: Ein Gruppenbild des Scheiterns
Eskalierendes Familientreffen: Das Deutsche Theater Göttingen bringt Michel Marc Bouchards „Die Nacht, als Laurier erwachte“ auf die Bühne
Von Jens Fischer
Kommen Menschen zu Familientreffen zusammen, ist der Druck hoch, einen schönen Schein von Geborgenheit und Liebe zu inszenieren. Schnell mischt sich aber die Wiedersehensfreude mit alten Konflikten und aufkeimenden Ressentiments – und hinter der Fassade erodiert der Zusammenhalt. So stressig das im realen Leben ist, so lustig kann es auf Theaterbühnen geraten: Nutzen Regisseur:innen doch häufig die Vergeblichkeit des Harmoniebemühens für satirische Pointen wider eine Kultur der Verdrängung.
Auch die Tragödie dahinter wirken zu lassen, das ist der Ansatz des kanadischen Autors Michel Marc Bouchard. In seinem Stück „Tom auf dem Lande“, 2024 am Stadttheater Bremerhaven zu sehen, kommt einer zur Beerdigung seines Freundes in die Provinz, wo niemand weiß, wissen will und wissen darf, dass beide ein schwules Paar waren. Das Verschweigen klappt genauso wenig wie des Toten Bruders Versuch, seine verklemmte Homosexualität zu verstecken – Eskalation garantiert.
In „Die Nacht, als Laurier erwachte“, das jetzt in Göttingen seine deutschsprachige Erstaufführung erlebte, kommt die weltweit gefeierte „Künstlerin des Todes“, Thanatopraktikerin Mireille (Yana Robin la Baume), zur Einbalsamierung und Beerdigung ihrer Mutter in die Provinz. Geheimnisvoll mondän, mit aufgerissenen Augen wie eine Gruselfilmgräfin, tritt sie auf die zur gekachelten Leichenhalle hergerichteten Bühne. Dort ruht für mehr als anderthalb Stunden Inge Mathes, ehemals Pressesprecherin des Hauses. Der Toten mussten beide Ellenbogen gebrochen werden, heißt es, weil sich die Hände vor dem Gesicht verkrampft hätten. „Als wäre sie gerade in dem Moment gestorben, als sie jemanden oder etwas nicht sehen wollte“, heißt es, unheimliche Ahnungen sind geweckt. Mit weiteren Familienmitgliedern tauchen auch weitere Andeutungen und Fragen auf, die in die Vergangenheit bohren, wo eine schreckliche Vorgeschichte zu lauern scheint. Schließlich fällt das Stichwort „Vergewaltigung“, deren Opfer Mireille geworden sei. Aber es gibt auch Blicke und Gesten, die Zweifel daran wecken; ein fesselndes Changieren zwischen Vertuschen und Offenbaren.
weitere Termine: 9. 1., 19. 1., 6. 2., 14. 2., Göttingen, Deutsches Theater/dt2
Bis Mireille ihren Aufklärungsmonolog bekommt: Sie habe sich als 12-Jährige nachts gern unbemerkt in Schlafzimmer der Nachbarn geschlichen, besonders gern zum geliebten Laurier Gaudreault, „dem alle Mädchen rosarote Zettelchen schrieben“. In der den Titel stiftenden Nacht erblickte sie ihn aber in den Armen ihres Bruders Julien (Roman Majewski): „Ich sah zwei Körper, die sich umschlangen, bebten, sich aufbäumten, hart wurden.“ Sie wurde entdeckt, dann kamen auch noch Lauriers Eltern ins Zimmer. Julien lügt, er habe gerade verhindert, dass sich Laurier an seiner Schwester vergeht. „Meinem Bruder war es lieber, meine Vergewaltigung zu erfinden, als sich beim Ficken mit Laurier Gaudreault erwischen zu lassen“, resümiert Mireille. Die Wahrheit ist raus, die Stimmung am Tiefpunkt.
Enthüllungsdramaturgisch ist das prima konstruiert. Aber wie spielt man das? Regisseur Michael Letmathe lässt die Rollen erst mal oberflächlich anlegen, als wären wir in einer lustigen TV-Serie. Mit zunehmender Dauer aber wird die emotional desolate, psychisch labile Verfasstheit des Personals differenzierter gestaltet, bis die persönlichen Traumatisierungen zur Sprache kommen – als Erklärungen, warum die Geschwister so problematische Erwachsene wurden: Junkie Éliot (Moritz Schulze) ist gerade wieder in einer Entzugsklinik oder der Suchtrehabilitation. Der depressive Julien leidet als trockener Alkoholiker an seiner lieblosen Ehe mit Chantale (Nathalie Thiede), die augenklimpernd das mit dem Namen verbundene Klischee lebendig hält. Denis (Paul Trempnau) scheint nicht beziehungskompatibel, Frau und Kinder sind ihm weggelaufen, nun tobt er herum. Die Schwester, manische Leichenverschönerin, bietet Stoff für eine Psychoanalyse. Auch dass Laurier im Leben nicht mehr groß durchgestartet ist, wird erwähnt. Ein Gruppenbild des Scheiterns am offenen Umgang mit Homosexualität.
Der wird erneut in der Provinz verortet – irritierenderweise: Drangsalierende Homophobie hängt nicht mit der Größe der Stadt zusammen, sondern dem sozialen Milieu. Laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes von 2017 ist sie besonders stark ausgeprägt, wo bildungsferne Menschen fundamentalistisch religiös oder politisch eher rechts orientiert sind und fixiert auf überholte Männlichkeitsideale.
Abgesehen von der überflüssigen Provinzdebatte thematisiert die Inszenierung aber pointiert, wie unterdrückte Geschlechtsidentität und verpasste Selbstfindung ganze Familien dysfunktionalisieren können. Die nächsten Treffen warten schon – neue Gelegenheiten für schmerzhafte Abrechnungen …
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen