzt.

Foroutan: Bei uns gilt aber immer noch das Grundrecht auf Asyl. Das wird hier gerade untergraben, weil so getan wird, als ob Flüchtlinge illegale Zuwanderer seien. Laut Grundgesetz und Genfer Flüchtlingskonvention sind sie aber legitime Schutzempfänger, wenn sie bedroht sind. Das betrifft in Deutschland etwa 70 Prozent – laut bereinigter Schutzquote. Wir müssen für die Geflüchteten, die hier sind, stärker den Spurwechsel Richtung Arbeitsmigration ermöglichen und parallel neue Migrationswege öffnen. Wir sollten durch den Druck der AfD nicht weiter in eine planlose und populistische Migrationspolitik bei immer schlechter werdender Infrastruktur stolpern.

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