: „Das größte Problem ist, dass uns kaum einer kennt“
Schlägereien, Auseinandersetzung mit Nachbarn, Streit um Geld: Bei vielen Konflikten kann ein Schiedsverfahren den Gang vor das Gericht ersetzen. Das wird zu wenig genutzt, sagt Schiedsmann Martin Sorgatz
Interview Karlotta Ehrenberg
„Schiedsamt“ steht auf einem kleinen Schild vor dem schmucken Altbau in Treptow-Köpenick. Hier wohnt Martin Sorgatz, einer von drei Schiedsleuten im Bezirk, der Bürger:innen bei der Streitschlichtung hilft. Sorgatz führt in seine aufgeräumte und weihnachtlich geschmückte Küche. Ein mobiler Drucker, ein Laptop und Schreibzeug fallen auf sowie eine Sammlung altmodischer Kaffeemaschinen. Statt einer Einkaufsliste prangt eine Frage an der Wandtafel: „Gibt es einen Weg?“
taz: Herr Sorgatz, würden Sie mich hier genauso empfangen, wenn ich für eine Streitschlichtung käme?
Martin Sorgatz: Nee, Plätzchen würde es keine geben. Den Streitparteien biete ich nur Wasser an.
taz: Das Schiedsamt ist die kleinste Behörde einer Kommune, Sie alle arbeiten ehrenamtlich, erhalten also kein Geld. Aber eine Amtstube könnte es doch geben?
Sorgatz: Wenn ich wollte, könnte ich einen Raum im Bezirksamt benutzen. Dass wir uns hier treffen, ist meine persönliche Entscheidung. Erstens habe ich hier die ganze Technik. Außerdem benehmen sich viele Menschen in Amtsräumen nicht anständig. Hier befinden sie sich auf fremdem Territorium, ich bin es, der hier die Regeln macht.
taz: Die da wären?
Sorgatz: Jeder lässt den anderen aussprechen. Beleidigt wird nicht. Wer sich nicht daran hält, muss gehen – das funktioniert. Außerdem trägt meine Sammlung dazu bei, dass man gleich ins Gespräch kommt. Die Leute wollen wissen, was das ist, und ich zeige ihnen eine der Maschinen. Das trägt zur Auflockerung bei.
taz: Denn wenn die Leute zu Ihnen kommen, ist Stress angesagt …
Sorgatz: Das stimmt. Die Polizeiwache ist hier aber ganz in der Nähe. (lacht) Bisher musste ich sie aber nicht rufen.
taz: Mit welchen Streitigkeiten kommen die Leute zu Ihnen?
Sorgatz: Das geht von Kneipenschlägerei über Beleidigungen bis hin zu Hausfriedensbruch. Wir helfen aber auch, wenn einer ein Problem mit einem Handwerker hat, es also Streit um Geld gibt. Und natürlich bei klassischen Nachbarschaftsstreitereien.
taz: Die berühmte Hecke …
Sorgatz: Genau. Wobei die Hecke ein Synonym für viele Probleme ist. Da geht es um Wegerechte, um störenden Lärm oder Lichteinfall, ballspielende Kinder und Kameras, die die Privatsphäre beeinträchtigen. Im Prinzip verhandeln wir alles, was sich im Bereich des bürgerlichen Gesetzbuches bewegt, nur Streitigkeiten im Arbeits- und Familienrecht können wir nicht schlichten. Auch im Bereich des einfachen Strafrechts sind wir zuständig, also bei einfacher Körperverletzung, übler Nachrede, Verletzung des Briefgeheimnisses und ähnlichen einfachen Straftaten.
taz: Ach. Ich dachte, mit so was muss man vor Gericht.
Sorgatz: Das größte Problem ist, dass uns kaum einer kennt. Leider wissen viele Menschen nicht, dass sie es erst mit einem Schiedsverfahren versuchen können, ehe sie viel Geld, Zeit und Lebensqualität für Anwälte und Gerichtsprozesse aufwenden. Und dabei auch noch riskieren, dass ihnen das Urteil nicht gefällt. Hier beim Schiedsamt können dagegen beide Parteien frei entscheiden, wie man mit der Streitsache verfährt.
taz: Was ist Ihre Rolle?
