: Meine Jahre imFiebertraum
Als alle um sie herum von der Pandemie nichts mehr wissen wollen, erkrankt unsere Autorin an Long Covid. Mit Anfang 20 muss sie lernen, wie flüchtig Zukunftspläne sind – und wie wichtig Freund:innen, die helfen, das Bett neu zu beziehen
Von Shayna Bhalla (Text) und Verena Brüning (Fotos)
Als ich das erste Mal Corona bekam, war ich gerade 23 geworden. Es war die letzte sogenannte „Winterwelle“, in der noch strenge Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen wurden. November 2021. Heute bin ich 26 und behaupte meistens, 25 zu sein, denn die vergangenen Jahre fühlen sich an, als hätte ich was verloren.
Das erste Jahr verbrachte ich größtenteils zu Hause, im zweiten Jahr fiel es mir immerhin leichter, rauszugehen. Im dritten Jahr sah es kurz so aus, als hätte ich mein Leben ein Stück weit zurück: Im Rahmen einer Studie bekam ich ein zum Wundermittel hochgejazztes Medikament. Das erste Mal, seitdem all das begonnen hatte, glaubte ich tatsächlich an Heilung statt nur an besseres Krankheitsmanagement – bis die Studie abrupt zu einem Ende kam.
Aber von vorn.
In Woche drei nach meiner ersten Corona-Erkrankung kann ich plötzlich nicht mehr atmen. Ich wende mich an die 116 117, den ärztlichen Notdienst. Die Dame am Telefon sagt mir, ich hätte eine Panikattacke. Mit einer Wärmflasche auf der Brust würde sich der normale Atemrhythmus schnell wieder einstellen. Ärztliche Betreuung brauche ich keine, denn ich sei ja jung und gesund. „Jung und gesund“ – seitdem ich jung und krank bin, bin ich nie häufiger so bezeichnet worden.
Seit diesem Tag kann ich nicht mehr atmen. Also natürlich, ich atme und lebe. Aber mein Atem ist anders, mein Leben auch. Eingeschränkt, das ist das Wort, das ich andauernd benutze und das ich begonnen habe zu hassen, da es zu klinisch und nüchtern klingt für den Verlust, den es beschreiben soll.
„Ich hatte Covid, bei mir lief es nicht so gut, ich kann nicht mehr gut atmen, fühle mich immer noch sehr schwach, und leide unter starken Kopfschmerzen – aber das wird schon wieder“, erzähle ich mir und anderen. Doch aus wenigen Wochen, von denen ich dachte, der Uni fernbleiben zu müssen, werden Jahre.
Währenddessen ist mein Instagram-Feed voll mit After-Covid-Content: Besuche in Kneipen, Clubs und Bars, alles wird nachgeholt. Die Pandemie ist vorbei – yay! – also zumindest für die anderen. Ich bekomme das mit, weil ich stundenlang im Bett liege oder im Wartezimmer sitze und dabei meinen Feed auswendig lerne. Post-Covid-Zustand, unbestimmt.
Meine Hausärztin erkennt, dass auf meinem Genesungsweg etwas schiefzulaufen scheint. Helfen kann sie nicht. Mehrmals untersucht sie mein Blut, doch bis auf ein paar Unstimmigkeiten lässt sich daraus kein eindeutiges Krankheitsbild ablesen. Mir geht es wirklich nicht gut. Ich fühle mich schwach wie bei einer echten Grippe, ich werde immer schwerfälliger, immer müder. Nonstop habe ich Kopfschmerzen, nehme leichtfertig fast jeden Tag Aspirin, da ich denke, bald ist es vorbei. Dazu kommen Herzprobleme, denn mein Herz schlägt zu schnell und reguliert sich nicht von selbst. Ich kann mich nicht mehr belasten, ohne dass alle Symptome teils wochenlang noch viel schlimmer werden. „Belastung“ bedeutet für mich von nun an: duschen. Mir etwas zu Essen kochen. Mich mit meinem Freund streiten. Weinen. Nicht weinen. Zu laut fernsehen. Zu viel Licht. Treppen (ganz schlimm). Manchmal länger als zwei Minuten am Stück stehen. Telefonieren. Lesen. Lange sitzen. Meine Haare kämmen.
