Facebook, Whatsapp und X: Die gefährliche Allmacht von Social Media in Lateinamerika
Soziale Medien sind in Lateinamerika im Alltag praktisch unverzichtbar. Viele betrachten sie deshalb unbeschwert – trotz Desinformation.
Der Grund für die Macht von Facebook, Whatsapp, X & Co. in Lateinamerika heißt: Zero-Rating. Vor etwa zehn Jahren begannen Telefonanbieter, in ihre Tarife für internetfähige Telefone ein paar Apps zu packen, welche die Nutzer:innen kein Datenvolumen kosten. Ein gutes Lockmittel, um User*innen zu bekommen, besonders, wenn das Internet ansonsten zu teuer für sie wäre. Whatsapp und Facebook sind heute also Standard. Manchmal noch Twitter und Instagram. Die Folge: Ein allgegenwärtiger Raum, an dem weder Politiker:innen noch Zivilgesellschaft oder der kleine Gemüseladeninhaber vorbeikommen – und der wohl bald massiv von Hetze, Propaganda und Lügen geflutet wird.
„Für viele Menschen in Lateinamerika ist Facebook das Internet. Denn es ist das Einzige, wozu sie Zugang haben, ohne mehr zu bezahlen“, sagt Pilar Saénz. Sie ist Projektkoordinatorin für Bürgerbeteiligung bei der kolumbianischen Stiftung Karisma. Diese setzt sich dafür ein, dass digitale Technologien die Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit voranbringen – und hat ganz Lateinamerika im Blick.
In Lateinamerika laden die meisten Menschen ihr Guthaben auf, wie sie gerade können. Im Internet zu surfen, geht aufs Datenvolumen. Informationen kommen also über die kostenfreien sozialen Netzwerke. „Wenn sie eine Information anderswo überprüfen wollen, kostet das – also machen das viele Leute nicht. Dasselbe gilt für Whatsapp.“
Whatsapp ist in Lateinamerika einer der wichtigsten Orte für Kommunikation, funktioniert wie ein soziales Netzwerk. Gruppen mit Hunderten und Tausenden Mitgliedern sind ebenso Marktplatz wie Nachrichtenquelle. Menschen, die nicht lesen und schreiben können, nehmen Sprachnachrichten auf. „Diese sozialen Netzwerke verlassen zu können, ist ein Privileg“, sagt Pilar Sáenz. Eines, das Arme und Nichtstädter:innen nicht haben.
„Keine so kritische Sicht auf Technologie“
Jenseits der Städte ist die Netzabdeckung für Telefon und Internet oft so schlecht, dass weder Anrufe durchkommen noch Internetseiten laden. Was aber meist funktioniert: Facebook und Whatsapp. Denn Meta hat eigene Rechenzentren in Lateinamerika, die den Datenverkehr bei Meta-Produkten unterstützen. Elon Musks Starlink ist in manchen Regionen der einzige Internetanbieter. Aus all diesen Gründen sind Facebook, Whatsapp und Instagram fest in der Gesellschaft verankert, nicht nur bei Kleinstunternehmer:innen und Riesenketten, sondern auch bei Behörden und staatlichen Stellen.
„In Lateinamerika haben wir keine so kritische Sicht auf Technologie“, sagt Catalina Moreno, Co-Direktorin der Stiftung Karisma. „Es gibt eine Tendenz, sie mit Fortschritt gleichzusetzen. Und sie für zutiefst unparteiisch und unpolitisch zu halten.“
Auch diese geringe Skepsis gegenüber Social-Media-Plattformen führt dazu, dass Digitalisierung für viele Regierungen in Lateinamerika anders aussieht als in Europa. Während die offiziellen Webseiten oft unübersichtlich und voller technischer Macken sind, bedeutet Modernisierung für viele nur: mehr Bürger:innenkontakt auf Facebook und Service über Whatsapp und Co. Dort antworten die Krankenkassen und Behörden laut Moreno schneller als über ihre eigenen Kanäle auf ihren Webseiten, per Telefon oder gar persönlich in einem Büro.
Wieso sie so viel Energie in ihre Social-Media-Auftritte stecken, ist schnell beantwortet: „Weil alle hier sind“, sagt Pilar Sáenz von der Stiftung Karisma. 86,6 Prozent der Lateinamerikaner:innen nutzen die sozialen Netzwerke. Facebook hat mit 77,8 Prozent die höchste Durchdringungsrate. Danach folgt Instagram.
Zuckerberg sorgt für Alarm
Wer Menschen erreichen und Debatten mitbekommen will, muss hin, wo sie sind. Das gilt für Organisationen der Zivilgesellschaft wie für Politiker:innen: Egal ob El Salvadors rechter Diktator Nayib Bukele oder Kolumbiens linker Präsident Gustavo Petro: X ist ihr Megafon, direkt ans Volk. Hier attackieren sie andere Staatsoberhäupter, polieren ihr Image auf, greifen Journalist:innen an und verkünden politische Entscheidungen.
Wegen dieser Macht der sozialen Medien versetzen die jüngsten Ankündigungen von Meta-Chef Mark Zuckerberg zivilgesellschaftliche Organisationen in Lateinamerika in Alarmbereitschaft: Faktencheck abschaffen, Beschränkungen für Diskussionen über Themen wie Einwanderung und Geschlechtsidentität aufheben – vorerst nur in den USA. Das heißt mehr Raum für rassistische Hetze und Gewalt gegen LGBTIQ-Bevölkerung. Angeblich sollen die Änderungen mehr Meinungsfreiheit schaffen. Tatsächlich ist das ein häufiges Scheinargument von Rechtspopulist:innen, deren Inhalte sonst wegmoderiert werden. Und es geht um Geld. Denn politische Diskussionen bringen mehr Engagement der Nutzer:innen.
