piwik no script img

Street View in DeutschlandGoogle macht das Leben langweiliger

Google Street View ist online. Abseits der viel diskutierten Frage zum Schutz der Privatsphäre stellt sich eine andere: Wollen wir vorher so genau wissen, wo wir hinfahren?

Street View in Oberstaufen: Wirkt überraschend, bewirkt jedoch das genaue Gegenteil. Bild: dapd

Es ist ja alles unerhört praktisch: Bevor wir beispielsweise in den Urlaub fahren, schauen wir uns in aller Ruhe auf Google Earth und Street View das Hotel an. Lügen die Bilder, die wir bei der vorherigen Auswahl betrachtet haben? Wie weit ist es zur Altstadt, zum Bahnhof oder wahlweise zum Strand? Befindet sich gegenüber eine lärmträchtige Nachtbar, ein Wohnhaus oder vielleicht ein Palmenhain?

Dazu noch schnell die Hotelbeurteilungen früherer Gäste gecheckt: Schimmel im Bad, unfreundliches Personal? Dann die Unterkunft gestrichen und rasch eine bessere gewählt.

So wohl vorbereitet kann die Reise beginnen, den Flug oder die Bahnreise natürlich bei Lufthansa.com, germanwings.com oder bei Bahn.de gebucht, den Lieblingssitzplatz - bloß nicht bei den Notausgängen! - reserviert, die S-Bahn-Abfahrtszeiten im Netz gecheckt. Die Autofahrt per ADAC.de auf potenzielle Staugefahren geplant.

Über die Taxikosten fern der Heimat sind wir bestens informiert, ebenso wie wir wissen, wie teuer eine Limonade kommt. Das Streckennetz der Wander- und Radwege in der Umgebung ist ausgedruckt. Es ist jetzt schon sonnenklar, dass wir selbstverständlich das Restaurant San Remo mit seinen großartigen Gästebewertungen gegenüber Francescos angesichts dessen ewigen Tischwartezeiten bevorzugen werden.

Ja, wir haben alles in Griff. Unschöne Überraschungen gehören längst einer trüben Vergangenheit an. Dieser Urlaub wird gewiss wunderbar.

Google, wir lieben dich!

Nein, ist dieser Urlaub langweilig. Gewiss, Bilder lügen nicht. Das Hotel ist gut, das Zimmer geräumig wie versprochen, und die Palmen stehen genau an der Stelle wie auf dem Foto. Der Fischteller im San Remo hätte freilich etwas reichlicher ausfallen können, aber die haben es wohl nicht mehr nötig - bei dem Andrang. Die Radtouren verlaufen entspannt auf vorgegebenen Wegen. Der Taxifahrer hat gar nicht erst versucht, uns übers Ohr zu hauen. Alles ist genauso wie vorhergesehen und geplant.

Und genau darin liegt das Unbefriedigende. Das Internet mit all seinen - unbestrittenen - Segnungen und mit Google Street View an der Spitze droht nämlich das Köstlichste zu vertreiben, was das Leben uns bringen kann:

die Überraschung.

Nur das Überraschende bleibt in Erinnerung. Nur die Überraschung lässt uns vor Freude jauchzen oder vor Ärger mit den Zähnen malmen. Die Überraschung ist die Würze des Lebens, ohne die es unendlich langweilig werden würde.

Mag sein, dass man auf manche unliebsame Überraschung lieber verzichtet hätte. Um im Bilde zu bleiben: Prächtig wachsende Schimmelpilze in der Nasszelle gehören gewiss nicht zu den Dingen, an die man sich positiv erinnert. Ein Wanderweg, der in einer Industriebrache endet, gehört nicht zu den Erfahrungen, die man nicht missen möchte.

Aber andererseits: Negative, nervige, abtörnende Überraschungen, solche, die einem das Blut ins Gesicht schießen und die Stimme erbeben lassen, sie zählen ebenso zum Leben wie die positiven, wenn der Weg entlang einer endlosen Blumenwiese fast übergangslos an einem scheinbar vergessenen Stück weißen Sandstrands endet …

Zusammen mit der Überraschung verschwindet noch etwas anderes: die Entdeckung. Nein, damit ist nicht die Kartierung unbekannter einsamer Inseln gemeint, einem Kapitel, das schon im 19. Jahrhundert unwiderruflich zu Ende gegangen ist. Es geht auch nicht darum, ob auf Ihrem Dachboden vielleicht doch eine eiserne Truhe mit schweren Beschlägen und geheimnisvollem Inhalt stehen könnte.