Ständig erschrecke ich mich vor meinem Körper, ekele mich sogar. Mein Körper ist mir fremd und nicht mehr der eigene, und dafür, dass ich ihn nicht kenne, kommt er mir ständig zu nah. Meine Gedanken sind gleichzeitig so vernebelt, dass ich kaum merke, wie sie vor sich hinziehen.
Ich habe starke Wortfindungsstörungen und schäme mich dafür. Mich gut ausdrücken zu können, das war mir immer wichtig gewesen, doch ich kann mich nicht mehr erklären. Andauernd verschlägt es mir die Sprache, ich wiederhole mich, muss alle zwei Sätze tief Luft holen. Ich treffe Freunde nur noch in meinen eigenen vier Wänden, mit ungewaschenen Haaren, im unaufgeräumten Zimmer. Manchmal schaffe ich es raus, wenn die Fußwege kurz und meine Tagesform gut ist. Doch die meisten meiner Freunde empfange ich im Bett. Kannst du mir beim Einkaufen helfen? Kannst du mir beim Abtrocknen helfen? Können wir zusammen mein Bett neu beziehen?
Mir fällt es nicht leicht, nach Hilfe zu fragen, ich spiele Dinge herunter. Rückblickend hat mir das nichts außer Stress gebracht, ich würde es nicht empfehlen. Ich bin genervt von meinem eigenen Leid und sehne mich danach, über etwas anderes zu sprechen, an etwas anderes zu denken. Immer wieder gerate ich in emotionale Not, etwa wenn mein Freund mich fragt, ob ich bei einer gemütlichen Runde dabei sein möchte. Wie kann ihm nicht klar sein, dass das viel zu anstrengend ist, what the fuck? Noch schlimmer fühle ich mich aber, wenn er nicht fragt, ob ich dabei sein möchte. Hat man mich schon vergessen?
Eine Freundin erzählt mir auf meine Nachfrage hin, warum sie sich so wenig bei mir melde, dass sie einerseits mit meinem Zustand überfordert sei. Und andererseits hole er bei ihr die Angst hoch, ihr könne das mit der nächsten Covid-Infektion auch passieren. Ihre Worte lösen irgendwas zwischen Trauer und Entsetzen in mir aus. Warum entfernen sich manche so weit von mir? Wie sehr darf mich das bedrücken? Auch viel später, als es mir besser geht, merke ich, dass da eine Lücke klafft zwischen mir und denen, die sich mit meinem kranken Selbst nicht auseinandersetzen wollten.
Der Schmerz darüber, nicht teilhaben zu können, sitzt so tief, dass ich aufhöre, mich nach dem Outdoor-Leben meines Umfelds zu erkundigen. Auf Instagram stelle ich alle Leute stumm, die ständig Party machen oder verreisen, ich entfolge Clubs und DJ-Kollektiven. Mein tägliches Ziel ist es, mich abends nicht schlechter zu fühlen als am Morgen. Trotzdem gehe ich versehentlich immer wieder über meine Grenzen, denn sie verschieben sich ohne erkennbares Muster. Ich kaufe mir Häkelzeug, doch weil es meine Handmuskeln zu stark beansprucht, höre ich mit dem Häkeln schnell wieder auf.
Stattdessen schaue ich „Monk“ auf ZDFneo, oder „Sissi“. Die Folgen wiederholen sich zwar, aber das stört mich nicht. Ob Monk, der eigenartige Detektiv, meinen Fall wohl lösen könnte?Ich warte weiter darauf, dass mir jemand eine Diagnose stellen kann, die über „Post-Covid-Zustand, unbestimmt“ hinausgeht.
Einmal lande ich in der Notaufnahme, eine Ärztin hatte mich dorthin geschickt, weil sie einen Herzinfarkt vermutete. Dort wird mir dann Pilates empfohlen. Ernsthaft. An guten Tagen schaffe ich zehn Minuten Yoga für ältere Leute, das gibt es auf Youtube. Heute weiß ich, dass mein Herzrasen, meine Übelkeit, meine Schwäche ganz normaler Long-Covid-Alltag waren.