Sorgatz: Viele Leute denken, dass ich so was wie ein Richter bin, manche sagen auch „Schiedsgericht“ – das ist falsch. Wir Schiedsleute sagen nicht, wer recht hat oder schuldig ist. Wir sind auch keine Dienstleister, die mit fertigen Lösungen kommen. Wir sind neutrale Moderatoren, unser Ziel ist, dass die Parteien im Gespräch selbst auf eine Lösung kommen. Da muss man genau zuhören und im rechten Moment einhaken: „Haben Sie gerade gehört? Das war doch vielleicht ein Lösungsansatz!“ Wenn darüber dann eine Einigung gelingt, wird ein sogenannter Vergleich geschlossen. Das alles kostet den Antragsteller höchstens 60 Euro, bei mir liegt es meistens drunter.
taz: Das ist auch viel günstiger als eine Mediation bei einem privaten Anbieter.
Sorgatz: Genau. Zudem sind Vergleiche des Schiedsamts 30 Jahre lang rechtsgültig. Wenn eine Partei den Vertrag bricht, entscheidet das Amtsgericht, gegebenenfalls wird ein Gerichtsvollzieher beauftragt.
taz: Natürlich wäre ich neugierig zu erfahren, was für Fälle Ihnen konkret begegnen …
Sorgatz: Darüber muss ich schweigen. Bei den 8 bis 15 Fällen, die ich im Jahr verhandele, lässt sich aber manches verallgemeinern. Platzhirsche begegnen mir zum Beispiel häufiger. Also Leute, die sagen, ich wohne schon 50 Jahre hier, und den neu Zugezogenen sage ich mal, wie es hier läuft. Tja, aber auch wenn Sie Ihr Auto jahrzehntelang auf einem Parkplatz abgestellt haben, heißt das nicht, dass Sie ein Anrecht darauf haben. Überhaupt sind Veränderungen oft Auslöser für einen Konflikt. „Das war schon immer so“ reicht aber nicht als Argument. Wenn mich etwa eine üppige Weihnachtsbeleuchtung in meinem Wohlbefinden stört, darf ich auch nicht einfach das Kabel durchschneiden. So etwas in der Art kommt mir immer häufiger unter. Die Leute denken, dass alles erlaubt ist, wenn Sie im Recht sind.
taz: Auch zeigt sich hier, dass ein Dialog nicht für nötig befunden wird.
Sorgatz: „Hier geht es um mich und mein Recht, der andere ist mir egal“ – Diese Haltung zeigt sich mir immer öfter. Es gibt Leute, die ihren Nachbarn Gesetzestexte kommentarlos vorhalten, bringen tut das natürlich nichts. Um den Konflikt zu lösen, müssen die Parteien erst mal an den Tisch kommen, und der Mensch verstehen, wie das ankommt, wenn auf diese Weise kommuniziert wird.
taz: Wenn ich Sie beauftragen will, muss ich einen Antrag stellen.
Sorgatz: Richtig. Ich informiere dann den Antragsgegner und lade zum Schlichtungstermin. Das geht per Amtspost, mit Postzustellungsurkunde. Der Termin ist verpflichtend.
taz: So ein gelber Brief kommt aber sicher auch nicht gut an …
Martin Sorgatz
Jahrgang 1954, ist Rentner und seit 2016 Schiedsmann im Bezirk Treptow-Köpenick. Zudem ist er Geschäftsführer der Landesvereinigung Berlin im Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen e. V.
Sorgatz: Das mag sein. Ich gebe dem Antragsgegner aber immer die Möglichkeit, mir im Vorfeld seine Position darzustellen. Wenn ein wichtiger Grund vorliegt, kann der Termin auch verschoben werden. Nur wenn jemand ohne triftigen Grund fernbleibt, kann ein Ordnungsgeld bis zu 75 Euro fällig werden. In so einem Fall geht der Gesetzgeber davon aus, dass kein Interesse an einer Schlichtung besteht, das Verfahren ist damit abgeschlossen.
taz: Wie viele Streitigkeiten gelingt es Ihnen zu schlichten?
Sorgatz: Ich führe darüber keine Statistik, aber ich nehmen an, dass die Zahl bei etwa 60 Prozent liegt, wie sonst in Berlin auch.
taz: Ist es frustrierend, wenn eine Streitsache ungelöst bleibt?