Die Angelegenheit ist wesentlich banaler, aber nicht minder bedauerlich.

Ob es um den Trampelpfad in den unbekannten Wald, um ein dringlich gesuchtes antiquarisches Buch oder eine Platte geht, um einen Tanzpalast, von dem man nie zuvor gehört hatte, oder das Lokal, dessen Existenz wir erst gewahr wurden, weil wir uns zuvor rettungslos verfahren hatten - es sind die kleinen überraschenden Entdeckungen, an die wir uns noch Jahre später mit einem Lächeln erinnern. Weißt du noch, damals …

Wenn aber alles beschrieben, fotografiert und jederzeit abrufbar ist, bleibt nicht mehr vieles, was nicht vorhersehbar ist. Google Street View ist in diesem Zusammenhang nichts wirklich Neues und schon gar nichts Bedrohliches. Es macht unser Leben nur ein kleines Stückchen langweiliger.

Weil wir vor dem Urlaub, dem Einkauf, dem Spaziergang, der Radtour, der Skiabfahrt, eben vor jeder Bewegung an einen anderen Ort, den wir noch nicht in- und auswendig kennen, noch mehr von diesem Punkt wissen, bevor wir ihn erreicht haben.

So wird eigene Erfahrung ersetzt durch eine Menge kleiner Pixel, Überraschendes durch umfassendes Vorauswissen und Entdeckungen durch eine endlose Zahl genauestens beschrifteter Hinweisschilder.

Nun gehört es offenbar zum Wesen der Menschheit, Überraschungen zu begrenzen. Es mag Nörgler gegeben haben, die beim Auftauchen der ersten Landkarten die Nase darüber gerümpft haben, dass sie nun mit einer gewissen Sicherheit und Planmäßigkeit von A nach B kommen. Allzu viele dürften es nicht gewesen sein.

Für die übergroße Mehrheit war es selbstverständlich ein Fortschritt.

Die Liste dieser Errungenschaften ließe sich beliebig fortsetzen: von der Landkarte zum Buchdruck, zum Sextanten, zur Fotografie, zur Bildpostkarte, zur postalischen Zustellung, zum Bahnfahrplan, zum Telefon, Fernschreiber und Handy, zum Verspätungsanzeiger und zum Navigationsgerät im Auto. Jede dieser Erfindungen machte das Leben planbarer und damit weniger überraschend.

So etwas nennt man auch Zivilisation.

Google Street View ist nur eine weitere Fortentwicklung im unendlichen Streben, möglichst vieles zu wissen, bevor wir es auch erfahren haben oder müssen. Also: ein Fortschritt.

Unerhört praktisch so was. Aber auch ziemlich öde.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

12 Kommentare

 / 
  • T
    Tacheles

    das leben planbarer machen heißt: es noch besser unter kontrolle zu bekommen. kontrolle ist ein gutes mittel gegen angst. überraschungen sind eben nicht nur schön und angenehm, das wissen wir noch aus zeiten des säbelzahntigers. wir geben uns mit street view allerdings in zweifacher hinsicht einer illusion hin: durch kontrolle unser bedürfnis nach sicherheit befriedigen zu können (was immer nur begrenzt möglich ist), und die annahme, street view sei kein baustein des systems "überwachungsstaat".

     

    street view macht das leben enger, nicht weiter. die angst hat gewonnen. alle schönrednerischen argumente für das projekt "street view" halte ich für vorgeschobene rationalisierungen (typisch für unkritische "technikbegeisterte").

  • T
    Tacheles

    das leben planbarer machen heißt: es noch besser unter kontrolle zu bekommen. kontrolle ist ein gutes mittel gegen angst. überraschungen sind eben nicht nur schön und angenehm, das wissen wir noch aus zeiten des säbelzahntigers. wir geben uns mit street view allerdings in zweifacher hinsicht einer illusion hin: durch kontrolle unser bedürfnis nach sicherheit befriedigen zu können (was immer nur begrenzt möglich ist), und die annahme, street view sei kein baustein des systems "überwachungsstaat".

     

    street view macht das leben enger, nicht weiter. die angst hat gewonnen. alle schönrednerischen argumente für das projekt "street view" halte ich für vorgeschobene rationalisierungen (typisch für unkritische "technikbegeisterte").

  • M
    martin

    Wieder andere glauben, daß es ein Fehler war, als das Leben aus der Ursuppe an Land gekrochen ist.