Endlich kriegt das Leiden einen Namen
Warum mich schon meine erste Covid-Infektion schachmatt gesetzt hat, lässt sich bis heute nicht erklären. Im Sommer 2022 mache ich bei einer Studie in Erlangen mit, die helfen soll, Diagnosekriterien für Long Covid zu bestimmen. In Erlangen erlebe ich das erste Mal keine Fragezeichen in den Augen der Mediziner*innen. Die Fragebögen, die ich ausfülle, zeigen mir, dass ich nicht alleine bin, denn jedes meiner Symptome steht dort drauf.
Ich erfahre, dass Long Covid eine postvirale Erkrankung ist, die man schon als Folge von Pfeifferschem Drüsenfieber, Ebola oder der ersten Sars-Welle kennt. Viele Menschen mit einer postviralen Erkrankung entwickeln ME/CFS – kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom – und werden über die Jahre schwerkrank, eine vollständige Heilung ist sehr selten. Langsam dämmert mir, dass ich mich länger als ein halbes Jahr damit werde herumschlagen müssen.
Besonders symptomatisch für ME/CFS sind PEM – Post-Exterionelle Malaisen. Das heißt, dass sich Symptome nach kleinster Belastung stark verschlimmern. Manche sagen, eine PEM fühle sich so an, als sei man vergiftet worden. In meinem Fall bedeutet es, dass die Fatigue sich verschlimmert, meine Herzfrequenz viel zu hoch bleibt, mein Atem noch schwerer wird und mein Kopf noch schlimmer schmerzt. Eine PEM kann lange anhalten, man spricht daher auch von einem Crash.
Im Sommer fahren mein Freund und ich zu einer Long-Covid-Ambulanz außerhalb Berlins. Die Reise ist für mich eine riesige Anstrengung, obwohl mein Freund mir das meiste abnimmt. Mit einem Stapel an Werten kehre ich zurück, übergebe sie aufgeregt und vorfreudig meiner Hausärztin. Ich bin mir sicher, jetzt kann man mich reparieren. Doch stattdessen: Schulterzucken. Das etwa sechshundertste Mal in diesem Jahr liege ich in den Armen meines Freundes und weine. Aber nicht zu viel, das macht mein Herz sonst nicht mit. Ich melde mich beim Fatigue-Zentrum der Charité an, dort sagt man mir, die Warteliste läge im höheren vierstelligen Bereich. Aber was bleibt mir denn noch?
Wenn ich kann, lese ich Studien und recherchiere über mögliche Krankheitsmechanismen. Ich verstehe kaum etwas und trotzdem mehr, als viele Ärzt*innen, die sich nie mit Long Covid befasst haben. Ungefähr jede Frage, die sich mir aufdrängt, beantworten sie mir mit einem: Man weiß es noch nicht.
Heute weiß ich, dass diese Wissenslücken fatale Folgen haben können. Denn eigentlich wäre es wichtig, dass Ärzt*innen über Pacing aufklären. Ich lese davon das erste Mal, kurz bevor ich mich zu einem Geburtstag hinschleppen will, für den ich eigentlich viel zu schwach bin. Pacing bedeutet, die eigenen Energieressourcen nicht auszuschöpfen, sondern zu schonen, zum Beispiel mithilfe einer Smartwatch, die den Herzrhythmus überwacht. Macht man das nicht, kann sich der eigene Zustand durch die stetige Überlastung sogar verschlechtern. Chronifizierung nennt sich das.
In einer aktuellen Patientenbefragung zu möglichen Hilfsmitteln und Medikamenten in der Bewältigung von Long Covid schneidet Pacing bei weitem am besten ab. Dabei hilft Pacing lediglich, ein niedriges Gesundheitsniveau zu halten. Auf große Teile des Lebens zu verzichten ist auch fünf Jahre nach Pandemiebeginn, die beste Option, die wir Menschen mit Long Covid und ME/CFS zum Management ihrer Krankheit anbieten können. Medikamente, die nachweislich gegen Long Covid helfen, gibt es nicht. Ein Ansatz ist daher, Medikamente auszuprobieren, die bei anderen Erkrankungen helfen. Natürlich immer mit dem Risiko, dass es nicht hilft oder die Symptome sogar schlimmer macht.
Im Oktober 2022 finde ich einen Hausarzt, der in seinem Profil angibt, Long Covid zu behandeln. Ich bin aufgeregt. Zwei Stunden lang machen wir Tests. Er bittet mich, meinen Verlauf zu beschreiben, und beendet meine Sätze, denn er kennt das Krankheitsbild. Er hat die Pandemie als Arzt auf einer Intensivstation verbracht. Covid greift die Blutgefäße an, dadurch richtet es vor allem da große Schäden an, wo die Gefäße sehr klein sind, etwa in der Lunge, in Organen oder auch auf der Netzhaut. In meinem Fall sei das Endothel, also die Zellschicht an der Innenfläche der Blut- und Lymphgefäße, beschädigt.
Dieses Wissen teile ich von nun an mit meinen Freund*innen und stelle fest, dass Ende 2022 kaum jemand wirklich verstanden hat, was Covid eigentlich ist. Dass man, wie ich, Long Covid einfach so bekommen kann, ohne irgendwelche Vorerkankungen. Und dass es sehr viele Menschen betrifft. Ich fühle mich, als würden wir in einer Parallelrealität leben.
Mein neuer Arzt ist zuversichtlich, die Entzündungen mit Cortison in den Griff zu bekommen. Ich würde vielleicht nicht hundertprozentig die Alte werden, aber zu neunzig Prozent, das versichert er mir. Eine Reha schließt er aus, da meine Belastungsgrenze viel zu niedrig sei. Meinen Puls solle ich stets unter 100 halten in meinem aktuellen Zustand, bei maximal zehn Minuten Bewegung pro Tag, Kochen und Einkaufen miteinbezogen. Pacing. Meine Diagnose: Chronisches Fatigue-Syndrom, CFS.
Ich verlasse die Praxis weinend. Nicht, weil man mir, 24 Jahre alt, gerade gesagt hat, dass ich wohl nicht wieder vollständig gesund werde. Sondern weil mir endlich jemand zuhört und mich versteht. Drei Monate lang nehme ich täglich Cortisontabletten und Betablocker und spüre, wie es mir nach und nach immer besser geht. Ich habe Glück. Meine Reizempfindlichkeit sinkt und kehrt in diesem Ausmaß auch nicht wieder zurück, ich kann mich wieder stärker belasten und vor allem kann ich wieder klarer denken, rausgehen. Manchmal schaffe ich es sogar in die Uni.
Nach vielen Monaten werden meine Gedanken für mich endlich wieder greifbar, und ich erschrecke mich, falle in einen Zustand von Depression, weine und weine und weine. Ich beweine meine Jugend, ich beweine meine Hilflosigkeit, ich beweine meine Einsamkeit und dass ich mich traumatisiert fühle. Ich bin nun ein Jahr krank, aber ich kann immer noch nicht ganz verstehen, was mit mir passiert ist. Ich fühle mich, als hätte mich eine Welle mitgerissen, Kopf unter Wasser, und ich sei ganz woanders und völlig desorientiert wieder angespült worden.
Über meinen Gefühlsausbruch reagieren die meisten in meinem näheren Umfeld eher erleichtert. Man hatte sich Sorgen gemacht, weil ich das ganze zu abgekühlt wegzustecken schien, irgendwie apathisch. Andauernd sagte man mir damals, ich sei so stark im Umgang mit der Krankheit. Danke für das Kompliment, I guess. Dabei war ich die meiste Zeit einfach nur verwirrt und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt, wo ich wieder denken kann, suche ich mir eine Verhaltenstherapie.
Der Psychotherapeut, für den ich mich entscheide, hat den gleichen Nachnamen wie mein Hausarzt. Ich will das Glück, das ich mit diesem Namen bisher hatte, weiter ausschöpfen. Nach ein paar Sitzungen erzähle ich ihm, dass ich gehofft hatte, er würde einfach feststellen, ich sei verrückt geworden. Denn anders als Long Covid könnte man das ja heilen. Stattdessen üben wir Pacing und die Akzeptanz, dass sich mein Leben durch die Krankheit verändert hat.
Doch der nächste Crash kommt und er kommt gewaltig. Zu neunzig Prozent die Alte sein habe ich mir wirklich anders vorgestellt. Geht das jetzt mein ganzes Leben so weiter? Ich möchte schreien, doch das wäre zu anstrengend. Was habe ich falsch gemacht?
Ich beichte meinem Arzt, dass ich ein paar Mal geraucht habe. Ich mache das, um mir eine Normalität vorzugaukeln, die es nicht mehr gibt. An den Zigaretten habe es sicherlich nicht gelegen, beruhigt er mich. Aber woran sonst, das weiß auch er nicht. Wieder und wieder nehme ich in der Folge Cortison, komme aber nie wieder auf das Hoch vom Beginn.
Mit jedem Crash, den ich danach habe, hinterfrage ich meine Zukunftspläne weiter. Jedes Mal, wenn ich bemerke, dass die Kraft zum Duschen nicht ausreicht, die Luft beim Sitzen schon wegbleibt und Zigaretten wirklich, wirklich doof für mich sind, verliere ich meine Hoffnung, wieder normal leben zu können. Eigentlich will ich zu dem Zeitpunkt mit dem Studium fertig sein, dann raus aus Berlin.
Mithilfe meines Therapeuten übe ich Akzeptanz und den Umgang mit krassen Tiefs. In meinem Umfeld erfahre ich von einer Person, die seit 25 Jahren unter ME/CFS leidet und auf Pflege angewiesen ist. Ich probiere, mich damit abzufinden, krank zu sein. Das kommt bei vielen nicht gut an. Ich solle doch bloß die Hoffnung nicht aufgeben. Wie sehr mich die wiederkehrende Frustration schmerzt, darüber, dass es nicht besser, sondern schlechter wird, wollen sie nicht sehen. Wenn Freund:innen mich fragen, was ich am meisten vermisse, Ausgehen oder Reisen?, dann sage ich: Atmen.
Damals lerne ich den Unterschied zwischen Hoffnung und Urvertrauen. Urvertrauen bedeutet: Am nächsten Tag geht die Sonne auf. „Monk“ wird im Fernsehen laufen. Nie sehe ich nach, welche Folge mich erwarten würde, es bleibt eine nette Überraschung. Und Hoffnung? Eine Freundin, die jetzt schon weiß, dass sie im Laufe ihres Lebens unter den Folgen einer komplexen genetischen Erkrankung leiden wird, erzählt mir von ihrem Konzept der Hoffnung. Zu jedem Zeitpunkt im Leben eine gute Zeit haben zu können, das ist es, was sie sich wünscht. Wir reden darüber, gemeinsam in ein bedürfnisgerechtes Haus zu ziehen, falls wir beide nicht mehr so gut können. Ohne Treppen und mit Auto. Wir werden obskure ältere Damen, ich in extravagantem Outfit, sie eher in Funktionskleidung, wahrscheinlich im Rollstuhl. Vielleicht haben wir ein Huhn.
Doch ich habe mit dem Begriff Hoffnung weiter so meine Schwierigkeiten, denn über mir schwebt andauernd das Risiko einer Reinfektion. Mein Arzt warnt mich ständig davor, trägt, während er das sagt, aber keine Maske.
Im November 2023 passiert es dann. Ich habe zum zweiten Mal Covid. Schon Wochen davor geht es mir so schlecht wie zu keinem Zeitpunkt nach meiner Cortisontherapie. Ich habe Angst. Ich frage mich, wie mein kranker Körper eine weitere Covidinfektion wohl verkraftet, wenn schon die erste aus mir eine chronisch Kranke gemacht hat. Doch diesmal erhole ich mich schneller und bin etwa eine Woche in Isolation, statt vier, wie beim letzten Mal. Es ist jetzt Weihnachten. Ich verbringe Heiligabend auf der Couch von Freunden. Ich esse Dönerpizza und trinke einen Liter Fanta. Es geht mir besser, mental ganz in Ordnung, vielleicht liegt’s aber auch am Zucker.