„Wir haben in Lateinamerika seit Jahren, was Zuckerberg jetzt in den USA einführen will“, sagt Cristina Vélez. Die Digitalforscherin ist Spezialistin für Plattformen und soziale Bewegungen in Lateinamerika. Es habe schon immer zu wenige Faktchecker:innen für den riesigen Kontinent gegeben und sie seien immer weiter ausgedünnt worden. Die Filter seien für Englisch trainiert und funktionierten auf Spanisch schlecht.
Vélez beschäftigt sich seit 2018 insbesondere mit reproduktiven Rechten, ist selbst in feministischen Bewegungen engagiert. Sie betont, wie wichtig die sozialen Medien in Lateinamerika für Frauen und die Bewegungen sind. Denn dort sind traditionelle Medien oft beherrscht von konservativen Familien. Feministische Themen haben deswegen vor allem online Erfolg. Das zeigen Bewegungen wie #NiUnaMenos („Keine einzige weniger“) und die „grüne Welle“ für die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen (Pro Choice). Sie haben ab 2015 ausgehend von Argentinien Millionen mobilisiert. „Sie haben Gesetzesinitiativen für Frauenrechte in sieben Ländern beeinflusst“, sagt Vélez.
Feministische Aktivistinnen haben sowohl offline als auch online komplexe Netzwerke der Fürsorge für vulnerable Frauen aufgebaut – in einer Region mit alarmierenden Raten von Teenagerschwangerschaften und Femiziden. Eine wichtige Rolle spielen auch Whatsapp-Gruppen, in denen Frauen sich gegenseitig praktisch unterstützen, Tipps geben, wie man an Medikamente für den Schwangerschaftsabbruch kommt, welche Ärzt:innen den Eingriff durchführen.
Beiträge zu diesem Thema finden sich inzwischen aber nur noch selten in den Facebook- und Instagram-Feeds der User:innen. Im April 2024 wurden Konten mit angeblich politischen und sozialen Inhalten auf einmal nicht mehr im Feed empfohlen und angezeigt, sofern man ihnen nicht folgte. Um Polarisierung und Stress für die Nutzer:innen zu vermeiden, sagte Zuckerberg. Besonders betroffen waren Aktivist:innen.
„Die Organisationen mussten ihre Strategie komplett ändern“, sagt Cristina Vélez. Für NGOs heißt das: Nicht mehr „Rechte“, „Schwangerschaftsabbruch“ und andere Wörter ausschreiben, die mit Feminismus oder auch Klimakrise zu tun haben. Die „Abtreibung“ wird zur „Ab*R**BUnG“. So umgehen sie technische Filter.
Doch jetzt dreht sich Zuckerberg, möchte politische Inhalte wieder prominenter ausspielen lassen. Gleichzeitig nimmt er die Instanzen weg, die ein klein bisschen zivilen Umgang und geprüfte Information ins Netzwerk brachten. Zumindest in den USA. Aber die Erfahrung mit Meta zeigt: Was sie in den USA ändern, testen sie nach und nach in einzelnen Ländern des Globalen Südens – und dann im ganzen Kontinent übergestülpt.
„Der Staat die Zivilgesellschaft nicht beschützen“
Mehrere Onlinemedien in Lateinamerika sind Teil des Factchecking-Programms von Meta sind und finanzieren so auch ihre eigenen Recherchen. Ihre Verträge laufen bis 2025. Es ist offen, wie es dann weitergeht. Diese Factchecking-Profis haben bisher zum Beispiel in Wahlkampfzeiten Deepfakes, also besonders gute Fälschungen, enttarnt – für Laien praktisch unmöglich. Insbesondere, weil die schiere Masse an Lügen und Propaganda durch neue, starke generative KIs enorm zugenommen hat.
So wird das Umfeld auf Social-Media-Plattformen toxischer, wird es leichter, politisch zu manipulieren. Das fürchten viele aus der Zivilgesellschaft. „Dann gilt das Gesetz des Stärkeren“, sagt Cristina Vélez. „Verteidige sich, wer kann – und wer Geld hat, um für politische Inhalte zu bezahlen, wird den Diskurs gewinnen. Je mehr Geld eine Rolle spielt, umso mehr wird Lateinamerika verlieren. Denn hier konzentriert sich der Reichtum auf wenige.“
In der EU hätten die Bürger:innen immerhin durch den Digital Service Act etwas Schutz, sagt Vélez. Dieses Gesetz regelt unter anderem, dass Plattformen etwas gegen Desinformation und Hetze unternehmen müssen. „In Lateinamerika wird der Staat die Zivilgesellschaft nicht beschützen“, ist Cristina Vélez sicher. Die Ausnahme sei Brasilien. Das bevölkerungsreichstes Land des Kontinents könnte als einziges wirtschaftlich Druck ausüben. Dort interessieren sich die Gerichte schon lange für das Internet – und haben X zeitweise abgeschaltet, weil die Firma keinen Sitz im Land hatte, obwohl es das brasilianische Recht vorschreibt. Digital-Expert:innen raten den Ländern auch, sich zusammenzutun und auf Regulierungen und Verbesserungen innerhalb der Netzwerke zu drängen. Doch so ein Länderverbund ist momentan unrealistisch.
„Wenn die Straflosigkeit in diesen Netzwerken steigt, werden in Lateinamerika die verletzlichsten Menschen am meisten leiden, die weder staatlichen Schutz noch Unterstützungsnetze haben.“ Das steht für Cristina Vélez fest. „Viele Organisationen werden in diesem feindlichen Klima aus Angst zur Selbstzensur greifen.“
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