  • G
    Gugelbenutzer

    Heute morgen hat die Kaffeemaschine ihren Dienst getan, ohne undicht zu sein, dadurch einen Kurzschluss zu verursachen und anschließend auf kleiner Flamme abzufackeln. Danach ist auch die Waschmaschine beim Waschen nicht ausgelaufen, ich bin mit der S-Bahn nicht verunglückt - und überhaupt: Dieser Tag war ohne Überraschungen wie Schimmel im Hotel-Bad, überhöhte Taxipreise im Ausland, ein Strandhotel 3km vom Strand, ohne Stau und ohne Sitzplatz am Notausgang TOTAL ÖDE. Echt jetzt!

  • L
    langweilig

    GENAU!!!

     

    Deswegen: Internet verbieten !!

     

    Bücher verbieten !!

     

    Computer verbieten !!

     

    Autos verbieten !!

     

    Wir müssten ja eigentlich laufen...

     

    Sonst ist alles soooo langweilig....

  • A
    Archipel

    Ein schmerzhaft alberner Artikel. Ich persönlich entdecke seit Jahren die nähere und fernere Umgebung, und Google Maps, Google Earth und - Gottseibeiuns! - Wanderkarten leisten mir dabei gute Dienste.

  • P
    p3t3r

    @prisca

    gebe dir vollkommen recht mit deiner kritik an diesem doch etwas überflüssigem artikel

    (wer nicht will brauch auch nicht zu googeln, es ist deine entscheidung, ganz allein ;-)),

    aber was verstehst du unter kulturell determiniert??

     

    trotz nachschlagen's im fremdwörterlexikon versteh ich das nicht,

  • T
    Tute

    Ich kann mich prisca nur anschließen, der Autor des Artikels hat bei der zunehmenden gesellschaftlichen Akzeptanz des Handys wohl auch kulturpessimistisch über die ständige Erreichbarkeit geklagt. Ich mache mein Handy aus, wenn ich nicht gestört werden will. Aber vielleicht zur Beruhigung, Herr Hillenbrand, auch die Computer der nächsten Generation werden noch Ausschaltknöpfe haben. In diesem Sinne.

  • U
    Ulrike

    ach, ich mag den Ton *s* Eine Anregung sich mehr überraschen zu lassen. Natürlich muss ich googlesonstwas nicht benutzen (und tue es nicht) aber die meisten machen es doch. Denn wie KH schrieb, die Menschen lieben es planbar.

     

    Wie langweilig *s*

  • G
    Geograph

    Ich möchte an dieser Stelle einen weisen Mann zitieren:

     

    "Unwissenheit ist die Mutter aller Abenteuer."

     

    (Hägar d. Schreckliche)

  • ED
    Eva Dombrowski

    Schön, das mal so zu lesen.

    Ist schon seit langem meine erklärte Meinung:

    Jeder Rest von Romantik und Abenteuer wird plattgemacht, aus krankhafter, dummer Geldgier.

    Und dann soll - mit gigantischem Aufwand und mit hohen Kosten - wieder künstlich Plastik-Romantik und Styropor-Abenteuer erzeugt werden - selbstverständlich nur gegen horrende Bezahlung.

    Es ist sicher kein Zufall, dass in der Lügensprache der Reklame zwei Phrasen immer wieder vorkommen, bis zum Dauer-Erbrechen: "Erleben Sie ... " und "Genießen Sie ...", egal welcher Schrott gerade beworben wird.

    Gerade das ist doch das Problem: Viele Menschen können nichts mehr "erleben", weil sie innerlich tot sind, und sie können nicht mehr "genießen", weil sie hochgradig abgestumpft sind.

    Guhgel Striet Wju und Guhgel Öhrf sind da nur zwei Steine in einem flächendeckenden Mosaik.

  • P
    prisca

    wozu diese jammerige kulturkritik? die devise heißt: "kann, aber muss nicht" und die bedeutet mehr freiheit als wenn es hieße: "möchte, aber kann nicht". will sagen: wer zwingt denn zu einer detaillierten vorausplanung, bloß weil sie möglich ist? wenn aber vorausplanung auf dem gewünschten level nicht möglich ist, dann muss überraschung auf dem niveau hingenommen werden, das kulturell determiniert. die jeweilige kulturstufe eröffnet ihre besonderen chancen und begrenzt gleichzeitig. wem die neuen chancen nicht gefallen, der kann sich ja selbst begrenzen qua eigener entscheidung. das tut man dann z.b. auf www.wildniswandern.de.