Ich muss nicht wieder wie früher werden
Das neue Jahr, das dritte mit Long Covid, beginne ich mit einer weiteren Cortisonrunde und zunehmender Verzweiflung, wie es weitergehen soll. Ich habe keinen Bock mehr, mich ständig weiter unter den Druck zu setzen, wieder die Alte zu werden. Denn ich bin jetzt eine andere Person und kann einiges besser als noch vor zwei Jahren, einiges schlechter. Laufen, atmen, all das geht nicht mehr so gut. Aber ich kann besser auf mich aufpassen und weiß, wo meine Grenzen liegen.
Ich brauche nun wieder Unterstützung, um mein Bett zu machen. Die Decke ist zu schwer, um Hilfe bitten einfacher. Einkaufen kann ich nicht, putzen auch nicht. und über Restaurantbesuche denke ich nicht mal nach. Vielleicht kaufe ich mir einen Goldfisch? Den Gedanken, mir etwas Leben in mein Zimmer zu holen, finde ich schön.
Wie die meisten Menschen, die etwas Schlimmes erlebt haben, habe ich eine Art entwickelt, darüber zu erzählen, die mich emotional nicht so sehr berührt. Ich hülle mich in Floskeln, und wenn ich gut pace, wirke ich einigermaßen agil. Das heißt, wenn ich hauptsächlich zu Hause bleibe, maximal 15 Minuten am Stück langsam gehe, nicht schwer hebe, nicht zu warm dusche, nicht lange und aufwendig koche, nicht zu lange am Stück sitze oder mich konzentriere. Mein Ruhepuls von 120 ist nur dann sichtbar, wenn ich meine Smartwatch trage, die piepst, sobald meine Herzfrequenz die 125 übersteigt. Was manchmal schon im Sitzen der Fall ist.
Das Piepsen soll mich erinnern, dass ich nicht jung, gesund und unbesiegbar bin, sondern mich regulieren muss, langsam zu machen. Auch mein Umfeld soll es daran erinnern, denn krank sehen Leute aus, die Grippe haben, nicht ich. Grund ist der Hollywood-Flawless-Filter von Charlotte Tilbury, ein Bronzer mit etwas Glitzer für einen ebenmäßigen Teint, der mir regelmäßig das Kompliment einbringt, ich würde von innen strahlen. Lol. Gekauft habe ich mir ihn nach einem der vielen frustrierenden Arztbesuche im Sommer 2023, als ich beschloss, nicht so scheiße aussehen zu wollen, wie ich mich fühlte. Immerhin kann ich so etwas Distanz schaffen zwischen dem, was in mir drin geschieht, und dem, was man mir ansieht. Gleichzeitig kann ich kaum Small Talk führen, ohne dass ich das Gefühl habe, einen bedeutenden Teil von mir zu verheimlichen. Äußerlich soll man zwar nicht sehen, wie es mir geht, aber es wegzuschweigen fühlt sich auch falsch an.
Im Februar 2024 erzählt mir dieselbe Freundin, die mich schon auf die Studie in Erlangen gestoßen hatte, dass in Berlin für eine Studie mit dem Medikament BC007 geworben wird. Schon wenige Tage später sitze ich im Wartezimmer der Charité und bereite mich auf ein Screening vor, das feststellen soll, ob ich die richtigen Biomarker habe, um teilnehmen zu können. Gesucht wird nach einer bestimmten Gruppe Autoantikörper, also Antikörpern, die das eigene Gewebe angreifen.
Im Screeningraum begegne ich vielen anderen Long-Covid-Erkrankten und weiß seither, wieso ich Selbsthilfegruppen meide: Sie machen mir Angst. Die meisten Personen sind unter 50, einige unter 30. Viele tragen vollverdunkelte Sonnenbrillen, Gehörschutz, Masken sowieso. Jede Person in diesem Raum weiß genau, dass Covid der Auslöser ist für die Vielzahl an lebensverändernden Symptomen. Einige sind in meinem Alter, sitzen im Rollstuhl oder liegen auf dem Schoß ihrer Begleitung. Ich merke, dass es richtig war, in meinem Kopf immer wieder auch Szenarien durchzuspielen, in denen ich auf Pflege oder Hilfsmittel angewiesen wäre. Wo würde ich dann leben und mit wem? Wie würde es mir gehen?
