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DJ im Park – im Paris der Abgehängten

Ein Clochard mit Vorliebe für Vinyl. „Vernon Subutex. Teil 2“ der famosen Graphic Novel von Virginie Despentes und Luz ist eine weitere erzählerische Perle des französischen Undergrounds

Szene aus „Vernon Subutex. Teil 2“ Foto: Abb.: Luz/Reprodukt

Von Ralph Trommer

Seit Wochen schmerzen Vernons Füße von seinen durchgetretenen Schuhen. Doch eine gute Freundin, die dicke Olga, weiß Rat. In einem Sozialkaufhaus hat sie extra für ihn ein Paar Cowboystiefel reservieren lassen – knallrote!

Sie werden neben den ungepflegten langen Haaren und dem Wuschelbart zu Vernons neuem Markenzeichen. Auch findet er eine neue Bleibe im Park Buttes-Chaumont, wo sich immer mehr Freunde und Bekannte um ihn versammeln. Sie wollen dabei sein, wenn er als DJ im Park die Platten auflegt.

Vernon Subutex heißt der „Held“ inVirgine Despentes’Romantr ilogie, die zwischen 2015 und 2017 in Frankreich herauskam. Der Nachname weist auf eine Methadon-ähnliche Ersatzdroge hin. Passend für eine Figur, die so ziemlich alles, was im urbanen Paris so kursiert, ausprobiert.

„Das Leben des Vernon Subutex“ ist das bisher erfolgreichste Prosawerk der Autorin, deren frühe Romane wie „Baise-moi“ („Fick mich“, deutscher Titel „Wölfe fangen“, verfilmt von ihr selbst) wegen ihres grenzwertigen exzessiven Umgangs mit Sex- und Gewaltdarstellungen noch sehr umstritten waren.

Nachdem „Vernon“ bereits als TV-Serie adaptiert wurde, ist nun auch die Comicversion komplett. 2022 erschien deren erster, umfangreicher Teil. Nun ist der abschließende zweite Band heraus, für den erneut Virginie Despentes zusammen mit Wunschzeichner Luz verantwortlich ist.

Luz alias Rénard Luzier gehörte als Karikaturist und Comiczeichner früher zur Charlie-Hebdo -Redaktion. Er entging nur durch Zufall dem Anschlag auf die Redaktion 2015 durch islamistische Attentäter – er feierte am Vorabend seinen Geburtstag und verschlief am schicksalhaften 7. Januar die Redaktionskonferenz. Monate später verließ er das Magazin endgültig und verarbeitete seine Trauer um die ermordeten Kolleginnen und Zeichner in den Graphic Novels „Katharsis“ (2015) und „Wir waren Charlie“ (2018). Letzteres Werk ist eine Liebeserklärung an die alten Zeiten in der Redaktion vor dem Attentat.

Mit „Vernon Subutex“ hat der Zeichner nun die Mammutaufgabe der Roman-Adaption bewältigt. Insgesamt sind 660 gezeichnete Seiten entstanden. Die Handlung und den Text ihres Romans hat Virginie Despentes eigens für das Comic-Szenario bearbeitet und ein wenig komprimiert. Sie bezeichnet den fertigen Comic nun als „Version deluxe“ ihres Romans. Die Autorin sagt, ihr habe es gefallen, die von ihr geschaffenen Charaktere in gezeichneter Form so lebendig werden zu sehen.

„Vernon Subutex“ ist ein geradezu soziologisches, breit angelegtes Fresko der Pariser Subkultur, der Musik- und Halbweltszene. In Teil 1 lag der Fokus noch auf dem Protagonisten selbst, der als Schallplattenverkäufer einige gute Jahre verlebte, aber zusehen muss, wie seine engsten Freunde hintereinander an den Folgen ihrer Drogensüchte sterben. Dann nimmt sein eigener Abstieg in Obdachlosigkeit und bitterste Armut seinen Lauf.

Im zweiten Teil werden seine neuen Gefährten stärker beleuchtet. Das Figurenensemble reicht dabei quer durch viele Schichten, von Kleinbürger Charles, der heimlich im Lotto gewinnt und sich die teuersten Turnschuhe gönnt, über Aisha, eine junge Muslima, die den vermeintlichen Mord an ihrer Mutter (einem Ex-Pornostar namens Vodka Satana) rächen möchte, bis hin zu Xavier, einem rassistischen Drehbuchautor, oder Patrice, einem gewalttätigen Türsteher.

Der verstorbene schwarze Rockstar Alex Bleach schwebt wie in Band 1 auch über der jetzigen Story. Er sucht Vernon immer wieder als Geist heim, philosophiert mit ihm über Musik und das Leben. Dessen Vermächtnis, ein paar USB-Sticks mit letzten Tracks und Botschaften, trägt Vernon immer mit sich herum.

Despentes und Luz skizzieren so ein vielgestaltiges, manchmal grotesk-komisches, oft abstoßendes Bild einer unerbittlichen Metropole, die unzählige abgehängte, saufende, koksende und sich zudröhnende Gestalten hervorbringt. Deren individuelle Schicksale, unentdeckte Leichen im Keller und persönliche Traumata interessieren die beiden Autoren.

„Vernon Subutex“ ist ein geradezu soziologisches, breit angelegtes Fresko der Pariser Subkultur, der Musik- und Halbweltszene

Viele von ihnen scheinen mit verantwortlich für ihre Misere zu sein, wie der Chauffeur Loic, der Xavier ins Koma prügelt und selbst eines Tages einem tätlichen Angriff zum Opfer fällt. Vernon selbst erscheint zunehmend als das Zentrum für viele, als Guru und Gesegneter, der als DJ zu unerwartetem Ruhm kommt.

Der 52-jährige Luz zeichnet dazu die Comicseiten bis an den Rand voll. Jede einzelne der mit rotzig-karikierendem Strich gezeichneten Figuren bekommt ihren individuellen Auftritt, kann ihre eigene Geschichte erzählen in jeweils spezifischer Farbgebung. Auch der Metropole Paris gewinnt Luz interessante Facetten jenseits der bekannten Postkartenmotive ab. Der Parc des Buttes-Chaumont im Nordosten der Stadt, der 1867 zur Weltausstellung als Vorzeigepark in englischem Stil auf einer früheren Müllhalde angelegt wurde, wird von der sehr diversen Bohème um Vernon Subutex okkupiert. Er hat das Zeug dazu, zu einem neuen Kultort der Literatur- und nun auch Comicszene zu werden.

Am stärksten ist das manchmal vor Geschichten berstende grafische Doppelalbum um diesen schluffigen „Vinyl-Clochard“ dort, wo Luz ikonische Rock-, Pop-, Chanson- oder Reggaesongs aufgreift und manchen Text, manches Covermotiv zitiert, um Vernons zwischen Kaputtheit und Erlösung mäandernde Psyche darzustellen.

Virginie Despentes, Luz:„Vernon Subutex. Teil 2“. Aus dem Fran­zösischen von Lilian Pithan & Claudia Steinitz. Lettering Olav Korth. Reprodukt Verlag, Berlin, November 2024. 368 Seiten, 44 Euro

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