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Der Wunsch nach Identität von Staat und Volk

Die konformistische Revolte der extremen Rechten erfasst zunehmend auch konservative Kreise. Können die Analysen der Kritischen Theorie dabei helfen, dagegen eine zeitgemäße Strategie zu entwickeln?

„Propaganda ist heute anders.“ Ein Mann überklebt im Januar 2025 ein Plakat der AfD in Berlin Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Von Benjamin Schlodder

Während das Bundesamt für Verfassungsschutz zögert, die AfD als „gesichert rechtsextrem“ zu bezeichnen, zeigt sich die Partei selbst inzwischen offen als Partei des völkischen Nationalismus. Ihrem Zulauf schadet das nicht, eher ist das Gegenteil der Fall. Zugleich herrscht Ratlosigkeit, wie man der immer deutlicher drohenden rechtsextremen Gefahr effektiv begegnen könnte.

Vor Kurzem forderte die Ökonomin Isabella M. Weber eine „antifaschistische Wirtschaftspolitik“, die dazu führen solle, „dass die Menschen sich wieder in ihrem Land zu Hause fühlen“. Weber geht offensichtlich davon aus, es gründe in ihren rationalen, nämlich materiellen, Interessen, dass „die Menschen“ sich nicht mehr in ihrem Land zu Hause fühlen. Wieso aber laufen sie dann zur extremen Rechten über, deren Forderungen ihren materiellen Interessen entgegenstehen? Diese Frage stellte sich schon die Kritische Theorie, als sie seit dem Ende der 1920er Jahre zu einer Auseinandersetzung mit Faschismus, Autoritarismus und Antisemitismus ansetzte. Angesichts der gegenwärtigen Ratlosigkeit scheint es dringend geboten, die damaligen Ansätze zu rekonstruieren und hinsichtlich ihrer Aktualität für die heutige Situation zu befragen.

Eben das tut der schon vor einiger Zeit bei Transcript erschienene und von Leo Roepert herausgegebene Band „Kritische Theorie der extremen Rechten. Analysen im Anschluss an Adorno, Horkheimer und Co.“. Die elf Beiträge erinnern an die theoretischen Überlegungen von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Franz Neumann, Friedrich Pollock, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse, Wilhelm Reich und Erich Fromm. Zugleich wird versucht, diese Überlegungen zu aktualisieren.

Einige der Beiträge konzentrieren sich auf die gesellschaftstheoretischen und sozialpsychologischen Ansätze Kritischer Theorie. Andere nehmen Phänomene und Ideologien der gegenwärtigen extremen Rechten in den Blick und erproben daran die Aktualität der alten Ansätze. Die Stärke des Bandes liegt vor allem darin, dass die einzelnen Beiträge zueinander in Konstellation treten, sich wechselseitig erhellen und bisweilen auch produktiv widersprechen. So wird der Band über alle Beiträge hinweg – auch wenn nicht jede Argumentation im Detail überzeugt und es teils an sprachlicher Prägnanz fehlt – dem theoretischen Ansatz der Kritischen Theorie gerecht, die das faschistische Potenzial ja gerade aus der Dialektik von Individuum und Gesellschaft zu erklären versuchte.

Die Beiträge können so zeigen, wie die aktuellen Erfolge der extremen Rechten auf den Begriff zu bringen wären, ohne sie in einer Art Rückkehr zur „klassenreduktionistischen Orthodoxie“ aus dem Eigeninteresse oder aus der Befriedigung einer vermeintlichen „menschlichen Sehnsucht nach machtvollen Kollektiven“ zu erklären, wie Helge Petersen und Alexander Struwe schreiben. Mithilfe sozialpsychologischer Ansätze lässt sich stattdessen das Irrationale und Wahnhafte der extrem rechten Weltanschauung zeigen. Ulrike Marz etwa spricht vom „Primat des Affektiven“.

Mit Blick auf die gesellschaftstheoretischen Analysen der Kritischen Theorie kommen die Beiträge des Bandes immer wieder auf eine These zurück: Die extreme Rechte profitiere von der Krise der Demokratie. Diese spitze sich zu, wenn staatliche Eingriffe notwendig werden, um kapitalistische Verwertung zu erhalten, wie es etwa im Zuge der Wirtschaftskrise ab 2007 der Fall war. Daraus folgten ein Machtzuwachs der Exekutive und eine Schwächung der Vermittlungsinstanz des Parlaments, argumentiert Felix Sassmannshausen. So drohe eine Zunahme politischer Entfremdung und eine wachsende Sehnsucht nach einfachen Scheinlösungen.

JustIn Monday stellt fest, dass vor dem Hintergrund des staatlichen Interventionismus‘ „die aktuellen konformistischen Revolten einerseits etwas fordern, was sie ‚Souveränität‘ nennen, andererseits aber gegen deren tatsächliche Ausübung auf die Straße gehen“. Denn der Erfolg der extremen Rechten erkläre sich aus der Sehnsucht nach einer – mit dem Wunsch nach Identität von Staat und Volk verbundenen – autoritären Führung und der Ablehnung des real vorhandenen Souveräns, der während der weltweiten Krise im Jahr 2007 in Form transnationaler Institutionen auf den Plan trat. Ein realer Souverän kann den wahnhaften Wunsch nach „Volkssouveränität“, also einem „unmittelbar verfügenden Willen des Volks“, gar nicht einlösen, wie Monday zeigt.

Leo Roepert (Hrsg.): „Kritische Theorie der extremen Rechten. Analysen im Anschluss an Adorno, Horkheimer und Co.“. Transcript, Bielefeld 2023, 408 S., 39 Euro

Dass „die Menschen sich in ihrem Land“ nicht mehr „zu Hause fühlen“, liegt also an dieser Sehnsucht nach Identität und Freiheit von Vermittlung, nicht an rationalen, materiellen Interessen. Diesem in letzter Instanz völkisch-rassistischen Wahn ist daher auch nicht einfach durch eine sozialere Politik zu begegnen. Eine antifaschistische Politik, die darauf zielt, der extremen Rechten den Boden zu entziehen, müsste vielmehr wieder über das Falsche an der bestehenden Gesellschaft sprechen, ohne sich zugleich, wie es die Rechte tut, der Verantwortung für ihr Funktionieren zu entziehen.

Die Leistung des Bandes besteht nicht zuletzt darin, die Komplexität dieser in sich widersprüchlichen Aufgabe deutlich zu machen. Denn die zunehmende Unzurechnungsfähigkeit Rechter und Konservativer weit über die AfD hinaus zwingt gerade diejenigen gesellschaftlichen Kräfte, deren Aufgabe in der Kritik des Falschen und im Aufzeigen von Alternativen besteht, sich um das Funktionieren der bestehenden Gesellschaft zu sorgen. So aber erscheint das Bestehende zunehmend als alternativlos – und die extreme Rechte als einzige, aber regressive Alternative.

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