Kurz darauf, im Frühjahr 2024, kriege ich die Info, dass ich für die Studienteilnahme geeignet bin. Auf der Agenda stehen zwei Infusionen, Placebo oder Medikament. Natürlich frage ich mich, ob ich verrückt geworden bin, ein Medikament zu nehmen, das bisher wenig erforscht ist. Aber vielleicht klappt es ja, denke ich und futtere meine Salamisticks, während ich am Tropf hänge und 70 Selfies mache. Eventuell wird das ein historischer Moment, eine Auferstehung, so kurz nach Ostern auch noch. Außerdem habe ich in der Woche davor absurderweise etwas Geld im Lotto gewonnen.
In der Nacht nach der ersten Infusion schwitze ich höllisch, ich habe Kopfschmerzen, meine Lymphknoten sind geschwollen. Am Morgen danach wache ich das erste Mal seit Monaten ohne Herzrasen auf. Einen Monat später verschiebe ich eigenständig Möbel in meinem Zimmer, ohne dass es mir schlechter geht. Ich arbeite jetzt vom Schreibtisch, nicht vom Bett. Zwischendrin erlebe ich fünf Tage lang einen Crash, doch dieser Zustand endet abrupt, und auch Monate später merke ich, dass es mir weiter stetig besser geht.
Nach den Ups und Downs der vergangenen Jahre traue ich meinem Körper kaum, wenn er mir signalisiert, Energie zu haben. Doch meine Muskeln bauen Kraft auf, das bemerkt auch meine Physiotherapeutin, die mir hilft, dieses fehlende Vertrauen in meinen Körper wiederherzustellen.
Zwei Monate später sitze ich bei einem Konzert und kann nicht glauben, was passiert: Mein Körper scheint zu heilen, außerdem ist Frühling. Den Sommer 2024 erlebe ich wie einen Film, er kommt mir vor wie Jahre. In einem Tag passiert mehr als in einem Monat. Ich weine vor Freude, als ich nach einem Brunch duschen gehe, um später auszugehen.
Viele meiner Freund*innen können nicht glauben, wenn ich jetzt munter und energetisch irgendwo auftauche. Meinen zweiten 25. Geburtstag feiern wir ausgelassen und ich bade in der Anwesenheit meiner engsten Freund*innen und lauter Musik.
Mit vielen alten Bekanntschaften tue ich mich allerdings oft schwer. Seit ich gesünder bin, wollen plötzlich alle über meine Krankheit reden. Wie es denn so ist, wenn langsam alles wieder besser wird, wie es mir „jetzt gerade so wirklich“ geht, fragen mich Leute, die mir in den Jahren zuvor nicht mal eine Nachricht schreiben wollten. Weil sie mein gesundes Ich gekannt haben und glauben, wir hätten eine Vertrautheit, die die letzten Jahre überdauert hätte, ignorieren sie die Jahre dazwischen. Sie springen von Pre-Covid-Shayna zu Post-Post-Covid-Shayna.
Doch da ist eine Distanz zwischen ihnen und mir. Wenn ich ausgehe, in Restaurants oder Bars, verlasse ich die Außenbereiche nicht. Die meisten Innenräume betrete ich nur mit Maske, denn ich kann mich auf keinen Fall erneut mit Covid anstecken. Das muss ich meistens erklären. Und fühle mich dann wie ein Alien, das von einer anderen Galaxie berichtet. Gibt’s Corona überhaupt noch? Und ob ich mir denn sicher sei, dass es Covid und nicht die Impfung einige Monate vorher war? Oder die schlechte Luft in Berlin?
Die, die nicht fragen, haben stattdessen aufbauende Worte für mein tolles Mindset übrig: Ich hätte es ja geschafft, denn ich sei so stark! Ich hätte ja nicht aufgegeben und es sicher auch verdient. Statt zu antworten „So ein Quatsch, Gesundheit muss man sich nicht verdienen und tatsächlich bringt mir das doofe Sternchen in meinem Hausaufgabenheft fürs Starksein exakt gar nix, also geh mir bitte weg!!!“, lächele ich meistens und hoffe auf ein Ufo, das mich mitnimmt.
Ich denke dann an die anderen, die mit Long Covid in abgedunkelten Zimmern liegen und stark sind, aber krank bleiben. Das hier ist keine Heldinnenstory, ich habe nichts besiegt, weil ich es mir verdient habe. Stark ist man nicht, weil man in Anwesenheit von Schmerz auch Freude empfindet.