Sorgatz: Nein. Wenn Menschen mit einem Problem hierher kommen, hat das meist eine Geschichte. Die zu ergründen und die Leute wieder zueinander zu bringen, ist für mich der wichtigste Teil meiner Tätigkeit. Gerade bei Nachbarschaftsstreitigkeiten ist es ja meist so, dass die Menschen vorher gut miteinander bekannt gewesen sind. Wenn ich es schaffe, dass sie wieder ins Gespräch kommen, sich zumindest einmal richtig zuhören, dann ist schon viel erreicht.
taz: Ist das die Motivation, warum Sie dieses Ehrenamt nun schon im achten Jahr ausführen?
Sorgatz: Ich hatte schon immer den Anspruch, etwas an die Gesellschaft zu geben, mein Grundsatz ist der von John F. Kennedy: Frage nicht, was kann der Staat für dich tun, sondern frage, was kannst du für den Staat tun.
taz: Das ist in Zeiten, in denen die demokratischen Institutionen bröckeln, weil sich keiner mehr für sie verantwortlich fühlt, ein bemerkenswerter Standpunkt. Was hat Sie dazu gebracht?
Sorgatz: Ich habe bei der BVG gearbeitet, 47 Jahre lang, und bin da in die Gewerkschaftsarbeit gegangen. Und auch sonst habe ich in meinem Leben immer nach gesellschaftlichen Aufgaben gesucht, war in der Schule Elternvertreter und auch mal Schöffe. Nach meinem Arbeitsleben habe ich was Neues gesucht. Ja, und dann stand in der Zeitung, dass das Bezirksamt jemanden für das Schiedsamt sucht. Ich dachte: Das trau ich mir zu. Da bewirbst du dich jetzt mal.
Das Schiedsamt zählt berlinweit 53 Schiedspersonen, die jeweils über den Bezirk bestellt werden. Welcher Bezirk in einer Sache zuständig ist, entscheidet der Wohnsitz des Antragsgegners. Über die Webseite des Bezirksamts lassen sich die Aufteilung der Schiedsbezirke sowie die Kontaktmöglichkeiten der Schiedsleute in Erfahrung bringen. Hier wird auch bekannt gegeben, wenn ein Schiedsamt frei geworden ist, und wie man sich hierfür bewerben kann. Zurzeit werden in mehreren Bezirken neue Schiedspersonen gesucht. Neu bestellte Schiedsleute können eine Grundausbildung erhalten.
134 Schlichtungsverfahren wurden 2023 in Berlin geführt. In Brandenburg liegt die Zahl mit 703 deutlich höher. Hier ist das Schiedsverfahren in bestimmten Rechtssachen obligatorisch. (Quelle: Bund Deutscher Schiedsmänner und Schiedsfrauen e.V.) (keh)
taz: Wie, man muss sich bewerben?
Sorgatz: Ja, die Bezirksverordnetenversammlung stimmt über die Kandidaturen ab. Im Prinzip kann in Berlin jeder im Bezirk wohnende deutsche Bürger zwischen 25 und 70 Jahren Schiedsperson werden. Aber natürlich ist es sinnvoll, von den Erfahrungen zu schreiben, die einen für dieses Amt qualifizieren. Bei mir war es so, dass ich bei der BVG in der Wendezeit als Personalrat tätig war. Im Zuge der Zusammenführung der beiden Betriebsteile BVB und BVG war es ganz wichtig, die Menschen zueinander zu bringen. Es wurde ja viel gestritten zwischen Ost und West. Da galt es viel auszuhandeln und auch auszusöhnen.
taz: Ist es nicht auf Dauer unangenehm, mit dem Ärger anderer Leute konfrontiert zu werden, noch dazu in den eigenen vier Wänden?
Sorgatz: Ich sag immer: Nichts Menschliches ist mir fremd. Ich kann mir das anhören, kann auch empathisch sein, aber ich weiß: Das ist nicht meins.
taz: Was wünschen Sie sich für den Rest Ihrer Amtszeit?
Sorgatz: Eine Reform des Berliner Schiedsrechts. Anders als in anderen Bundesländern muss man hier bei zivilrechtlichen Sachen ja nicht zwingend zum Schiedsamt. Das Schiedsverfahren obligatorisch zu machen, würde die Berliner Gerichte entlasten und vielen Bürgern helfen. Denn auf diese Weise erfahren Sie ganz sicher von uns und den Vorteilen eines Schiedsverfahrens. Ja, und dann würde ich mich freuen, wenn sie die Altersbegrenzung aufheben, ich könnte mir eine weitere Amtsperiode gut vorstellen.
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