: Der Krieg und seine Opfer
Für viele Menschen endet die Landkarte der NS-Verbrechen in Auschwitz. Doch auch östlich davon, in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion, wurden schlimmste Verbrechen verübt
Von Leonid A. Klimov und Tigran Petrosyan
„Ich habe ein Werk geschrieben über das schauerliche Pogrom in Hoschtsch.“ Das notierte Perets Goldstejn 1943 in sein Tagebuch. „Das Werk muss gedruckt und veröffentlicht werden, mit einer Auflage von gar einer Million Stück.“ Der jüdische Kaufmann aus Wolhynien in der heutigen Ukraine hoffte, dass die Nachwelt aus dem Terror der Nationalsozialisten lernen würde. Seine akribische Dokumentation über die Taten der deutschen Besatzer in seinem Schtetl verfasste er, während er sechs Monate lang auf einem engen Dachboden zusammen mit zwei weiteren Juden eingepfercht war.
Für viele Menschen in Deutschland endet die Landkarte der Erinnerung an NS-Verbrechen in Auschwitz. Unzählige Geschichten, die noch weiter östlich stattfanden, in den deutsch besetzten Gebieten der Sowjetunion, sind bis heute nicht erzählt. Wie beispielsweise die von Perets Goldstejn. Die Namen vieler Orte, in denen schlimmste Verbrechen verübt wurden, sagen heutigen Deutschen nichts. Hoschtsch, das heute auf Ukrainisch Hoschtscha heißt, gehört dazu. Es ist eine Kleinstadt, in der damals etwa 1.000 Jüdinnen und Juden lebten. Gerade einmal 20 von ihnen haben die Besatzung überlebt. Dieses Hoschtsch ist nur einer von unzähligen Punkten auf der Karte des Vernichtungskrieges Deutschlands gegen die Sowjetunion. Es gibt viele Hoschtschs.
Den Blick gen Osten zu lenken, östlich von Auschwitz, das ist das Ziel der Scroll-Doku „Der Krieg und seine Opfer“. Sie wurde von dekoder in Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg erarbeitet. Es geht um die Geschichten von mehr als 2,5 Millionen Jüdinnen und Juden und auch um die Erinnerung an Tausende ermordete Roma und Romnja, an die Menschen mit Behinderungen oder psychischen Krankheiten, an Zwangsarbeiter:innen, Hungeropfer, Opfer verbrannter Ortschaften, Kinder und Frauen – es geht um insgesamt circa 14 Millionen ermordete Zivilist:innen und weitere Millionen von Menschen, deren Leben durch den Krieg zerstört wurde.
Das Thema ist schwierig und komplex zugleich. Schwierig, weil man sich das Ausmaß der Brutalität und des Leidens kaum vorstellen kann – und vielleicht auch nicht will. All die Details der Massenerschießungen, wie oft zunächst die Kinder und dann die Mütter erschossen wurden, oder wie junge Frauen Opfer sexueller Gewalt wurden, ehe man sie ermordete. So etwas lässt sich schwer begreifen.
Komplex ist das Thema, weil sich die Schicksale der Opfer im damaligen großen Weltgeschehen abspielen und ohne Kontext nicht verstanden werden können. Oder missverstanden werden. Oder instrumentalisiert werden. Letzteres lässt sich beispielsweise im Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beobachten, wenn russische Politiker ihre Kriegsrhetorik mit Referenzen auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941 bis 1945 glauben, rechtfertigen zu dürfen.
Komplex ist das Thema zudem, weil viele Menschen, die unter der Besatzung leben müssen, nicht in ein binäres Täter-Opfer-Schema passen. Wenn sich das alltägliche Leben plötzlich unter einem Terrorregime abspielen muss, schrumpft der Handlungsspielraum besonders für Zivilist:innen auf ein gefährliches Minimum. Dann handelt jede:r unterschiedlich, entwickelt eine je eigene Agenda und Überlebensstrategie und muss selbst existenzielle Entscheidungen treffen – womöglich über Leben und Tod anderer Menschen. All dies gehört zum wichtigen Kriegskontext. Damals wie heute.
Das Projekt „Der Krieg und seine Opfer“ wagt den Versuch, den Deutsch-Sowjetischen Krieg aus der Perspektive von dessen Opfern zu erzählen und diese Menschen in historischen Kontext zu setzen. Es ist ein Versuch, eine neue „Erinnerungsästhetik“ zu entwickeln, die zugleich emotional und wissenschaftlich fundiert ist. Es will das Ausmaß der NS-Verbrechen darstellen und den weit östlich ausgetragenen deutschen Vernichtungskrieg auf der heutigen Erinnerungskarte platzieren. Angefangen wird mit dem kleinen Hoschtsch im ukrainischen Wolhynien und mit dem Juden Perets Goldstejn, der das dokumentiert hat. Es geht weiter mit neun weiteren, nicht oder nur wenig bekannten Geschichten aus den Regionen Wynnizja und Smolensk, Minsk und Leningrad, Dnipro, Poltawa und Kyjiw.
Trotz seiner flehentlichen Hoffnung wurde Perets Goldstejns Besatzungstagebuch nicht in Millionenauflage verlegt. Aber wir wollen es online für die digitale Ewigkeit festgehalten.
Das Projekt wird im Rahmen der Bildungsagenda NS-Unrecht umgesetzt und von der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) finanziert. Die taz Panter Stiftung als weiterer Kooperationspartner bringt mit dekoder 15 Journalist:innen und Wissenschaftler:innen zusammen, die sich am 27. und 28. Januar im taz-Gebäude austauschen werden. Im Fokus steht die historische Aufarbeitung an der Schnittstelle von Wissenschaft und Journalismus. In einem Planspiel wird erörtert, welche Veränderungen in der Erinnerungskultur notwendig sind und welche Lücken in Forschung und Erinnerung noch bestehen.
Wir laden Sie herzlich zu einer Podiumsdiskussion am 27. Januar in das Redaktionshaus der taz ein. Wir stellen uns unter anderem diesen Fragen: Was bedeutet „östlich der Erinnerung“ heute? Und wie wird Erinnerungskultur derzeit von der russischen Propaganda instrumentalisiert, um Mobilisierung und Repression im Kontext Russlands Krieg gegen die Ukraine zu fördern?
Leonid A. Klimov ist Projektleiter von dekoder.
Tigran Petrosyan leitet die Osteuropa-Projekte der taz Panter Stiftung.
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