: Suche nach dem Immerneuen
Der Goldene Ehrenbär der Berlinale geht dieses Jahr an die Schauspielerin Tilda Swinton. Sie kann sich Rollen ebenso aneignen wie in ihnen verschwinden
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Von Barbara Schweizerhof
Unter den großen Schauspieler*innen gibt es solche, die, egal in welcher Rolle, unverkennbar bleiben – man denke an Tom Cruise –, und solche, die sich bis zur Unkenntlichkeit an eine Rolle anpassen – hier kommt Daniel Day-Lewis in den Kopf. Und dann gibt es noch Tilda Swinton, der die Quadratur des Kreises gelingt, indem sie sich bestimmten Figuren ganz und gar anverwandelt und dabei doch unübersehbar als Tilda Swinton zu erkennen ist.
So geschehen etwa in Luca Guadagninos Horrorfilm-Remake „Suspiria“ 2018. Darin spielte Swinton ganz offiziell die einschüchternde Tanzschullehrerin Madame Blanc, aber es gab da noch die Figur eines 82 Jahre alten Psychoanalytikers namens Josef Klemperer. Und obwohl an dessen Äußerem nichts, aber auch gar nichts an Swinton erinnerte, ging gleich nach der Premiere auf dem Festival von Venedig das Gerücht um, dass der ältere Herr in Wahrheit unter Schichten von Schminke von Swinton verkörpert würde.
Die Anekdote ist charakteristisch für Swinton, weil in ihr einerseits zum Ausdruck kommt, wie ganz und gar sich die Schauspielerin ihren jeweiligen Projekten verschreibt, andererseits aber auch, wie sehr sie dabei von einer Lust an Spaß und sogar Schabernack getrieben ist. Die Frage, ob sie Josef Klemperer spiele, hat sie immer verneint. Es musste erst jemand fragen, ob sie jener Lutz Ebersdorf sei, der laut Credits Klemperer spielt, um ihren Auftritt offiziell zu bestätigen.
Swinton ist 1960 in London als Spross einer alten und größtenteils adligen schottischen Familie zur Welt gekommen. Es ist eine Herkunft, die dem veralteten Klischee nach für ein Studium in „Oxbridge“ und die entsprechende Karriere prädestiniert. Swinton aber wählte gewissermaßen die Höhere-Töchter-machen-brotlose-Kunst-Revolte, die sie nach den traditionellen britischen Bildungsstätten für Privilegierte schließlich zu den radikalen Ausläufern des britischen experimentellen Theaters und Films brachte.
Ihre Schauspielerinnen-Karriere begann sie 1984 als Mitglied der Royal Shakespeare Company. 1986 aber spielte sie ihre erste Filmrolle in Derek Jarmans so eigensinnigem wie verzaubernden Biopic „Caravaggio“. Es wurde mehr draus, wie man so sagt: In allen sechs Spielfilmen, die Jarman vor seinem Tod 1994 noch realisieren konnte, war sie dabei und etablierte sich mit ihrer androgynen Präsenz damit zu einer festen Größe im europäischen Arthouse-Kino.
Dass sie bestimmte Regisseure über längere Zeit hin begleitet, ist auf seine Weise ihr Markenzeichen geworden. Im Fall von Luca Guadagnino spielte sie schon 1999 in dessen Regiedebüt „The Protagonists“, zehn Jahre später übernahm sie die Hauptrolle in seinem Film „I am Love“ – bis heute einer ihrer emotionalsten und berührendsten Auftritte – und 2015 gab sie in „A Bigger Splash“ eine alternde Rocksängerin. Jim Jarmusch besetzte sie seit „Broken Flowers“ (2005) in fast jedem seiner Filme, genauso Wes Anderson, mit dem sie seit „Moonrise Kingdom“ (2012) zusammenarbeitete. So verschieden die Rollen sind, die Swinton in all diesen Filmen einnimmt, jedes Mal versucht sie aufs Neue etwas Unerwartetes zu präsentieren, eine Seite von sich zu zeigen, die man so noch nicht gesehen hat. Wie zuletzt wieder in David Finchers „The Killer“, wo sie gegenüber Michael Fassbender eine sowohl in Worten wie Taten überraschend gewiefte Auftragsmörderin gibt.
Diese Suche nach dem Immerneuen hat Swinton bis in die Welt der Blockbuster („Doctor Strange“) getragen, wobei sie auch dort besonders gern Rollen spielt, die das konterkarieren, was man schönen Frauen wie ihr mit alabasterfarbenem Teint und hochgewachsener Gestalt gern auf den Leib schreibt. In den Filmen des koreanischen Regisseurs Bong Joon-ho bewies sie besonderen Mut zur Hässlichkeit, nicht nur psychologisch als sadistisches Diktatoren-Monster wie in der Klimakatastrophen-Dystopie „Snowpiercer“ (2013), sondern auch äußerlich wie in der Öko-Parabel „Okja“ (2017), wo sie mit unvorteilhafter Pony-Frisur und Gebiss-Prothese zwei je verschieden unschöne Zwillingsschwestern verkörpert. Fast könnte man sagen, dass solche spektakuläre Verwandlungen „gegen ihren Typ“ für Swinton zu dem geworden sind, was für Tom Cruise das Klammern an startende Flugzeuge ist: Stuntauftritte – wenn auch mit etwas weniger Risiko.
Ein besonderes Verhältnis seit Studientagen verbindet Swinton mit der britischen Independent-Regisseurin Joanna Hogg, in deren erstem Kurzfilm sie schon 1986 spielte. Hogg besetzte Tochter Honor Swinton Byrne in den autobiografischen Filmen „Souvenir“ (2019) und „Souvenir II“ (2021) als eigenes Alter Ego, während Tilda als deren Mutter ganz ohne Mätzchen in einer Nebenrolle zu sehen war. In Hoggs letztem Film „Eternal Daughter“ (2022) übernahm sie dann gleich beide Rollen selbst, die der Mutter und die der Tochter. Auch das eine Art Stunt, wenn man so will, den sie letztens in Pedro Almodóvars Löwengewinner-Film „The Room Next Door“ noch einmal wiederholte.
Bislang nennt Tilda Swinton erst einen Oscar ihr eigen: den als beste Nebendarstellerin für ihren Auftritt in Tony Gilroys „Michael Clayton“. In ihrer von exzentrischen Rollen geprägten Filmografie bildet das Porträt einer hemmungslos ehrgeizigen Unternehmensjuristin fast eine Ausnahme des „Konventionellen“ – was natürlich bei genauem Hinschauen auch wieder nicht stimmt. Denn mit einer so unsympathischen Frauenrolle einen Oscar zu gewinnen, kann wahrscheinlich nur einer Schauspielerin von Swintons Kaliber gelingen.
14. 2., 11.45 Uhr, Zoo Palast 1
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