Natürlich erkenne ich an, dass ich meinem Körper sorgfältig gegenüber war und auf ihn höre, wenn er sagt, es ist zu viel. Doch nichts half ansatzweise so viel wie eine Infusion, die ich durch eine große Portion Glück bekam. Glück hatte ich auch, weil Cortison mir aus dem Gröbsten raushalf und ich auf Mediziner*innen traf, die meine Erkrankung ernst nahmen. Verdient haben das auch die anderen, die im Bett liegen und vielleicht sogar den Kopf in den Sand stecken. Man darf das machen und hat trotzdem beste Gesundheit und Versorgung verdient, finde ich.
Treppen sind weiterhin meine Feinde
Nun bin ich dabei, die sorgsam sortierten Akten in meinem Kopf abzuheften. Der Ordner trägt den Titel „Fiebertraum“, denn so ganz kann ich nicht begreifen, was in den vergangenen Jahren passiert ist und dass mich zwei kleine Infusionen aus diesem Zustand befreit haben. Ich kann jetzt fertig studieren und mich um mich sorgen. Wenn ich mich verausgabe, erhole ich mich davon schnell. Treppen sind weiterhin meine Feinde, an Sport ist noch nicht zu denken, aber es geht bergauf.
Ich gebe nun besser auf mich acht, darauf bin ich stolz. Mit meinem jungen, gesunden Selbst habe ich allerdings Schluss gemacht. Die Beziehung hat mich nicht mehr glücklich gemacht. Wir haben uns auseinandergelebt, und meistens kann ich das akzeptieren, auch wenn das viel Wut und Trauer bedeutet.
In der Zeit denke ich, BC007 sei für mich die Lösung, wenn auch eine mit Ungewissheiten. Bisher weiß man nicht, wie lange das Medikament wirkt, wie lange die Symptome so stark gelindert bleiben, ob und wann sie zurückkehren. Außerdem werde ich wohl trotz aller Bemühungen kaum eine weitere Covidinfektion vermeiden können. Alle paar Monate eine Infusion bekommen, die meine Symptome lindert, scheint dafür ein wirklich guter Deal zu sein. Vielleicht würde ich es sogar eine Hoffnung nennen, Leichtigkeit.
Doch Mitte November veröffentlicht das Unternehmen Berlin Cures, der Hersteller von BC007, ein Statement, in dem es bekannt gibt, dass durch die Studie kein Vorteil des Medikaments gegenüber dem Placebo nachgewiesen werden konnte. Sie ist gescheitert, Investoren abgesprungen und die Firma pleite. Die Ergebnisse sind derzeit nicht öffentlich, was bei vielen gescheiterten Medikamentenstudien auch so üblich ist. Ärzt*innen, die an der Durchführung der Studie beteiligt waren, kritisieren, dass sie stärker ins Studiendesign hätten eingebunden werden sollen.
Als ich das lese, fühle ich mich, als würde ein Zug über mich drüberrauschen. Eine Woche später erfahre ich: Meine Infusion enthielt das Medikament, nicht das Placebo. Es scheint bei mir gewirkt zu haben. Jetzt ist es erst mal außer Reichweite. Ich lese die Mail und liege das etwa sechstausendste Mal im Arm meines Freundes und weine.
Wie es für mich weitergeht, weiß ich nicht. „Monk“ läuft jedenfalls nicht mehr auf ZDFneo. Doch ich habe meine Freunde, die mich besuchen kommen, wenn ich nur zu Hause bin. Die mit mir mein Bett neu beziehen. Die sich sorgen, wenn ich nicht weine, und mich trösten, wenn ich’s tue. Ich werde weiterhin ruhiger leben, versuchen, glücklich zu sein. Und vielleicht vermisse ich es irgendwann auch nicht mehr, Zigaretten zu rauchen.
Shayna Bhalla,26, ist Redakteurin im Social-Media-Team der taz.
Quelle: Nature Magazine
Quelle: Gesellschaft für ME/CFS
Quelle: EClinicalMedicine
Quelle: JAMA
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