: Welle von Explosionen
In Schweden nehmen seit Beginn des Jahres Sprengstoffanschläge zu. Besonders Wohnhäuser sind betroffen, die Polizei beschuldigt kriminelle Gruppierungen
Aus Härnösand Anne Diekhoff
Schweden wird seit Beginn des Jahres von einer beispiellosen Gewaltwelle erschüttert. Bevor der Januar zu Ende ging, kam es bereits zu 32 Sprengstoffexplosionen, die kriminellen Gruppierungen zugeschrieben werden. Vor allem Mietshäuser in Stockholmer Außenbezirken sind Ziel der Explosionen.
Die sichtbaren Schäden der Taten variieren in ihrem Ausmaß – ein Restaurant brannte aus, Druckwellen zerstörten teils zahlreiche Fensterscheiben. Ein Mieter wurde schwer verletzt. Der gesellschaftliche Schaden ist massiv, die Verunsicherung groß.
Schweden ringt seit mehreren Jahren mit dem Problem der organisierten Kriminalität. Laut Ermittlungen sind auch für die aktuellen Gewalttaten Gangmitglieder verantwortlich. Die Regierung versucht der Bandenkriminalität mit Härte zu begegnen – bislang mit mäßigem Erfolg.
„Vollkommen unakzeptabel“, nannte Schwedens oberste Polizistin Petra Lundh die Situation nach einer Krisensitzung, die Justizminister Gunnar Strömmer Ende vergangener Woche einberufen hatte. In seinem „Rat zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität“ sollen sich Politik und zuständige Behörden strategisch absprechen.
Die Polizeichefin stellte vor Journalisten fest: Rücksicht auf Menschenleben habe in Bandenkreisen aufgehört zu existieren. „Wir sehen 12-, 13-, 14-Jährige, die schreckliche Gewalttaten begehen, als wäre es ein Nebenjob“, sagte Lundh. Die gewaltbereiten jugendlichen Handlanger werden von Kriminellen häufig über Social Media angeworben.
„Dass wir keine Kontrolle über die Welle der Gewalt haben, ist offensichtlich“, sagte Ministerpräsident Ulf Kristersson (Moderate). Eine unangenehme Feststellung für ihn, dessen liberalkonservative Regierung mit Unterstützung der rechtsextremen Schwedendemokraten richtig durchgreifen wollte.
Seit 2022 hat sie viele gesetzliche Maßnahmen ergriffen, die die Opposition und Aktivist*innen zum Teil kritisieren. Sie werfen der Regierung vor, Rassismus zu fördern und demokratische Grundrechte auszuhöhlen.
So kann die Polizei nun sogenannte Sicherheitszonen ausrufen, in denen sie anlasslose Personen- und Fahrzeugkontrollen durchführen kann.
Sie darf präventiv Telefone abhören – und das soll künftig auch bei Kindern unter 15 Jahren möglich sein. Die bereits geplante Gesetzesänderung werde auf Herbst vorgezogen, teilte der Justizminister mit. Zudem soll die Strafmündigkeit von derzeit 15 auf 14 Jahre gesenkt werden.
Besonders viel verspricht sich die Regierung von einer parallel in Deutschland heftig diskutieren Idee: Sie will künftig Kriminellen mit zwei Pässen, die „systembedrohende Verbrechen“ begehen, die schwedische Staatsbürgerschaft aberkennen können. Die Vorbereitungen zur Grundgesetzänderung haben bereits begonnen.
Die Schuld an der ansteigenden Gewalt gab Kristersson früheren Regierungen, die sie nicht rechtzeitig gestoppt hätte. Er sprach bewusst von Terrorismus, ungeachtet der Tatsache, dass die Taten nicht politisch motiviert sind.
Laut Polizeichefin Lundh gehören die Sprengstoffanschläge zu einem neuen Betätigungsfeld der Gangs. Bisher kam es immer wieder – auch im Januar – zu Morden zwischen vorrangig konkurrierenden Banden. Bei den Sprengungen gehe es aber um Erpressung, betroffen seien Firmen ebenso wie Privatpersonen.
Zoll-Chef Johan Norrman erklärte, der Fokus des Zolls liege nun nicht mehr wie zuvor auf Handgranaten aus früheren Krisenregionen, sondern vor allem auf im Ausland bestellter Pyrotechnik und anderem Material, aus dem Sprengsätze gebaut werden könnten.
An einem schwedischen Erwachsenenbildungszentrum in Örebro sind Schüsse gefallen. Fünf Menschen seien getroffen worden, teilte die Polizei am Dienstag mit. Zu ihrem Zustand lagen zunächst keine Angaben vor. Die Polizei startete nach eigenen Angaben einen Großeinsatz. Die schwedische Nachrichtenagentur TT berichtete – ohne Quellen zu nennen – der Schütze habe sich selbst getötet. Die Polizei bestätigte das zunächst nicht. Unklar ist weiterhin, ob der mutmaßlich zu Tode gekommene Schütze in der von der Polizei genannten Opferzahl enthalten war. (ap)
Ein Viertel der Personen, die sogenannte „Bangers“ – Böller mit 100 Gramm Sprengstoff – online aus dem Ausland bestellten, seien unter 16 Jahre alt. Schon seit Jahren werden damit in Schweden solche Anschläge wie jetzt verübt, aber dieses Ausmaß war bis jetzt unerreicht.
Wie schwer diese Entwicklung Unbeteiligte trifft, zeigte das Beispiel eines Mannes, der vergangene Woche zu Hause im Fernsehen ein Eishockeyspiel verfolgte.
Als er Geräusche im Treppenhaus hörte, ging er zur Wohnungstür, in dem Moment explodierte eine Sprengladung. Das erzählte der schwer verletzte Mann dem schwedischen Fernsehen vom Krankenhausbett aus. Er wolle nun umziehen.
Die schwedische Polizeichefin hob wie zur Beruhigung noch hervor, dass man im Januar auch zahlreiche Anschläge verhindert habe. 50 Personen seien festgenommen worden, die mit 25 geplanten Taten zu tun gehabt hätten. Außerdem bekommt die Stockholmer Polizei Verstärkung: 100 Einsatzkräfte aus anderen Regionen werden dorthin geschickt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen